Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 FEUILLETON 41


Wer den politischen Islam kritisiert,


ist ni cht automatisch rechtsextremSEITE 42


Mit Harald Szeemann trat


die Allpräsenz des Kurators in den Hintergrund SEITE 45


Apokalypse geht auch so


Für ihren fulminanten Endzeit-Roman erfindet Sarah Newmaneine Prosa, die süchtig macht


ANGELA SCHADER


Nach drei Abschnitten hat einen diese
Sprache beimWickel. Nach dreissig Sei-
ten schleicht sie sich auch abseits der
Lektüre ins eigene Denken ein. Nach
fünfzig findet man: Eigentlich sollte
Englisch immer so tönen. Liegt das
allein an der zugleich musikalischen
und ruppigen Prosa, die Sandra New-
man ihrer Heldin Ice Cream Star in den
Mund legt, oder auch am Herzblut, mit
dem die wildeFünfzehnjährige ihre Ge-
schichte vorträgt? Und lässt sich dieses
kunstvollverfremdete Idiom überhaupt
ins Deutsche übersetzen?
Zuerst einmal gilt es jedoch, sich auf
demTerrain zurechtzufinden, das der
Roman erschliesst. «Massa» wird man
dem Namen nach als Massachusetts er-


kennen, doch der amerikanische Bun-
desstaat ist weitgehend ausgestorben.
Von der weissen Bevölkerung sind nur
verfallende Häuser geblieben, vergilbte
Evakuationsbescheide, da und dort die
Skelette derjenigen, die der tödlichen
Seuche, welche vor Ja hrzehnten die
USA und Europa überrollte, nicht mehr
entkamen.Dass es dieselbe Krankheit
is t, die nun die Sengles dezimiert, das
wollen diese nicht wahrhaben. Denn
Sengles sind stolz und kühn,räuberisch
und gierig, «lächerlich, wie wildeTiere,
aber prächtig und stark».
Ice Cream Star ist eine von ihnen,
eine von nur noch siebenunddreissig;
ihre Quest nach einem Mittel, das die
Krankheit in Schach halten soll, treibt
di e Romanhandlung an.Dunkelhäutig
sind die Sengles,wie die anderen ver-
streuten Grüppchen, die sich in den
Wäldern von Massachusetts gegenseitig


unterstützen oder befehden; braun oder
dunkel auch die Bewohner derrampo-
nierten Metropolen, die einst Ameri-
kas Glorie waren. Nur dass NewYork
jetzt Marias heisst, weil man dort einem
skurrilen Marienkult huldigt, während
das waffenstarrende,von Minenteppi-
chen umgebeneWashington Quantico
genannt wird.

ZweiTempi


Die 1965 in Boston geborene San-
dra Newman weiss, wie man eine Ge-
schichte erzählt.Auf verblüffende Art
gelingt es ihr, simultan zweiTempi ein-
zuhalten: Die Story zieht im Schnell-
zugtempo voran, dennoch atmet jeder
Moment. Rau und öfters grausam ist die
Welt, welche dieAutorin entwirft, und
doch geniesst man das Zusammensein
mit ihren Charakteren. Die Grenzen des
Plausiblen werden da und dort strapa-
ziert – aber das darf man imRahmen
eines phantastisch-apokalyptischen Sze-
narios wohl in Kauf nehmen.
Die Handlung nachzeichnen zu wol-
len, wäreRaubbau an der Spannung,
die derRoman aufbaut. Stattdessen
soll da und dort sondiert werden, was
in«T he Country of Ice CreamStar» –
soder Originaltitel des nun ins Deut-
sche übertragenenRomans – von der
Zivilisation, wie wir siekennen, übrig
geblieben ist.
Auf globaler Ebene: der Kalte Krieg,
wobei das Gleichgewicht des Schreckens
sich ganz zugunstenRusslands verscho-
ben hat. Die «Nighted States» (den hin-
tersinnigen Zungenschlag, mit dem die
Protagonistin ihre Heimat benennt,
kann die Übersetzung leider nicht ein-
fangen) sind nur mehr Jagdgründe,
wo dieRussen Kanonenfutter für ihre
omnipräsenten Armeen aufsammeln.
Hier kann man Newman vorhalten,dass
sie ein altesFeindbild bedient – aller-
dings eines, das sich, von PutinsPolitik
galvanisiert, derzeit wieder aus der Mot-
tenkiste zu erheben scheint.

