Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 FORSCHUNG UND TECHNIK


Ins Weltall,


um die Erde zu erkunden


Warum Unternehmen


auf die fliegenden Spione setzen


Wie wird sich der Aktienkurs eines Konzernsentwickeln? Und wiekann


sichein Bauer gegen eineDürre schützen? Die Antworten auf


solcheund ähnlicheFragenliegenin den Bildern, dieSatelliten


aus dem Orbit zur Erdesenden. VONCHRISTIANEHANNAHENKEL


Für Scott Solomon beginnt jede Ant-
wort mit einer «pivotal question» –
einer entscheidendenFrage. «Und das
ist eineFrage immer dann, wenn die
Antwort dasPotenzial hat, den Preis
einer Aktie zu bewegen», erklärt Solo-
mon. Der studierte Informatiker arbei-
tet bei der UBS, und derenKunden er-
warten, dass dieBank sie tatkräftig da-
bei unterstützt, ihreVermögen zu meh-
ren. Solomon leitet seit gut einemJahr
eine Art interneForschungsstation der
UBS in derFinanzmetropole NewYork.
MehrerehundertDatenexperten, Inge-
nieureund andereSpezialisten arbeiten
im UBS EvidenceLab.Ihr wertvollster
Schatz sindDaten. Und diese bearbei-
ten sie mit ihren Algorithmen, Statistik-
programmen und anderer Software so
lange, bis sie eine Antwort haben.

Sturmschäden auf der Spur


Dabei blickt Solomon immer öfter ins
All. Oder genauer gesagt auf Bilder,
die ihm Satelliten in digitalerForm aus
dem Orbit auf seinen Computer schi-
cken. Denn einigeFragen lassen sich nur
mit den Satellitenaufnahmen beantwor-
ten, zum Beispiel: Kann ein Unterneh-
men, das von einem Hurrikan betrof-
fen ist, schnell genug seine Produktion
wieder aufnehmen, um die gesteckten
Umsatzzielezuerreichen?DieseFrage
stellte sich etwa, nachdem der Hurrikan
«Maria» imJahr 20 17 über Puerto Rico
hinweggefegtwarund die Produktions-
standorte derdort ansässigenMedizi-
naltechnikfirmen wie Amgen und Med-
tronic beschädigt hatte.
Anstatt die aufwendigeReise nach
Puerto Rico anzutreten– die auch ange-
sichts der grossen Zerstörungen erst zu
einem sehrviel späteren Zeitpunkt mög-
lich gewesen wäre –, griffen Solomon
und seinTeam schlichtweg auf Satelli-
tenbilder zurück. Anhand der Luftauf-
nahmenkonnten sie die Schäden an den
Produktionshallen abschätzen. Und ein
Blick auf dieParkplätze vor denFabri-
ken gab einen Eindruck davon, wann
wie viele Mitarbeiter bereits zurArbeit
hatten zurückkehrenkönnen. Solomon
konnteanhand dieser Erkenntnisse die
bankeigenen Analytiker entsprechend
informieren, und diese wiederumkonn-
ten daraus die Umsatzentwicklung von
Amgen oder Medtronic und damit auch
denVerlauf der Aktienkurse abschät-

zen. Seitdem rund einDutzendJung-
unternehmen den Orbit als Geschäfts-
basis entdecktund Hunderte von meist
kleinen, günstigen, aber leistungsstar-
ken Satelliten in die Erdumlaufbahn
geschossen haben, steht Antworten-
Suchern wie Solomoneinganz neuer
Datenfundus zurVerfügung:Fast jeder
Punkt auf der Erde wird mittlerweile
von den Satellitenflotten mehrfach am
Tag abfotografiert, und das mitrelativ
hoherAuflösung. Es lassen sich also mit-
hilfe von Satellitenbildern Beobachtun-
gen über die Zeit hinweg anstellen und
Entwicklungen erkennen.
Das ist nicht nur für die priva-
ten Satellitenbetreiber – meist jün-
gere,innovativeFirmen – ein einträg-
liches Geschäft, sondern vor allem für
jene Dienstleister, die die digitalisier-
ten Bilder mit softwarebasiertenAnaly-
setools und mit Einsatz von künstlicher
Intelligenz oder Machine-Learning aus-
wertenkönnen. Die Beratungsgesell-
schaft Euroconsultkommt in einer Stu-
die zumSchluss, dass der Markt für sol-
che Dienstleistungen imJahr 2027 einen
Umfang von 5,7 bis9Milliarden Dollar
erreichenkönnte.

Aufwendige Infrastruktur


Möglich geworden ist das alles über-
haupt erst, weilUnternehmen heute
dank Cloud-Computing die Unmengen
anDaten handhabenkönnen, die die
Satelliten inForm von Bildern gene-
rieren. «Für die meistenFirmen wäre
es viel zu aufwendig, müssten sie eine
eigene IT-Infrastruktur aufbauen, um
die vielen aus dem Orbit stammen-
denDaten zu speichern, zu verwalten
und auszuwerten», erklärt Alexis Conte
von Euroconsult. Mittlerweile sind es
externe Dienstleister wie Amazon, Mi-
crosoft oder Alphabet, die mit ihren
Cloud-Services den Unternehmen die
Last derDatenspeicherung und oft auch
-auswertung abnehmen.
Generell steht die kommerzielle
Nutzung der von Erdbeobachtungs-
satelliten gemachten Bilder noch ganz
amAnfang. Experten wie Conte gehen
davon aus, dass sichdiese mit weiter fal-
lenden Preisen für dieAufnahmen sehr
stark ausbreiten werde.Auch dieAus-
wertungstechnik steht wegen des frü-
hen Stadiums des Machine-Learning
oder der künstlichen Intelligenz noch
ganz am Anfang.
Das zeigt ebenfalls ein Beispiel aus
dem UBS EvidenceLab.EineFrage,
di e Solomon und seinTeam mithilfe
von Satellitenaufnahmen beantworte-
ten, war jene, ob die Halbleiterbran-
che sich vor Überkapazitäten und so-
mit sinkenden Preisen beziehungsweise
sinkenden Umsätzen zu fürchten hat.
Die Analytiker derBank hatten diese
Frage aufgeworfen, weil vieleKunden
die Befürchtung geäussert hatten, dass
die Halbleiteraktien anWert verlieren.
Wieder sollten Satellitenbilder die Ant-
wort liefern. Um denFortschrittbei den
Bauarbeiten für neue Produktionsstät-
ten von Halbleitern in China beurteilen
und damit abschätzen zukönnen, wann
wie viele neue Halbleiter auf den Markt
kommen, entwickelte Solomon einen
Katalog vonrundfünfzig Kriterien, an-
hand deren die Bilder ausgewertet wur-
den. In demFall musste dieAuswertung
wegen derKomplexitätmehrheitlich
von Menschen übernommen werden.
Bei einem anderen Fall konnten
dieDatenspezialisten der Grossbank
auf Machine-Learning setzen. So soll-
ten Satellitenbilder eine Antwort auf
dieFrage geben, wie sich der Markt für
Solarpanels in China entwickelt:Wie
schnell wächst er, und wie hochist das
Potenzial noch?Auf den Bildern waren
die Solarpanels auf den Häusern zwar
für dieMitarbeiter zu erkennen,die

Software jedochkonnte das erst, nach-
dem sie von den Mitarbeitern angelernt
worden war–sprich: nachdem die Mit-
arbeiter dem Computerso lange immer
wiederAufnahmen vonPanels gezeigt
hatten, bis der Computer diese selbst er-
kennenkonnte.
Doch die nun inForm von riesigen
Datenmengen aus dem Orbit gesende-
ten Bilder von der Erdekönnen weit
mehr, als etwa Anlegern Investitions-
entscheidungen zu erleichtern. Ein Blick
auf dieVersicherungsbranche zeigt, wel-
chengesellschaftlichen Nutzen die neue
Sicht auf die Erde bringen kann.Soer-
möglicht der Einsatz von Satelliten der
RückversicherungSwissReetwa, Risi-
ken im Bereich derLandwirtschaft ein-
zuschliessen, die vorher nicht abge-
deckt werdenkonnten. HansFeyen, der
bei demRückversicherer fürLandwirt-
schaft in Europa und im Nahen Osten
tätig ist, weist darauf hin, dass 75 Pro-
zent der Risiken in derLandwirtschaft
bis jetzt nicht versichert sind. Und das,
weil sie schlichtweg nicht abzuschätzen
sind und damit für dieVersicherungen
und dieRückversicherung ein zu gros-
ses Risiko wären.

Policen für kasachischeBauern


Ein interessantes Beispiel dafür ist
Kasachstan.Das Land ist eines der
grössten Getreidelieferanten weltweit
und immer wiedervonDürreperioden
bedroht.Das Problembisher war,dass
es für denVersicherungsanbieter mit
sehr hohemAufwand verbunden war,
die durch eine allfälligeDürre entstan-
denen Schäden zu messen.Dank den im
Orbit kreisenden Satelliten ist das nun
aber möglich: DieDaten, die diese an
die Erde schicken, werden von Algorith-
men ausgewertet. So kann derFeuchtig-
keitsgrad der Erde jedes einzelnenFelds
errechnet werden, und darauskönnen
allfällige Schäden individuell nachFeld
abgeleitet werden.
Da nun für dieVersicherung das
Risiko besser kalkulierbar ist, kann sie
überhaupt einerentablePolice anbie-
ten.Für die Getreidebauern in Kasach-
stan wiederum bedeutet das endlich
Planungssicherheit:FinanziellenRuin
durchDürrekönnen sie endlich aus-
schliessen undauch längerfristige Inves-
titionen tätigen.

Der Einsatz


von Satelliten ermöglicht


der Swiss Re etwa,


Risiken im Bereich


Landwirtschaft


einzuschliessen,die


vorher nicht abgedeckt


werden konnten.


Die kommerzielle


Nutzung der von


Satelliten gemachten


Bilder stehtnoch


ganz am Anfang.


Das gilt auch für die


Auswertungstechnik.


In den nächsten Jahren


soll einDutzend


weitererSatelliten


hinzukommen,


so dass je der Punkt


aufder Erde


mehrmals täglich


überflogen wird.


NZZ Visuals/brt.

2018

Mit 378 Starts war das Jahr 2017
dasjenige mit den meisten Launches.
Dabei wurden 230 rein kommerzielle
Satelliten in den Erdorbit geschickt.

0

50

100

150

200

250

300

350

Die Beobachtungsinstrumente bestimmen, wie der Satellit die Erde undwasera uf ihr sieht. BILD: ESA

tenkönnte man beispielsweise zurück-
verfolgen, wo CO 2 freigesetzt wird.Wün-
schenswert wäre lautAschbacher auch
ein Hyperspektralsatellit, der die Erde
gleichzeitig bei vielenWellenlängenbe-
obachte. Ein solcher Satellit erlaube
etwa die Suche nach Bodenschätzen.
Er diene aber auch der Nahrungsmittel-
sicherheit, weil er verschiedene Pflan-
zenarten unterscheidenkönne.

Private drängen in den Markt


Die Zeiten, in denen staatliche Insti-
tutionen die Erdbeobachtung unter
sich ausmachenkonnten, sind aller-
dings vorbei. Seit einigenJa hren drän-
gen immer mehrFirmen der sogenann-
ten New Space Economy in den Markt.
Sie setzen aufkostengünstigeTechnolo-
gien, geringesVolumen und Satelliten-
konstellationen. Zu den Pionieren ge-
hört die amerikanischeFirma Planet.
Von Berlin und SanFrancisco aus be-
treibt sie eine Flotte von150 Kleinsatel-
liten, die die Erde einmal täglichkom-
plett scannen und dabei eineräumliche
Auflösung von drei Metern erreichen.
Auch schon länger im Geschäft ist die
amerikanischeFirmaTerra Bella (vor-
mals Skybox Imaging), die für Google
scharfe Bilder der Erde erstellt. ImJahr
2013 sorgte dieFirma mit dem ersten
hochaufgelöstenVideo aus demWelt-
raum für Schlagzeilen. Unter anderem
sind fahrendeAutos zu erkennen.
Selbst im Radarbereich – wegen
der höheren technischen Anforderun-
gen lange Zeit eine Domäne staatlicher
Institutionen –tummeln sich inzwischen
privateFirmen. Mit dabei ist beispiels-
weise die finnischeFirma Iceye. Sie hat
derzeit vierRadarsatelliten imWelt-
raum, die ungefähr die Grösse eines
Koffershaben und pro Stück weniger als
100 Kilogramm wiegen. In den nächsten
Jahren soll einDutzend weiterer Satelli-
ten hinzukommen, so dass jeder Punkt
auf der Erde mehrmals täglich überflo-
gen wird. Die bestenAufnahmen lassen
Details erkennen, die nur einen Meter
gross sind.Damitkommt Iceye ihrem
Motto «Every Square Meter, Every
Hour»bereitsrecht nahe.
Aschbacher verfolgt die Entwick-
lung der New Space Economy mitgros-
sem Interesse.Und er nimmtFirmen wie
Iceye oder Planet nicht alsKonkurrenz
wahr, im Gegenteil. Die ESA denke dar-
über nach, wie man dieDaten der pri-
vaten Anbieter in das Copernicus-Pro-
gramm integrierenkönne.Vorstellbar
sei etwa, so Aschbacher, dass dieAuf -
nahmen der Kleinsatelliten das qualita-
tiv hochwertigeBild ergänzten, das die
grossen Satelliten alle zwei bisdrei Tage
von der Erde lieferten. So liessen sich
beispielsweise kurzzeitigeVeränderun-
gen erfassen.
Momentanevaluiert die ESA, wie sie
dieDaten von drei privaten Satelliten-
konstellationen über das Earthnet-Pro-
gramm zugänglich machen soll.Das ge-
schehe nicht nur aus eigenem Interesse,
so Aschbacher. Es sei auch eine Mög-
lichkeit, europäischenFirmen den Ein-
stieg in die New Space Economy zu er-
leichtern.

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