Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Flur – drei Stunden. Italienischunterricht – null Stunden. Verbaler Austausch
mit Zivilpersonen und Militärs – zwischen zwei und drei Minuten).
Diskussion beim Amtsgericht über den Asylantrag als politischer
Flüchtling: null Minuten (der für den Fall zuständige Kommissionspräsident
ist unpässlich, und die Anhörung wird auf unbestimmte Zeit verschoben).
Aufenthalt im Auffanglager von Trapani: weitere fünf Wochen (im
Vierundzwanzig-Stunden-Rhythmus der täglichen Aktivitäten: siehe oben).
Aussage des Jungen vor der Kommission, in der er die Motive für seine
Flucht aus Äthiopien erklärt, einschließlich Tod seines Cousins: sechs
Minuten.
Aufenthalt in der Einrichtung von Trapani in Erwartung des Urteils der
Kommission: zweiundvierzig Tage (im Vierundzwanzig-Stunden-Rhythmus
der täglichen Aktivitäten: unverändert).
Sekunden, die der Junge zum Lesen der Mitteilung braucht – offizieller
Name: Ablehnungsbescheid –, mit der sein Antrag auf die Anerkennung als
Asylberechtigter abgewiesen wird: siebenunddreißig.
Gespräch des Jungen in Minuten mit den ehrenamtlichen Helfern, die den
Aslysuchenden rechtlichen Beistand für die Berufung leisten: zwanzig (»Es
war ein Fehler, die Wahrheit zu sagen, du hättest übertreiben müssen bei der
Gefahr, in der du schwebst, wenn du zurückmusst, du hättest dicker auftragen
müssen«).
Übersetzung in Sekunden für ein eritreisches Mädchen – gerade aus dem
Krankenhaus zurück, wo sie die Frucht der Vergewaltigungen in den
libyschen Gefängnissen hat abtreiben lassen – des Ablehnungsbescheids, den
auch sie bekommen hat: fünfundvierzig.
Minuten, die das Mädchen auf der Erde liegt, nachdem sie am Ende des
Bescheids zusammengebrochen ist: elf.
Frist vom Eingang des Ablehnungsbescheids bis zur Verpflichtung des
Empfängers, das Land zu verlassen, laut Abschiebungsbescheid, den man
ihm aushändigte: vierzehn Tage.
Fahrtdauer im Mannschaftswagen der Polizei bis zum Bahnhof Trapani:
dreiunddreißig Minuten.
Sekunden, die die Beamten am Bahnhof Trapani brauchen, um die vier
Empfänger des Abschiebungsbescheids über den Fortgang zu informieren –
der Junge, die junge Eritreerin, ein weiterer Eritreer und ein Somalier:
zweieinhalb, beziehungsweise die Zeit, um »Ihr könnt gehen« zu sagen.

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