Einzig die Mall vonWashington steht
in Amerika noch in alter Pracht; sie zu
schützen – oder, als UltimaRatio imFalle
einer russischen Invasion,in die Luft zu
jagen –,ist zum einzigenDaseinszweck der
Stadt Quantico und ihrer Bewohner ge-
worden. Derweil lässt sich in Marias eine
Latino-Elite vom englischsprachigen Pro-
letariat bedienen; offizielleRegentin der
Stadt ist eine zur Inkarnation der Maria
erhobeneFrau, um diereale Macht scha-
chern unterdessen «Apostel» und «Brü-
der» von nachgeradevatikanischerIntri-
ganz, denen das feineBatisthemd jeder-
zeit näher ist als die Mönchskutte.
In denWäldern, wo die Sengles und
anderebeinah ausgelöschte Gemein-
schaften ums Überleben kämpfen, sind
dieRollen ganz unterschiedlich ver-
teilt, was sich insbesondereim Umgang
mit denFrauen niederschlägt.Auf dem
einzigenBauerngut, wo noch «Christ-
linge» leben, haben sich dreizehn Ehe-
gattinnen um denFarmer geschart; zwi-
schen diesem friedfertigenHaushalt
und der Miliz, welche die Gegend un-
sicher macht, funktioniert eine ziemlich
roheVariante desFrauentauschs.Die
Kämpferrequirieren die Bettgefährtin
ihres Anführers und gelegentlich auch
Sexsklavinnen fürs gemeineFussvolk
aus dem christlichen Harem; weibliche
Babys, die aus diesenVerbindungen her-
vorgehen, werden wieder auf dem Hof
deponiert, weil die Miliz für sie einstwei-
lenkeineVerwendung hat.
Eine derart zynische Geschlech-
terhierarchie leisten sich die Sengles
nicht;soverleiht Newman ihrer Heldin
nebst einem grossen Herzen und Cou-
rage auchAutonomie, Durchsetzungs-
fähigkeit undAutorität in der Gemein-
schaft. Aber das Bild des Supergirls wird
zwischendurch geschickt gebrochen
und kalibriert – unter anderem durch
das achtjährige Sengle-Mädchen, das
Ice Cream Star unter ihreFittiche ge-
nommen hat: Die Kleine kann punkto
Schlagfertigkeit und Starrsinn ihrer Be-
schützerin jederzeitParoli bieten.

Beachtlich, wenn auch emotional
nicht unkompliziert ist dieFreiheit,
mit der die Protagonistin sich zwischen
Männern bewegt. Mit dem Anführer der
Miliz geht sie eine stürmische, von mehr
als nur einer Spur Gewalt durchzogene
sexuelle Liaison ein; denFrieden, den
sie bei einem gutsituiertenVerehrer im
nächstgelegenen Städtchen findet, weiss
sie zu schätzen,erträgt ihn aberauf die
Dauer nicht. Und als ein russischer
Deserteur in die Hand der Sengles fällt,
beginnt einPas de deux, der einen das
ganze Buch über in Atem hält.

RadikaleHerausforderung


Den Leser – es wurde gesagt – erobert
Ice Cream Star durch ihre Sprache.
Schrägund wild,geschickt mit ethno-
lektalen Elementen und grammatischen
Besonderheiten modelliert, von franzö-
sischen Einsprengseln und Neologismen
durchsetzt,ist dieser Zungenschlag eine
radikale Herausforderung, der sich die
Übersetzerin MilenaAdam engagiert,
gewandt und mit viel Einfühlungsver-
mögen stellt.
Dass das geschmeidigereEnglisch
im Deutschen a priori nicht leicht ein-
zuholen ist, wird man ihr nicht zuLas-
ten legen dürfen. Allenfalls liesse sich da
und dort über Nuancen diskutieren, etwa
wenn das häufig genutzte«Yo» durch ein
bedächtig klingendes «Jo» ersetzt wird.
Auch die Gallizismen –joyeuse,enfant,
bonefür gut,bellfür schön – sind in der
Übertragung weniger präsent. Genauso
gut aber kann man dasAugenmerk auf
die vielengeglückten Lösungen richten:
Wofür «plündern» im Original «scrat-
ching» steht, gehen die Sengles im Deut-
schen «lumpen»; statt des kaum elegant
zu übertragenden «peevish, sorry-tail»
setzt MilenaAdam ein schlankes «driess-
lich». DerVergleich zwischen Original
und Übersetzung ist ein nicht zu unter-
schätzendesVergnügen; an solcheFra-
gen Interessiertenmöchteman denRo-
man gleich im Doppelpack empfehlen.

Heim und Herd–das ist für Sarah Newmans Heldin einRelikt der Vergangenheit. CARLO ALLEGRI / REUTERS


Ist uns eigentlich


noch zu helfen?


