Die Welt Kompakt - 18.09.2019

(vip2019) #1
haben Mama oder Papa noch
nie in oder an ihrem Leben ge-
arbeitet. Noch nie! Das ist ein
Teufelskreis, denn die Kinder
übernehmen diese Lebensart.
Der Koffer zeigt ihnen nur eine
Vision, ihre Wünsche doch
noch verwirklichen zu können.
Es winkt eine Chance.

Und dann ist plötzlich alles
anders?
Sie glauben an ein Geschenk des
Himmels, und dass jetzt alles
von alleine geht. „Mutti, wir
sind jetzt reich.“ Doch sie be-
kommen gar nichts geschenkt.
Es ist nur ein Vorschuss auf den
ihnen zustehenden Lebensun-
terhalt. Sie müssen sich dann
beim Amt abmelden und sind
nun für alles selbst verantwort-
lich. Die Geldscheine entlocken
ihnen Ideen, zum Beispiel eine
Imbissbude aufzumachen. Meist
ein Strohfeuer. Zu tiefer gehen-
den Überlegungen, lohnt sich
Selbstständigkeit für uns eigent-
lich, haben wir genug Ahnung
oder auch genug Kundschaft,
dazu reicht es dann meist nicht.
Bedenken sind unerwünscht.
Trotzdem finde ich, dass die
Menschen es verdient haben,
sich auszuprobieren. Es kostet
die Gesellschaft keinen Cent.
Und die einzigen, die dafür
wirklich bezahlen, das ist RTL.

Für andere ist es ein Armen-
porno.

D

er ehemalige Be-
zirksbürgermeister
von Berlin-Neu-
kölln, Heinz Busch-
kowsky (SPD), ist bekannt für
seine markigen Kommentare.
Heute, mit 71, gehört er zum
zweiten Mal zur Expertenrunde
der RTL-Sendung „Zahltag! Ein
Koffer voller Chancen“ (diens-
tags, 20.15 Uhr), in der Hartz-
IV-Empfänger die Sozialleis-
tungen eines ganzen Jahres auf
einen Schlag im Voraus ausge-
zahlt bekommen. Damit sollen
die Familien einen Neuanfang
wagen und werden dabei von
Fachleuten begleitet. Warum
macht Buschkowsky bei so et-
was mit? Die Antwort gibt er im
Interview. Als Ort hierfür wählt
er das Restaurant im Schloss
Britz. „Hier kennen mich sogar
die Frösche im Teich“, sagt er.
Neukölln ist seine Heimat. Im-
mer noch.

VON KATJA MITIC

WELT: Herr Buschkowsky,
wenn jeder Hartz-IV-Empfän-
ger einmal so einen Koffer mit
15.000 bis 30.000 Euro bekä-
me – wären dann die Sozial-
leistungen in Zukunft über-
flüssig?
HEINZ BUSCHKOWSKY: Nein,
natürlich nicht. Denken Sie nur
an die vielen, die unverschuldet
durch Schicksalsschläge in Not
geraten sind. Die erwarten zu
Recht die Solidarität der Gesell-
schaft. Und zu denen, die das
Leben einfach nicht packen, ha-
ben meine Eltern mir beige-
bracht: Junge, wenn du etwas er-
reichen willst, musst du dich be-
wegen. Aber in der Unter-
schicht, auf Neudeutsch Prekari-
at, gibt es eben auch Menschen,
die nicht mit den dafür nötigen
Kompetenzen ausgestattet sind,
um sich für ein selbstbestimm-
tes Leben zu bewegen. Eine sol-
che Schicht derjenigen, die nicht
zu einem geregelten Leben fin-
den, gibt es in jedem Land und
jeder Gesellschaft.


Welche Kompetenzen meinen
Sie?
Durchhaltevermögen, Beharr-
lichkeit, Engagement, Fleiß,
Zielstrebigkeit und Selbstbe-
herrschung. Ich nenne das Zivi-
lisationskompetenzen. Der in-
nere Antrieb, seinen Lebensun-
terhalt selbst zu verdienen, ist
für Menschen wie Sie und mich
eine Selbstverständlichkeit.
Dem Job nachgehen, auch wenn
man Kopfschmerzen hat oder
sich nicht gut fühlt. Bei vielen
Menschen im Sozialnetz mag
zwar der Wille, ihr Leben zu
verändern, vielleicht vorhanden
sein, aber es fehlen ihnen halt
die Kompetenzen, den inneren
Schweinehund zu besiegen.

Und mit dem Koffer bringt
man es ihnen bei?
Nein, aber wir haben es in der
Sendung mit Familien zu tun,
die bis zu 30 Jahre von Sozial-
leistungen leben, früher nannte
man es nur anders: Stütze oder
Wohlfahrt. In diesen Familien

häufig kaum mehr als den
Hartz-IV-Satz.
Diese Vorwürfe kommen im-
mer wieder. Das führt dann zu
der Schlussfolgerung: Der
Hartz-IV-Satz ist zu hoch. Ich
persönlich dagegen würde eher
das System ändern. Unser Sozi-
alsystem basiert zurzeit auf der
Kopfzahl, also je mehr Mitglie-
der eine Familie hat, umso
mehr Geld bekommt sie. Im
Niedriglohnsektor kann man
deshalb ab sechs Kindern auf-
hören zu arbeiten. So viel Geld
können Sie gar nicht mit Ihrer
Hände Arbeit ehrlich verdie-
nen, wie Sie vom Staat erhal-
ten. Rechnen wir nach: Pro
Kind 250 Euro, macht 1500 Eu-
ro. Plus 800 Euro für die El-
tern, ergibt 2300 Euro. Plus
800 bis 1000 Euro Miete. Da
sind wir bei 3300 Euro netto
ohne Zuschläge. Letztlich sind
wir dann locker bei 3500 bis
4000 Euro. Finden Sie mal je-
manden, der keine Berufsaus-
bildung hat und trotzdem mit
Hilfsarbeiten auf diese Summe
kommt. Denken Sie einmal an
Ihr eigenes Einkommen. Es ist
schon so, dass die Sozialleis-
tungen einer Erwerbssituation
gleichkommen.

