Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

An manchen Abenden, während die Garganelli-Nudeln auf dem kleinen
Herd der einfachen Küche in der Wohnung über der Bahnstation kochten,
blickte Viola aus dem Fenster. Die Landschaft jenseits der Gleise war
unerträglich flach, unentschlossen zwischen Wasser und Land. Über den
Pappelreihen und den Kanälen hing schwer der orangefarbene Himmel, zäh
und von grauen Wolkenfetzen durchzogen. Eine beklemmende Aussicht, die
eine brutale Zärtlichkeit für ihren Duce in ihr weckte. Ein maßloses Gefühl,
das sie über irgendwen ergießen musste, so wie der Po ins Meer fließen muss.
Natürlich nicht über Ernani, dessen unglücklich devoter Blick sie immer
wieder daran erinnerte, dass ihre Hochzeit eine Notlösung gewesen war. Und
auch nicht über Otello: Er war seinem Vater zu ähnlich, war ihm zu nah im
stillen Bündnis der Beschämten. So ging sie damit zu dem anderen Kind, das
sie in die Welt gesetzt hatte, das schön war wie eine Frau und muskulös wie
ein Athlet. Der einzige Mensch, der sie mit seinem Lachen eines jungen
Gottes ihre mittelmäßige Existenz für einen Moment vergessen ließ. Die
umfassende Nachsichtigkeit, mit der die Mutter jede Verfehlung Attilios
hinnahm, die ekstatische Begeisterung über seine Erfolge, die unreflektierte
Art, mit der sie ihn gegenüber Otello bevorzugte, kurz die apokalyptische und
ein wenig verzweifelte Liebe, die Viola ihrem Jüngsten entgegenbrachte, war
unverbrüchlich mit ihrer brennenden Verehrung der faschistischen
Revolution und vor allem der Person des Duce verbunden.
Attilio empfand den mütterlichen Kult – wie jeder Mensch, der
übermäßig geliebt wird – als ganz natürlich. Nie fragte er sich, ob er sein
persönliches Verdienst sei. Und kam auch nie auf den Gedanken, dass er
eines Tages enden könnte. Violas Liebe für Attilio war da, unabweislich,
weich und grenzenlos wie die Landschaft in diesem Teil der Poebene.
Niemandem, und ihm als Letztem, kam es in den Sinn, sie in Frage zu stellen.
Sie war Attilios Triumph über Otello und für Viola die beste Verteidigung
gegen Ernani.
Nur manchmal zeigte ihm diese wunderschöne und vor Liebe
überfließende Mutter ihre Schattenseite.
»Wenn du nicht aufhörst, ins Bett zu machen, rufe ich die Königin
Taytu«, sagte Viola zu ihm, wenn er morgens in den nassen Laken lag. Sie
brauchte nicht zu erklären, was diese Gestalt mit der Hautfarbe glänzender
Rabenflügel mit ihm machen würde. Jedes italienische Kind kannte die
schreckliche Geschichte von der Frau König Meneliks, die noch viel

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