Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Rädergetriebe. Dieses Schienenfahrzeug war unabhängig von der
schwerfälligen Hilfe der Dampflokomotive, es fuhr frei und vertrauensvoll
wie ein Kind, das die mütterliche Hand loslässt und endlich alleine läuft.
»Triebwagen« stand auf einem erklärenden Schild.
Mehr jedoch als jeder Motor oder jede Maschine beeindruckte Attilio in
den Ausstellungsfluren ein Mädchen mit Bister-umrandeten Augen, das im
Schneidersitz auf einem Teppich hockte. »Junge Beduinin aus der
Kyrenaika«, hieß es im Ausstellungskatalog. Ihre Haare waren zu drei
Zöpfen geflochten, zwei seitlich und einer oben über dem Kopf. Der durch
den Nasenknorpel gebohrte Ring erinnerte an ein Rind. Sie war in schwere
Stoffe gehüllt, die Attilio an die Vorhänge erinnerte, die er hinter den
Fenstern der besseren Familien von Lugo erahnte. Sie zerdrückte
irgendwelche Körner in einem Behältnis, ohne zu den Besuchern aufzusehen,
die ihrerseits nach Generatoren, Sicherungen und Treibriemen nun ihre
Blicke auf sie hefteten. Obwohl sie ein, zwei Meter entfernt saß, wurde der
Junge von ihrem Geruch erfasst, einer Mischung aus Staub, Stroh und
Schnittblumen.
Sie befanden sich in der letzten Messehalle, die am weitesten vom
Eingang entfernt war. Über ihrem Tor prangte eine Schrift in langen, spitzen
Buchstaben wie Stacheln: ITALIE-NISCHE KOLONIEN. Die Besucher
wurden von einem halben Dutzend Askaris in weißer Uniform mit schwarzer
Schärpe empfangen und von einem Mehari-Führer mit Turban, der aufrecht
neben seinem Dromedar stand. Deshalb mochten Kinder in Attilios Alter
diesen Pavillon am liebsten. Die Mütter hatten Mühe, sie von den reglosen
Männern wegzuziehen, mit ihrer merkwürdigen Hautfarbe und den
gelangweilten Blicken, die auch dann nicht lachten, wenn man direkt vor
ihnen Grimassen schnitt und Fratzen zog. Attilio aber interessierte sich nicht
für sie. Er blieb in der Mitte der Halle stehen, unter dem Zelt, vor dem die
Junge Beduinin inmitten ihrer verschiedenen Utensilien so tat, als bereite sie
eine Mahlzeit zu, die sie irgendwann oder vielleicht auch nie verzehren
würde. Neben ihr waren zum Vergleich die Materialien ausgestellt, die aus
einer Berufsschule für arabische Mädchen stammten und über die man im
Katalog las, dass sie dazu dienten, den siebzig Schülerinnen »unsere
Geschichte, unsere Gewohnheiten und Bräuche beizubringen und sie so zu
einem zivilisierten Leben anzuleiten und zugleich in ihren Herzen freundliche
Gefühle, die Saat des Guten, die Liebe zu Pflicht und Arbeit zu säen sowie

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