Was wäre Ihre Alternative?
In den Niederlanden zum Bei-
spiel ist die Sozialhilfe gede-
ckelt. Es gibt eine Höchstsum-
me und Schluss. Das fände ich
besser. Da lässt sich die Sozial-
leistung nicht nach oben offen
steuern.

Sie klingen irgendwie resig-
niert, so abgeklärt. Ich hätte
schärfere Töne von Ihnen er-
wartet.
Ja, soll ich denn jubilieren? Ich
habe meinen Kampf um Werte
und mehr Gerechtigkeit verlo-
ren.

Inwiefern?
Als ich hier in Neukölln noch
tätig aktiv war, da hatte ich vie-
le tapfere Mitstreiter: Schul-
und Kitaleiterinnen, Sozialar-
beiter und Ordnungshüter. Wir
waren ein streitbares Völkchen,
um das friedliche Zusammenle-
ben zu organisieren und die La-
ge der Kinder zu verbessern.
Heute sind fast alle meiner al-
ten Haudegen gegen das Lais-
sez-faire – wie Buschkowsky
selbst – in Pension. Und die
jungen Leute, die nachgekom-
men sind, haben keinen Bock
mehr auf dieses Theater um In-
tegration und den Kampf gegen
Unkultur. Sie wollen keinen An-
schiss vom Schulrat oder ir-
gendwelchen Gutmenschpoliti-
kern. Wenn man heute gegen
den Strich bürstet und so wie
ich die Schnauze aufmacht –
dann ist man sofort ein Rassist
oder Rechtspopulist. Was im-
mer das ist. Dass durch dieses
Duckmäusertum die Lebens-
chancen der Kinder den Bach
runtergehen, interessiert nie-
manden. Jede Regelverweige-
rung wird als Beweis von De-
mokratie zur kulturellen Iden-
tität. Was für ein Schwachsinn.

„Ich habe meinen Kampf


um Werte verloren“


Mit einem Koffer voller Geld will Neuköllns Ex-Bürgermeister


Heinz Buschkowsky bei RTL Hartz-IV-Empfängern helfen


„Im Niedriglohnsektor
kann man ab
sechs Kindern aufhören
zu arbeiten“, sagt
Heinz Buschkowsky

RTL/ TVNOW / STEFAN GREGOROWIUS

Sehe ich nicht so. Ich gucke sol-
che Sendungen häufig, „Benz-
Baracken“ und ähnliche. Sehr
zum Leidwesen meiner Frau.
Ich will wissen, wie die Leute
denken, mit welcher selbst ge-
bastelten Lebensphilosophie
sie sich betrügen und wie es ih-
nen wirklich in unserem Sozial-
system geht. Und natürlich, wer
schuld ist an ihrer Misere. Sie
selbst können es ja nicht sein.

Wenn jemand wissen müsste,
wie es im Leben von Men-
schen in Hartz IV aussieht,
dann Sie. Als Bezirksbürger-
meister von Neukölln, dem
sozialen Brennpunkt
Deutschlands schlechthin,
drehte sich Ihr ganzes Politi-
kerleben um Armut und Inte-
gration.
Das stimmt im Großen und
Ganzen. Mich interessiert bei
diesen Sendungen immer die
Sichtweise, warum einer meint,
die Gesellschaft habe ihn zu
pampern. Ich kann dann immer
auch sehen, warum Heinz
Buschkowsky einen anderen
Weg gegangen ist als viele Kin-
der im Milieu. Denn die Start-
bedingungen waren sich doch
sehr ähnlich. Buschkowskys El-
tern haben sich jedoch mit et-
was geplagt, was man Erzie-
hung nennt. Man kann auch sa-
gen: Wertevermittlung. Diesen
Stress tun sich nicht alle an.
Das ist der Unterschied.

Wenn Geld nicht hilft, diesen
Teufelskreis zu verlassen.
Sanktionen vom Jobcenter
vermutlich auch nicht. Was
dann: Sozialarbeiter, Psycho-
therapie?
Nein. Ich glaube, eine Gesell-
schaft muss damit leben, dass
es auch Teile gibt, die mit ihrem
eigenen Leben einfach nicht zu-
rechtkommen. Gut leben wol-
len sie aber trotzdem. Mit
Hartz IV erkaufen wir uns des-
halb den sozialen Frieden. Das
gefällt nicht jedem. Nachvoll-
ziehbar. Aber wenn wir die
Menschen ins Elend stoßen und
dort sich selbst überlassen,
dann kann es passieren, dass
man beim nächsten Mal auf der
Straße eins auf den Kopf kriegt.
Das sind dann nämlich Verhält-
nisse wie an so manchem Ort in
Afrika. Denn die Menschen ver-
schwinden ja nicht einfach,
sondern wollen und müssen
von irgendwas leben. Und wenn
nicht auf legalen Wegen, dann
eben illegal. Jeder hat einen
Überlebensdrang. Also, statt
Anarchie lieber Investition in
den inneren Frieden. Oder wol-
len Sie das Faustrecht ums Es-
sen? Das ist doch keine Staats-
form der Zukunft.

Nicht nur die Protagonisten
sind verantwortlich für ihre
Lage, sondern auch die Poli-
tik. Wer heute im Niedrig-
lohnsektor arbeitet, verdient

6 POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,18.SEPTEMBER

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