kennen kann, nicht einmal den eigenen Erzeuger. Noch trauriger ist für mich
aber die Vorstellung, dass mein Vater in sich selbst Flure wahrnahm, zu
denen nicht einmal er Zugang hatte. Vielleicht ist ja die Senilität, die Demenz
des hohen Alters nichts anderes als eine Art und Weise, den Schmerz für sich
erträglich zu machen, der aus dem eigenen Geheimnis rührt.«
Ilaria legt die Hände in den Schoß. Das Tageslicht ist verschwunden,
ohne dass sie es gemerkt hat. Das Fenster gegenüber ist nun wieder
verschlossen, der junge Mann und sein Laptop sind verschwunden. Es ist fast
dunkel. Die Nachbarn kochen nicht mehr, und die Brise trägt einen
schwachen Salzgeruch herein. Das Meer ist nicht weit entfernt von Rom.
Reglos sitzt sie vor dem Computer, den blauen Schein des Monitors im
Gesicht.
Die Trauerfeier ist vorüber. Letztendlich hat Ilaria sich gegen eine Ansprache
entschieden und das Podium Emilio überlassen. Der sehr witzig und
gefühlvoll über seinen Vater Attilio Profeti geredet hat, so dass am Ende
jeder mit geröteten Augen lachte und schniefte.
Attilio Profetis Frauen (besser gesagt die beiden, die man bisher kennt –
denn niemand möchte mehr postume Überraschungen ausschließen) sitzen
auf den beiden Bänken rechts und links im Kirchenschiff, jede neben ihren
Kindern. Attilio junior hat Senay neben sich, der seit zwei Jahren mit ihm auf
der Chance arbeitet – dass er nicht das richtige Blut hat, interessiert
niemanden mehr. Die moldawische Zugehfrau Martina hingegen weint, weil
»der Opa« nicht mehr ist und sie von heute an weder Arbeit noch Heim noch
eine Aufenthaltsgenehmigung hat. Anita hat immer vergessen, sie offiziell
anzumelden.
Marella verbirgt ihr Gesicht in einem Taschentuch, und Ilaria hat den
Arm um sie gelegt. Mutter und Tochter treten gemeinsam an den Sarg und
streicheln nacheinander leicht über das Holz. Innen beginnen die Atome, aus
denen Attilio Profeti zusammengesetzt war, sich in Aggregatzustände anderer
Struktur umzubauen.
Sechs grau gekleidete Männer nähern sich nun dem Sarg. Sie fassen die
Griffe, um ihn sich auf die Schultern zu heben und hinaus in den
Beerdigungswagen auf dem Kirchhof zu tragen. Doch da tritt ein sehr alter
Mann heran. In kleinen, mühevollen Schritten kommt er näher, auf den Arm
einer jungen Frau gestützt, die eindeutig Züge afrikanischen Blutes trägt: