66 REISEN Freitag, 20. September 2019
Berlin
im Zeichen
des Mauerfalls
Als am9. November 1989
die Grenzübergängeaufgingen,
erlebtendieMenschen eineNacht
zwischen Euphorie und Chaos.
Robin Lautenbachwar als Fernsehreporter
mittendrin. DreissigJahre späterkönnen
Besucher inder deutschen Hauptstadt
auf ganzunterschiedlicheArten
die Geschichtedes Mauerfalls
nacherleben. VONTOBIASSEDLMAIER
Nicht zufällig steckt im Wort «Ge-
schichte» dasWort «Schicht». Denn die
Geschichte steht selten direktvor einem,
sie springt einem nicht ins Gesicht, man
muss nach ihr graben, sie greifen und
die verschiedenenVerlaufslinien über-
einanderlegen, um sie sichtbar machen
zu können. So verhält es sich auch mit
der Berliner Mauer und dem Umgang
mit ihr im 30.Jubiläumsjahr ihresFalls.
In der Nacht vom 9. auf den
- November1989 fiel die Mauer, die
Berlin, Deutschland und die ganzeWelt
28 Jahre lang geteilt hatte. Der Eiserne
Vorhang stürzte nicht schwungvoll, son-
dern zerfiel sanft – letztlich auch wegen
einesunbeholfenen Missverständnisses.
In einerrecht chaotischen Zeit, in der
kaum jemand die Übersicht über alle
Geschehnisse behalten konnte, kein
Bürger, kein Journalist und auchkein
Politiker ausOst oderWest, löste eine
einfache Pressekonferenz einen funda-
mentalen Umsturz aus.
Vom einstmals längsten,abschreckends-
ten Bauwerk der Stadt sieht man heute
nur noch ein kurzes Stück des Originals,
bei der East Side Mall 1 in Friedrichs-
hain,wo Erich Honecker und Leonid
Breschnew auf demweltbekannten Graf-
fito in einem innigenKuss vereint sind.
Doch ihre Spuren hat die Mauer – und die
damit verbundeneTeilung der Stadt – an
zahlreichen Orten hinterlassen. Manch-
mal allzu museal versteinert, manchmal
interaktiv, nostalgisch, bis in die Gegen-
wart pulsierend, manchmalversteckt.
Natürlich kamen der Mauerfall und das
damit verbundene Ende der DDR nicht
aus heiterem Himmel.Die Unzufrieden-
heit hatte sich überJahre hinweg ange-
staut, hatte sich durch wirtschaftliche
Stagnation und sozialeRepression ver-
dichtet.Schliesslich kulminierte sie im
Herbst1989: 4000 Flüchtlinge wollten
im September aus der Prager Botschaft
ausreisen – undkonntendies nacheiner
Ansprache des deutschen Innenminis-
ters Hans-Dietrich Genscher auf dem
Botschaftsbalkon auch. Dazu kamen
die Montagsdemonstrationen in Leip-
zig im Oktober, auf deren Höhepunkt
mehr als 300000Teilnehmer die Losung
«Wir sind dasVolk!» skandierten.
Sehr anschaulich lässt sich der ostdeut-
sche Alltag im DDR-Museum 2 in der
Karl-Liebknecht-Strasse am Spreeufer
studieren.Man kann sich ans Steuer eines
Trabis setzen, eine in allen Einzelheiten
nachgebauteWohnung erkunden und in
den in einer Kinderkrippe ausgelegten
Büchern blättern.Der interaktive Spazier-
gang zählt zu den beliebtestemBerliner
Attraktionen.Geradezu museal eingerich-
tet hat sich die DDR hingegen imDeut-
schen Historischen Museum 3. Dort ist
sie zur letztenFussnote neben anderen
geworden, sie verschwindet hinter dem
PreussenkaiserFriedrich dem Grossen,
der WeimarerRepublik und dem «Drit-
ten Reich». Über das Alltagsleben erfährt
mandas Nötigste, auch der obligatorische
Trabi darf nicht fehlen.Besonders ist ein-
zig eine Schautafel zum Geschichtsver-
ständnis der DDR.
Die DDR-Führung sah sich gezwungen,
eine Lösung für dasAusreiseproblem
zu finden, gemäss der Devise: Sind die
Unzufriedenen erst fort, herrscht wie-
der Ruhe.Vier ihrerVertreter hatten
ein Schreiben ausgearbeitet,das explizit
Ausreise- undReisebewilligungen ent-
hielt.Durch die bürokratischenLaby-
rinthe desSystems ging das Dokument
seinenWeg: von Generalsekretär Egon
Krenz über das Zentralkomitee, bis es
schliesslich in den Händen von Günter
Schabowski landete. Er war der erste
Sekretär der Ostberliner Bezirkslei-
tung der Sozialistischen Einheitspartei
(SED),der Staatspartei der DDR.
Der Funktionär war nicht ganz im
Bild über Entstehung, Inhalt und vor
allem denVeröff entlichungszeitpunkt
dieser Note, die eigentlicherst am nächs-
ten Morgen hätte in Kraft treten sollen,
und verlas sie am frühen Abend des
- November vor versammelter Presse.
Auf die Nachfragen vonJournalisten,ob
der Erlass per sofort und auch fürWest-
berlin gelte, wühlte Schabowski in sei-
nen Unterlagen und antwortete sichtlich
konfus mit «sofort, unverzüglich». Der
heute noch lebende Egon Krenz hin-
gegen betont öffentlich, er selbst habe ja
nur ein Blutvergiessen vermeiden wol-
len. Es wirdwohl nie ganz geklärt wer-
den, wer was genau missverstand und
wann Schabowski die weltpolitische
Dimension dieses Erlasses dämmerte.
Ein Panorama des Umbruchs in der
Hauptstadt präsentiertdie multimediale
Ausstellung «nineties berlin» in der
Alten Münze 4 am Molkenmarkt. Hier
herrscht eine Gleichzeitigkeit der Stim-
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 drängenAusreisewillige über den GrenzübergangInvalidenstrasse. IMAGO
Robin Lautenbach
Pensionierter
Reporter des
PD Freien SendersBerlin