68 REISEN Freitag, 20. September 2019
hatten, und schilderten ausgesprochen
präzise die dortigeLage. Lautenbach
war etwas verstimmt, dass bei ihm noch
niemand rübergekommen war: «Ent-
weder die Grenzorgane haben nochkei-
nen Befehl bekommen, oder sie haben
ihn nicht verstanden.»
Am Grenzübergang Bornholmer
Strasse,der direkt an der grossen
Wohnsiedlung am Prenzlauer Berg lag,
waren längst die Schranken gefallen,
als beim tapfer ausharrendenRepor-
ter in der Invalidenstrasseendlich der
ersteTrabi angezuckelt kam. Ein ein-
samerWestpolizist wollte demFahrer
helfen, ihm denWeg insAufnahme-
lager Marienfelde zeigen. Doch der
winkte ab: «Nö, nö, nicht nötig, ich fahr
wieder zurück, ich will nur mal den
Ku’damm sehen.»
«Für uns war klar, dass jeder, der
rüberkommt, bleiben will», erz ählt Lau-
tenbach. Dabei hätten viele Menschen
die Grenze vor allem deswegen über-
quert, um zu sehen, wie es imWes-
ten überhaupt aussah. Nicht jeder war
ein Republikflüchtling, daheim lief der
Fernseher, schliefen die Kinder, am fol-
genden Morgen wartete dieArbeit.Um-
gekehrt setzte ebenfalls ein Besucher-
strom ein: Viele Westberliner liefen
durchs nächtliche Ostberlin, zumers-
ten Mal ohne schikanöseKontrollen
oder den leidigen Umtausch von Devi-
sen, mit denen man sich ohnehin nichts
kaufenkonnte.
Das 1962 gegründete Museum am
Checkpoint Charlie 7 wirkt der Gegen-
wart völlig entrückt. Ursprünglich hatte
sein Gründer, Dr. Rainer Hildebrandt,
es gleichsam als aktivistischenPosten
gegen das Unrecht ins Leben gerufen.
Er hatte seine bestenFreunde im «Drit-
ten Reich» verloren.Das Haus sollte auf
die Dissidenten und Unterdrückten der
DDR aufmerksam machen.Regelmässig
hatte Hildebrandt Journalisten über er-
folgreiche oder gescheiterte Fluchtver-
suche informiert. Die 2000 Quadrat-
meter grosseAusstellung ist vollgestellt
mit mehrsprachigenTexttafeln zur Ge-
schichte der DDR, um die sich Schü-
lergruppen drängeln.Ausgestellt sind
Fluchtfahrzeuge, wie derTrabi mit dem
ausgeschnittenenKofferraum oder der
Ballon, mit dem dieFamilien Strelzyk
und Wetzel 1979 von Thüringen aus
spektakulär in denWesten flogen.Ihre
Geschichte verfilmte Michael «Bully»
Herbig 2018 in dem spannenden Thril-
ler «Ballon».
Die unmittelbarste Irritation erlebten
jedoch die Grenzsoldaten der DDR. Sie
hattenkeine Befehle erhalten, wuss-
ten nichts von irgendwelchenAusreise-
vorschriften, fingen hektisch an herum-
zutelefonieren. Die Staats- undPartei-
führung, die nach der Sitzung im Dienst-
wagen nach Hause kutschiert worden
war, schlummerte indes sanft in ihren
Villen und bekam nichts mit. Doch am
drängendsten war dieFrage:Wie würde
die Sowjetunion in jenerNachtreagie-
ren? «Wir hattenein bisschen Angst»,
sagt Lautenbach. Schliesslich hatte die
Rote Armee rund um Berlin mehrere
hunderttausend Mann stationiert. Doch
es blieb ruhig und die Soldaten in den
Kasernen.
Neben dem Museum am Checkpoint
Charlie ist eine bis mindestens 2020 lau-
fendeDauerausstellung in einer soge-
nannten BlackBox 8 zu sehen, die
einen kompakten, globalgeschichtlichen
Ansatz pflegt.Der Fall des EisernenVor-
hangs und dieWende werden hier einge-
ordnetins grosse Weltgeschehen bis hin
zum 11.September. So ganz ist auch hier
Aufklärung nicht vonKonsum zu tren-
nen: Neben einem Mahnmal für die Mau-
ertoten dampft es aus einem Essensstand.
In der Invalidenstrasse beiRobin Lau-
tenbach waren gegen Mitternacht indes
die Dämme gebrochen.Trabi umTrabi
rollte über die Grenze, Sekt floss,und
Blumen wurden geschenkt, Menschen
lagensich in denArmen,konnten nicht
fassen, was gerade geschah. Irgendwann
standen derRegierende Bürgermeis-
ter vonWestberlin,Walter Momper,
und Oppositionsführer Eberhard Diep-
gen am völlig überlaufenenDurchgang.
Momper mahnte mit einem Megafon
bei allerFreude zu Disziplin und Beson-
nenheit, zwängte sich dann selbst über
die Grenze. Lautenbach folgte ihm auf
seiner kleinen Exkursion, dabei riss das
Kabel der Kamera ab, was im allgemei-
nen Chaos nur noch zurRandanekdote
taugte.
