Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

gültig und musste jeden Monat vom Sektionssekretär abgestempelt werden.
Das erste freie Feld von zwölfen war für den November reserviert, dem
offiziellen Beginn der Faschistischen Ära, das letzte für den Oktober. Auf
dem ersten Ausweis, den Ernani mit seinem Namen beschriftete, war vorn ein
Liktorenbündel eingraviert, umrankt von zarten Weinreben. Eine Weile
wechselte das Parteibuch nur die Farbe, bis es sich im Jahr VII der
Faschistischen Ära veränderte. Die Blumenverzierungen, die ihm etwas
Leichtes verliehen hatten, wurden als zu weiblich befunden und durch
rationalistische Motive ersetzt, auf denen das Liktorenbündel wesentlich
geometrischer und maskuliner prangte.
Als sie groß genug waren, trugen Attilio und Otello in ihrer Tasche den
Ausweis der faschistischen Jugend Balilla mit sich. Seine Vorderseite war
blank, bis auf ein dreidimensionales, nach oben aufstrebendes
Liktorenbündel, gekrönt von fetten Buchstaben, die das Akronym der
Organsiation ONB bildeten sowie ANNO IX. Auf der Rückseite stand in
deutlichen Lettern geschrieben, wie wichtig das Mitglied für den neuen
Verein war, nicht minder wichtig als die Erwachsenen: »Ich schwöre, immer
und fraglos die Befehle des Duce auszuführen mit meiner ganzen Kraft und
wenn nötig meinem Blute für die Sache der faschistischen Revolution.«
Der erste Lehrsatz des Nationalwerkes Balilla lautete: »Der Faschist, und
im Besonderen der Soldat, darf nicht an den ewig währenden Frieden
glauben.« Der zweite: »Tage der Gefangenschaft sind stets verdient.« Der
dritte: »Dem Vaterland dient auch derjenige, der einen Benzinkanister
bewacht.« Viola war erstaunt, als sie das wichtigste Gebot von allen erst auf
Platz acht fand: »Der Duce hat immer Recht!«
Sie war die Einzige in der Familie ohne Parteibuch. Für eine italienische
Frau gab es keinen besseren Beweis ihrer Treue zum Faschismus als die
Männer ihrer Familie. Dabei war es Viola, die sich im Hause Profeti von
Mussolinis Reden in den Radionachrichten berühren ließ. Sie weckten in ihr
eine Mischung aus vagen Erinnerungen und noch undeutlicheren
Sehnsüchten: die Glanzlosigkeit ihrer Hochzeit; der Geschmack der Küsse
ihres ersten Verlobten, die so hungrig gewesen waren wie nie mit Ernani; die
Trauer um ein anderes Leben, das gewiss glücklicher gewesen wäre. Ein
abgrundtiefes Gefühl, das die männliche Stimme des Duce in ihr wachrief.
Auch wenn er weit weg war, im fernen Rom, von wo aus er Italien zum
glorreichen Sieg führen würde, fühlte Viola sich von ihm überströmend voll.

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