Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

zu benutzen, nicht fruchten würde, und habe daher beschlossen, den Schülern
von nun an zu erlauben, jeden noch so skurrilen Ausdruck in der Klasse zu
verwenden. Sie fordere sie sogar ausdrücklich dazu auf. Aber unter einer
Bedingung: Sie mussten die Ausdrücke in ihre wörtliche Bedeutung
übertragen, anatomisch oder physiologisch.
Die Schüler reagierten mit großer Begeisterung und befolgten sofort die
neue Anordnung. Am ersten Tag bekamen sie gar nicht genug, es herrschte
ein einziges »Koitiere mit deinem Gelenk zwischen Ober- und
Unterschenkel«, »Onanierer von schlechtem Charakter«, »Gesicht, das mit
dem Fleischermesser zerstückelt wurde«.
Dann aber nahm es langsam wieder ab. Gegen Ende der Woche wurde
ihnen das Spiel langweilig. In der Klasse gab es große Lust, wieder zu »Fick
dich ins Knie«, »Du mieser Wichser« und »Hackfresse« zurückzukehren,
doch mit dem Bewusstsein um die wörtliche Bedeutung ging es ihnen nicht
mehr so leicht über die Lippen wie früher. Ilaria sagte nichts dazu und ließ sie
machen, doch es war offensichtlich, dass ihre Methode Wirkung zeigte. Wer
weiß, fragte sie sich mit vorsichtigem Optimismus, was in ein paar Wochen
geschehen würde.
Etwa zehn Tage nach ihrer Unterrichtseinheit über die
Demütigungspraktiken der Samniten gegenüber ihren Feinden hatte sie in der
Sprechzeit ein Elternpaar sitzen. Ihre Tochter, eine übergewichtige Schülerin,
verbarg ihre durchaus vorhandene Intelligenz, indem sie sich den Mund mit
unvorstellbaren Kraftausdrücken, fettigen Pizzateilchen und Kaugummis
füllte. Sie hatte die neu erlaubten Formulierungen mit besonderem
Engagement aufgegriffen und war anfangs allen damit auf den Sack
gegangen – auf die Testikel –, dass sie jedes einzelne Körperteil in Damm-
Nähe aufgezählt hatte, um dann in sumoringerartiges Gelächter
auszubrechen. Seit ein paar Tagen hatte aber auch sie genug davon, zehnmal
hintereinander »Penis«, »Anus« und »Vulva« zu sagen. Ihre Sprache hatte
sich langsam verändert, und nicht nur die. Und heute Morgen in der Klasse
hatte sie sich tatsächlich gemeldet. Nicht für einen ihrer großmäuligen Witze,
sondern, zum ersten Mal in drei Jahren, mit einem intelligenten Beitrag zum
Unterricht. Trotzdem sprachen ausgerechnet an diesem Tag ihre Eltern vor,
um sich zu beschweren. Solange die Tochter in der Klasse Ausdrücke
benutzte, die eine Pornoqueen hätten erröten lassen, waren sie nie bei einem

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