schmetterling

(Martin Jones) #1

Gedächtnis verloren zu haben. Aller Koordinaten beraubt. Heimatlos. Ein
Fremder im eigenen Leben.
Er parkt den Wagen am Straßenrand, geht die Auffahrt hoch. Vorbei an
einem weißen Hyundai Primus. Steht vor ihrer Tür. Die Baracke hält keinem
Vergleich mit dem himmelblauen, doppelstöckigen Giebelhaus in Sierra
stand, in dem sie zusammen alt werden wollten, und er denkt: So hast du dir
das ganz sicher nicht vorgestellt.
Nicht das hier.
Mittlerweile ist es beinahe dunkel, einige wenige Häuser beleuchten ihre
Innenwelten. Er strafft sich. Klingelt, das Herz im Halse.
Hört ihre Schritte –


Sie öffnet, und du siehst dieselbe Frau. Und doch eine andere, und das macht
es leichter. Deine Erinnerung hat eine Ikone erschaffen. Euer letztes Treffen.
Eure verstohlene, hoffnungsdunkle Nacht. Eine Bahn Mondlicht, in den
Raum gegossen. Das Schimmern ihrer wie Pinselstriche zu den Schultern
fallenden Strähnen. Ihr Make-up und was sie trug beziehungsweise nicht
trug. Nie ist ihr Duft aus deinem Kopf verflogen. Du erinnerst sie als
Sehnsuchtsort in ständiger Sicht- und außerhalb jeder Reichweite. Noch
größer als deine Sehnsucht ist die Angst, sie exakt so vorzufinden, doch die
Frau da in der Tür hat kurzes Haar, das wie Tannenhonig glänzt, und in ihren
Augenwinkeln, um ihr Lächeln herum, am Halsansatz nisten unverkennbar
weitere sieben Jahre. Die Arme, die sie um dich schlingt, sind gebräunt und
athletisch wie eh und je, die Muskeln jedoch schärfer konturiert, als sei ein
Weichzeichner von ihr genommen.
»Da bist du ja endlich.«
Endlich.
Fast musst du lachen. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik. Sie küsst
dich auf die Wange, was näher am Ohr zu erfolgen hätte, rein platonisch
gesehen, und du weißt, eure Lippen lagen noch nicht wieder aufeinander. Ihr

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