übernächsten. Er ging nicht ran. Auch weil er schon seit einer Weile im
Flugzeug saß, das ihn nach Playa del Carmen zurückbrachte.
Als sie am Nachmittag die Wohnung des Vaters verließen, bot Emilio
Ilaria an, sie nach Hause zu fahren. »Dann können wir unterwegs ein
bisschen reden«, meinte er.
Ilaria unterdrückte ein Seufzen. ›Ein bisschen reden‹ hieß bei ihrem
Bruder, dass er ihr haarklein den Stand seines Privat- und Berufslebens
berichten oder sie um einen Gefallen bitten wollte; sich nach ihr zu
erkundigen fiel nicht unter diesen Begriff. Als sie schon im Auto saßen,
verkündete Emilio, dass er noch einen Umweg fahren müsse.
»Ich muss noch was erledigen, ist gut bezahlt. Aber keine Sorge, es geht
schnell. Schneller als ein Blowjob.« Er lachte ein paar Sekunden und brach
dann so abrupt ab, als ob das Lachen gar nicht zu ihm gehörte.
Ilaria spürte einen Anflug von Traurigkeit. Seit Jahren spickte ihr Bruder
seine Sätze mit selbstgefälligen Vulgaritäten, was nicht immer so gewesen
war. Als er sich an der Theaterakademie mit Pirandello beschäftigte und den
von Cantarella übersetzten griechischen Tragödiendichtern, kam er, wenn
überhaupt, mit Ausdrücken, die für einen Zwanzigjährigen etwas
hochgegriffen klangen. Damals dachte er aber auch noch, dass er in seinem
Leben den Weisheiten von Beckett, Brecht und Molière Geist und Leben
einhauchen würde und nicht den Figuren der Fernsehsoap »Sui colli fatali –
Auf den heiligen Hügeln«. Mittlerweile setzte er die permanenten
Sexanspielungen – ganz gleich ob anal, oral, gegen Geld oder mit Gewalt –
wie Satzzeichen.
Ilaria musste an ein Erlebnis mit ihrer achten Klasse im vergangenen
Schuljahr denken. Sie und ihre Kollegen hatten schon eine Weile die enorme
Zunahme von Kraftausdrücken im Sprachgebrauch der Schüler beobachtet.
Sie benutzten sie nicht nur untereinander, sondern auch den Lehrern
gegenüber, was bis vor einigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Im letzten
Schulhalbjahr hatte sie beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen, wusste
aber noch nicht was. Dann hatte sie einen Einfall, als sie einen Jungen hörte,
wie er das Glück seines Freundes kommentierte, der eine mündliche Prüfung
bestanden hatte, indem er unbefangen mit lauter Stimme ausrief: »Che culo!«
Ilaria beschloss, dass dies der richtige Moment war, um der römischen
Geschichte, die sie gerade durchnahmen, etwas Leben einzuhauchen.
»Weißt du überhaupt, was ›che culo‹ bedeutet?«, fragte sie den Jungen.
jeff_l
(Jeff_L)
#1