Viel leicht muss nun doch
der Mann abgeschafft we rden

ROMAN BUCHELI

Gibt es nochRettung für die Erde, wie
wir siekennen: grün und blau undjeden-
falls bewohnbar?Längerfristig vermut-
lich nicht. Nichts spricht dafür. Für die
kurzeFrist vonein paar hundertJah-
ren sind die Prognosen freilich auch
nicht so berauschend. Zwar steht ge-
rade der Uno-Klimagipfel bevor.Aber
wenn man dem Generalsekretär Anto-
nio Guterres zuhört, wie er denRegie-
rungschefs schon vorsorglich ins Gewis-
senredet, dann kann man berechtigte
Zweifel hegen. Die Herrschaften wer-
den sich nicht zusammenraufen.
Ist dem Menschen also gar nicht
mehr zu helfen? Gemach, wo Gefahr
droht, nun ja, wächst vielleicht nicht
auch gleich dasRettende heran,aber
doch immerhin Abhilfe:Dann gibt’s
nämlich nur noch eins: Die Algorith-
menmüssenran.Sie sindjaohnehin
bald schon unserebesseren, weil ausge-
lagerten Gehirne. Sie werden denJob
übernehmen, wir werden parieren. Ob
es uns passt oder nicht.
So, und wer trägt die Schuld für die-
senganzen Schlamassel?Wer denn sonst
als: der Mann. Ich brauche ja nurAdam
zu sagen.Dabegann das doch schon.
Oder Odysseus, Ödipus, Orpheus.Was
ging da nicht alles schief.Oder Cäsar,
WilhelmTell, Napoleon: immer diese
Machos und Ego-Shooter. «Heinrich!
Mir graut’s vor dir», ruft das bedauerns-
werte Gretchen am Ende von «Faust I»
aus.Aber ist das nicht derKehrreim, den
wir immer zu hören bekommen,sobald
ein Mann die Bühne betritt: Eva hätte
es einst ihremAdam sagenkönnen, und
heute sagen es die Briten (von denFest-
land-Europäern zu schweigen): «Boris!
Mir graut’s vor dir.»
Der Mann also ist der ewige Schuft.
Das steht fest, und wir bekennen uns
schuldig. Nun aber naht sich uns, den
Männern, und derWelt dasRettende
wirklich! Aus Frankfurt kam diese
Woche die frohe Botschaft. Dort wurden
dieFinalistenbeim Deutschen Buchpreis
vorgestellt.Sechs Bücher! Und man
stelle sich vor: In allen geht es um ein
grossesThema: «familiäre Zusammen-
hänge». So sagteesder Sprecher derJury.
Na ja, das war eigentlich immerschon so,
Adam hätte davon einLied singenkön-
nen, Ödipus auch, sogarTim und Struppi
kannten das. Aber derJurysprecher fügte
noch etwas hinzu: Es sei «dabei vor allem
die Identität des Mannes problematisch
geworden». Halleluja!
Die Literatur war ja schon immer
eine grosseVerbesserungsanstalt und
Reparaturwerkstatt des Menschen.Das
war und ist auch nötig bei dem miss-
lichen Stand der Schöpfung. Nun soll
also an der «problematisch geworde-
nen» Identität des Mannes gearbeitet
werden: ein bisschen hämmern und aus-
bessern, Schrauben nachziehen,schad-
hafte Bauteile ersetzen.Aber hatten
sich daran nicht schon Heerscharen von
Künstlern abgearbeitet? Ich sage nur:
Dante oder ElfriedeJelinek.Und, ist der
Mensch, was sage ich, ist der Mann etwa
bessergeworden seither?
Wärees da nicht zielführender, den
Mann gleich ganz abzuschaffen?Daihm
ohnehin nicht zu helfen und eineRepa-
ratur aussichtslos ist?Das Problem mit
derFortpflanzung werden die Algorith-
men dann schon irgendwie hinkriegen.
Oder sollen wir stattdessen die Literatur
abschaffen, weil sie’s nicht gebracht hat?
Weil selbst 200Jahre «Heinrich! Mir
graut’s vor dir» nicht die gewünschte
Wirkung erzielt haben?
Alles mit derRuhe, nur nichts über-
stürzen! Aber mankomme uns bloss
nicht mit der Betulichkeit problematisch
gewordener Identitäten.Wir wollendas
ganze Programm sehen.Wir wollen
Kunst. KeineReparaturwerkstattprosa.
Denn zu helfen ist uns eh nicht mehr.

LESEZEICHEN


Sandra Newman: Ice Cream Star.
Aus dem Englischenvon MilenaAdam. Mat-
thes & Seitz,Berlin 2019. 667S., Fr. 35.60.
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