42 FEUILLETON Freitag, 20. September 2019
Eines Morgens erwache ich – und bin «rechts»
Es gibt gute Gründe, den po litischen Islam und die Identitätspo litik zu kritisieren.Von Kacem El Ghazzali
Wir, eine feministische Journalistin,
ein Universitätsprofessor, ein jüdischer
Filmemacher und ein muslimischer Arzt,
standen unlängst an einerZürcherDach-
terrassen-Party beieinander. Und began-
nen locker zu plaudern.
Obwohl wir uns politisch unterschied-
lich positionieren und auch sonst ganz
divers sind, hatten wir bald einThema
gefunden,das uns alle verband.Wir hat-
ten in jüngerer Zeit alle dieselbe Erfah-
rung gemacht:Wirfanden uns plötzlich
als «rechts», «rechtsradikal» oder gar
«rechtsextrem» etikettiert. Die Grenzen
zwischen den Bezeichnungen verschwim-
men ja zumeist in denAugen der Kritiker
- «rechts» ist eine abschüssigeBahn, und
wer als «Rechter» beginnt, landet zwangs-
läufig irgendwann am «rechtenRand».
Was war geschehen? Die Erklärung ist
einfach:Wir machen aus unsererAbleh-
nung des politischen Islams und der Iden-
titätspolitikkein Hehl.
Einen «Rechtsruck» haben wir nie
vollzogen. Wir verstanden und ver-
stehen uns als kritische Intellektuelle,
deren Denken sich am Erbe derAufklä-
rung orientiert. Es handelt sich vielmehr
um eineFremdzuschreibung, sprich: um
die Anschuldigung von sich progressiv
dünkenden Bekannten, die ihre eigenen
Positionen zum Nullmeridian der politi-
schenLandkarte machen und Ansichten,
die diesen widersprechen, nicht mehr dul-
den. Falls es dochjemand wagt, sie zu äus-
sern, wird nichtmehrdiskutiert,sondern
nur noch diffamiert.
Wer den politischen Islam bekämpft
und Identitätspolitik für einen Irrweg
hält,gilt also in sogenannten «progressi-
ven» Kreisen per se alsrassistisch.Auch
bekennende Linke bleiben von solchen
Anwürfen nicht verschont.
SP-Regierungsrat MarioFehr wurde
von linken Aktivisten, die gegen seine
Politik auf den Strassen Zürichs protes-
tiert haben, als «Rechter» bezeichnet.
SeinVergehen: Er befürwortet dasVer-
bot derVollverschleierung und will in
Übereinstimmung mit demRechtsstaat
diejenigen ausweisen, deren Asylantrag
abgelehnt wurde. Die Linken-Politike-
rin SahraWagenknecht wurde von ihren
Parteigenossen alsRassistin und AfD-nah
beschimpft, als sie sagte, «offene Gren-
zen für alle sind weltfremd» und «reak-
tionärer politischer Islamgehört nicht zu
Europa».
In der islamischenWelt, aus der ich
stamme, käme so etwas niemandem in
den Sinn. LinkePolitiker und Intellek-
tu elle, die den Islamismus bekämpfen,
werden dort nicht desRadikalismus und
Rassismus bezichtigt. Ganz im Gegenteil.
Wenn dort die Islamisten eine freiheits-
liebende Stimme zum Schweigen brin-
gen wollen, behaupten sie, dassdiese gar
nicht dieFreiheit, sondern den morali-
schenVerfall anstrebe.Sie beschuldigen
sie der Apostasie, also des Abfalls vom
Islam, und bringen sie nach Möglichkeit
an den Galgen oder ins Gefängnis.
Eine verkehrteWelt
Islamisten gibt es auch imWesten, im
Gegensatz zu Galgen oder Scharia-Ge-
fängnissen. Und diese Islamisten freuen
sich über die sich progressivDünken-
den, die überall Unterdrückung wittern,
und machen sich deren Narrativ des
Kampfes gegen den angeblich weissen
Rassismus zu eigen.Wenn Links- oder
Rechtsliberale – egal, ob Muslime oder
Nichtmuslime – imWesten in besterauf-
klärerischerTr adition Kritik amreligiö-
senFundamentalismus üben, beschul-
digen angeblich Progressive und Isla-
misten sie unisono: Euch geht es nicht
um das fundamentaleRecht auf Kritik;
nein, ihr missbraucht das, wasihrFrei-
heit nennt, um ungehindertrassistisch
sein zu dürfen.