Später stand derReporter am Bran-
denburgerTor, seit der Schlacht um den
Reichstag im Mai1945 ein wichtiger
symbolischer Punkt des Kalten Krie-
ges und für die Geschichtsschreibung
der Sowjetunion von zentraler Bedeu-
tung: «Das Gefühl eines historischen
Moments hatte ich in der Nacht zumers-
ten Mal vor dem BrandenburgerTor.»
Als John F. Kennedy imJuni 1963 seine
berühmteRede inWestberlin hielt,
deckten dieRussen die Zwischenräume
der Säulen mit Sichtschutz ab.An di eser
Stelle galt die Mauer als besonders un-
durchdringlich, «doch von jetzt an wird
das Bauwerk nur nochein Baudenkmal
sein», wie Lautenbach damals sagte.
Ein Ort der Stille ist dasParlament der
Bäume 9 , das sich hinter dem Bun-
destag versteckt und ein bisschen einer
alternativen Schrebergartensiedlung mit
Installationskunst darin ähnelt.Wer es
besichtigen möchte, kann demKünst-
le r, dem 89-jährigenBen Wagin, eine
E-Mail schreiben ([email protected]).
Einlass ist ab 10Personen.Wagin hatte
1990 das Gelände imRegierungsviertel
gesichert und begonnen, dortBäume zu
pflanzen in Erinnerungan die Opfer der
DDR, derWeltkriege und an die Mau-
ertoten, deren Zahl übrigens an jeder
Stätte divergiert.
Irgendwann nach3Uhr morgens ging
Lautenbach nach Hause, müde, wach,
erschlagen, euphorisiert. Ganz hatte er
noch nicht begriffen, was passiert war.
Er gehörte einer Generationan, die
sich mit dem Status quo abgefunden
hatte:«Für mich war dieTeilungvoll-
kommen normal, etwas Selbstverständ-
liches, das immer so war und bleiben
würde. Jede einseitigeVeränderung an
der Mauer hätte Krieg bedeutet.»Tat-
sächlich war, trotzdem Tauwetterkurs
von Gorbatschow, seitens der DDR-
Führungkein Reformkurs zu erwar-
ten gewesen. Schliesslich hatte Egon
Krenz im Sommer1989 die Genossen
in Peking für diegewaltsame Nieder-
schlagung der Protesteam Tiananmen-
Platz gelobt.
Kein Wunder, dass an di esem Abend
viele Menschen wie in einem surrealen
Märchen herumstolperten, ahnungslos
und überrumpelt wie Herr Lehmann,
der etwas schluffige Held inSven Rege-
ners gleichnamigemRoman von 2001,
der mit Christian Ulmen verfilmt wurde.
Die folgendenTage waren von Arbeit
geprägt,täglichentstanden neue Grenz-
übergänge durch die Mauer hindurch,in
Wedding etwa und amPotsdamer Platz.
Arbeitging derVerarbeitung vor. Die
anfängliche Euphorie wich mit denJah-
ren der Ernüchterung, die Umarmun-
gen wurden mit der Zeit ablehnender,
auf dieParty folgte der Kater.
Nun,imJahr 20 19, dreissigJahre nach
demFall der Mauer, scheint dieWie-
dervereinigung selbstverständlich ge-
worden zu sein, manchmal musealisiert,
manchmal zumWitz erstarrt,wie bei den
gelegentlich aufschwappenden Ostalgie-
wellen.DiepolitischenAnsagen und die
kraftvollenWarnungen sind zumWerbe-
slogan geworden : «Ich bin ein Berliner!»
ist auf weisseT-Shirts gedruckt, «Ach-
tung, Sie verlassen jetztWestberlin»
prangt auf Bierkrügen.Vielleicht ist es
nur konsequent, dasskommunistischer
Kitsch nach derWende durch kapitalis-
tischen Kitsch abgelöst wurde.
Ein Volkspolizist hält am 9. November 1989 die Menschen an der Mauer beim BrandenburgerTor zurück, einem wichtigen symbolischen Punktdes KaltenKrieges. DIRK EISERMANN / LAIF / KEYSTONE
Berlin im Jahr
der Jubiläen
tsm.·2019 steht Berlin nicht nur im
Zeichen des Mauerfalls, es wird ausser-
dem das 100-Jahr-Jubiläum desBauhau-
ses begangen. ZahlreicheAusstellungen
und Vorträg e, Touren undFilme brin-
gen dem Besucher die Bedeutung die-
ser Schule für Architektur, Design und
Kunst näher.
Aufder Website https://www.visit-
berlin.de/de finden sich alle touristi-
schenTipps und praktischen Informati o-
nen für einen Besuch in der deutschen
Hauptstadt.
Die Recherchereise nach Berlin wurde unter-
stützt von Visit Berl in und der Deutsc hen Zen-
tralefür Tourismus.
Der Mann im Trabi
win kte ab:
«Ich fahr wiederzurück,
ich will nur mal
den Ku’damm sehen.»