Wie ist es möglich, dass die Ablehnung
vonSymbolen der Unterdrückung und
desreligiösenFundamentalismus sowie
dieAufforderung, die Gesetze des Staates
zurespektieren, als extremistisch gegeis-
selt werden? Der Grund findet sich in der
Priorisierung der Probleme der Gegen-
wart: Sowohl die neuen «Progressiven»
als auch die Islamisten sind der Ansicht,
dass der politische Islam und seineKon-
trollinstrumente wie Nikab und Burka
gar nicht die eigentliche Bedrohung für
Frauen und Minderheiten seien.
Die Quelle allen Übels ist aus ihrer
Sichteine ganz andere: der «weisse
Mann» und sein aggressiver Imperialis-
mus bzw. Kolonialismus. Er soll es sein,
der die Muslime – wie andere Minder-
heiten auch – zu unterdrücken trachtet.
Ich sage es offen und ehrlich: Klar gibt
es Anhänger eines weissen Suprematis-
mus – und diese Leute gehören auch
aufs Heftigste kritisiert.Das ist das eine.
Etwas anderes ist es, alle weissen Männer
als potenzielleRassisten abzustempeln.
Wer so spricht und argumentiert, diffe-
renziert nicht nur nicht,erbetreibt seiner-
seitsRassismus unter verändertenVorzei-
chen. SeineWelt steht buchstäblichkopf.
So wird in dieser verkehrten Optik
dasTr agen der Burka imWesten alsAus-
druck von persönlicherFreiheit verklärt,
wohingegen ein Burkaverbot als Zeug-
nis des gelebtenRassismus gilt. Frauen,
die den Nikab tragen, können nachAuf-
fassung der selbsternannten «Progres-
siven» gar nicht gezwungen bzw. unter-
drückt werden, denn sie leben ja nur nach
ihrerKultur.
DieseKultur ist nach ihremVerständ-
nis nicht etwas, das individuelleAusfor-
mungenkennt, das sich historisch ent-
wickelt und verändert, sondern ein grund-
legender, ein für alle Mal festgelegter,
konstanterWert, den es zu bewahren gilt.
Diese Sicht der Dinge blendetalle politi-
schen und intellektuellenreformerischen
Bewegungen aus, die die islamischeWelt
seitJahrzehntenkennt.
Reaktion und Progress
In vielen muslimischenLändern findet
eineAuseinandersetzung überKultur,
Identität undIslam statt.Fortschrittliche
Kräfte strebeneinenUniversalismus der
Menschenrechte an, den sie als Errungen-
schaft für alle Menschen betrachten; die
Konservativen halten demgegenüber an
einer Ständegesellschaft mit Privilegien
für Männer und Gläubige fest.Während
dieseAuseinandersetzung in der islami-
schenWelt andauert, scheint es, als hät-
ten es die selbsternanntenVordenker
des sogenanntenFortschritts imWesten
geschafft, diesenKonflikt zugunsten der
reaktionären Muslime zu gewinnen.
Ihnen ist es nämlich gelungen, die aus
dem Orient stammenden Mitbürger auf
dieVerschleierung und einenkonservati-
ven Moraldiskurs zureduzieren. So wird
mittlerweile der Hijab als dasrepräsen-
tativeSymbol des muslimischenKollek-
tivs angesehen. Liberale Muslime wie El-
ham Manea, Seyran Ates oderBassam
Tibi sind hingegen einrotesTuch für west-
liche «Progressive», weil sie nicht in ihr
Bild des hyperreligiösen «homo islami-
cus» passen.
Der syrische Publizist Sami Alkayial
erklärt dieseFetischisierung des isla-
mischen Schleiers treffend: «Der ver-
schleierte weiblicheKörper ist das auf-
fälligste und wirkmächtigsteSymbol des
von Linken angestrebten Pluralismus.»
Das heisst: Der Schleier ist für sie das
leicht erkennbare Zeichen dafür, dass
«der Muslim» anders ist und anders blei-
ben muss – und nur so darf er auf die
Anerkennung durch die Multikulturalis-
ten hoffen.
Ein falsches Zeichen
Wer seine Solidarität mit den Muslimen
bekundet, verfällt darum schnell darauf,
sich an derenreaktionärsteSymbole zu
halten. So trug die neuseeländische Pre-
mierministerinJacindaArdern nach dem
rechtsextremen Terroranschlag gegen
Muslime in Christchurch tatsächlich
einen schwarzen Hijab.
Mit derWahl diesesKleidungsstücks
nahm sie – wohl ohne sich dessen bewusst
zu sein – diePerspektive des Mörders
an, der Muslime lediglich als verschlei-
erteFrauen und bärtige Männer wahr-
nahm.Das ist etwas, was echterassistische
Suprematisten in ihrem Hass und Linke
in ihrer Solidarität widerWillen verbin-
det: Sie nehmen nur diereligiöse Identi-
tät desKollektivs wahr.
«Sie hätte besser ihre Solidarität mit
den Opfern als Bürger zumAusdruck
bringen sollen und nicht alsreligiöse
Identitäten, die auf zwei Beinen unter-
wegs sind», schrieb Sami Alkayial. Die
Premierministerin Neuseelands legte
nach dem Ende der Solidaritäts-Show
ihren Hijab ab, und irgendwann wird
sie für eine Gay-Parade dieRegen-
bogenflagge der LGBT-Aktivisten his-
sen – was die verschleierten muslimi-
schenFrauen nicht tun werden. Obwohl
manche von ihnen es vielleicht gern tun
würden.
Der vor zweiJahren verstorbene
marxistische arabische Philosoph Sadik
Jalal al-Azm beschrieb dieses Phäno-
men als umgekehrten Orientalismus.
Wenn einige Orientalisten einen grund-
legenden nichthistorischen Charakter
für den Orient postulieren, macht der
umgekehrte Orientalismus das Glei-
che, nur eben mit einer positiven statt
einer negativenWertung. Die Kritik am
Orientalismus nach SadikJalal al-Azm
darf uns nicht daran hindern, bestimmte
Ausprägungen des Islams zu kritisieren.
Wer dies gegenwärtig imWesten öffent-
lich tut, muss es aushalten, dass er als
Rassist dämonisiert wird.
Sogar Michel Foucault
DieHaltung vieler angeblich Progres-
siven ist freilich nicht wirklich neu. Be-
reits1978 hatte der französische Philo-
soph MichelFoucault in einem Artikel in
der Zeitschrift «Le Nouvel Observateur»
die Linken dazuaufgerufen, ihreÄngste
vor einer islamischenRegierung in Iran
aufzugeben.Daraufhin kritisierte eine im
Exil lebende Iranerin in einem Leserbrief
Foucaults unkritische Haltung gegenüber
den Islamisten: «Ich bin sehr unzufrie-
den mit denKommentaren der französi-
schen Linken zu einer islamischenRegie-
rung als Alternative zur blutigen Herr-
schaftdes Schahs.»Und sie fügte hinzu,
dassFoucault von politischer Spirituali-
tät «tief beeinflusst zu sein scheint, die er
als Gegensatz zur Diktatur der kapitalis-
tischenTyrannei sieht».
In einer kurzen Antwort schriebFou-
cault in der folgendenWoche im «Nou-
vel Observateur», dasses für ihn uner-
träglich sei, wie die iranischeAktivistin
in ihrerAussage alleFormen des Islams
vermenge,um den Islam zu verachten
und ihnals intolerant darzustellen. Er
weigerte sich, die Kritik der iranischen
Frau am politischen Islam zu teilen.
Stattdessen schrieb er: «Die erste Be-
dingung, um dem Islam mit etwas Intel-
ligenz zu begegnen, ist, sich vom Hass
fernzuhalten.»Foucault warf derFrau
vor, sie habe einen Hass auf denIslam –
zu einer Zeit, als dasRegime von Kho-
meiny dabei war, Frauen zu versklaven
und politische Dissidenten an den Gal-
gen zu bringen.
Sokommt es also, dass Islamkritiker
imWesten als «Rechte» verteufelt werden
und imLand Allahs als Abtrünnige. Wenn
ich nunvor dieWahl gestellt werde, was
mir lieber ist, dannentscheide ich mich für
Ersteres. ImWesten habe ichkeine drako-
nischen Strafen zu fürchten, sondern nur
sozialeAusgrenzung undRufmord.Da-
mit muss man lebenkönnen. Den «Pro-
gressiven» wünsche ich hingegen, dass sie
niemals in der Gesellschaft leben müssen,
die sie herbeischreiben.
Der SchriftstellerKacem El Ghazzalista mmt
aus Marokko und kam 2011 als Flü chtling in die
Schweiz, wo er mittlerweile eingebürgert ist.
Er ist Repräsentant der International Humanist
and Ethical Unionam Uno-Menschenrechts rat
in Genf.
WerJaz ur Burka sagt,sagt auchJazureligiösem Fundamentalismus. FARZANAWAHIDY / AP