Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
von thomas hahn

A


m Nachmittag sind in der Ponybar
manchmal die Franzbrötchen
aus. Aber Kaffee ist immer da,
irgendein Stück Kuchen auch,
und natürlich diese Atmosphäre zwischen
Ruhe und Lebendigkeit, in der man ein
bisschen abschalten kann
von dem ganzen großen
Hamburger Drumherum.
Die Ponybar liegt am Rande
des Unicampus, direkt ne-
ben dem Programmkino
Abaton, wie ein freundlicher
Kompromiss zwischen erdi-
gem Studentenmilieu und
Wohlstandsgesellschaft. Die
Gründerzeitvillen von Rot-
herbaum sind nicht weit. Am
Campus verschaffen sich
von Zeit zu Zeit die Kapitalis-
muskritiker der Studieren-
denvertretung Asta Gehör.
Und in der Ponybar weht zwi-
schen Sofas und Charakter-
sesseln ein Freigeist, der
über allen Widersprüchen
steht. Typisch Hamburg. Ty-
pisch Hamburg?
Man braucht mehr als ei-
nen Spaziergang, um Ham-
burg zu erkunden. Man
braucht auch mehr als fünf
Jahre dafür. Keine Stadt der Welt kann
man in ein paar wenigen Streifzügen ken-
nenlernen, Hamburg erst recht nicht. Hier
hat man ständig das Gefühl, dass sich hin-
ter prachtvollen Kulissen noch eine ganz
andere Vielfaltswelt verbirgt. Alle reden da-
von, dass Hamburg schön sei, die Hanse-
stadt wird als „Perle“ besungen. Seit die
Elbphilharmonie keine Baustelle mehr ist,
sondern ein professionell vermarktetes
Symbol für Hamburgs Aufbruch in die Zu-
kunft, haben auch Leute in Amerika und
Asien davon gehört. Und es stimmt ja auch:
Die geschwungenen Zinnen der Elphi, die


Speicherstadt, die Kanäle, die Parks, die
Häuser von Uhlenhorst, Blankenese, Hum-
melsbüttel, diese ganze vornehme Stadt-
landschaft, die der freie Kaufmannsadel
über die Jahrhunderte hinweg um Elbe
und Alster hat entstehen lassen – das alles
ist in der Tat eindeutig und fast makellos
schön. Trotzdem. Die Sache mit der Ham-
burger Schönheit ist kompli-
zierter.
Von der Ponybar ist es
nicht weit bis ins Schanzen-
viertel. Vom Allendeplatz
nach links. Grindelhof, die
Rentzelstraße rauf. Bei der
Kreuzung rechts rein in den
Weg am Schanzenpark, der
einen ersten Eindruck davon
gibt, wie im Schanzenviertel
die Welten aufeinanderpral-
len. Der alte Wasserturm am
Hügel beherbergt ein Vierein-
halb-Sterne-Hotel. Die Wie-
se davor ist im Sommer voll
mit Picknickgesellschaften.
Einen Abschlag entfernt liegt
zwischen hohen Maschen-
zäunen der Kunstrasenplatz
des SC Sternschanze, auf
dem ein reger Amateurfuß-
ballbetrieb herrscht. Und
drumherum schleichen Dro-
gendealer auf der Pirsch
nach Kundschaft.
Hamburg verschont einen nicht mit Ein-
drücken. Das ganze Schanzenviertel ist ge-
prägt vom Durcheinander der Kontraste.
Geschäfte, vergnügte Passanten, linksex-
tremer Zorn auf den Bannern an der Roten
Flora. Beim G-20-Gipfel 2017 brannten
Barrikaden am Schulterblatt, Chaoten
warfen Scheiben ein und plünderten im
Quartier. Anwohnerinnen und Anwohner
starrten durch beißenden Qualm auf eine
ungebremste Woge der Gewalt. Danach for-
derten konservative Politiker lauter denn
je, die Rote Flora, das frühere Musical-The-
ater, welches linksautonome Widerständ-

ler seit 30 Jahren besetzt halten, solle man
endlich räumen. Aber im Viertel gab es
Rückhalt für die Kapitalismusfeinde. Dass
Angepasste und Unangepasste in enger
Nachbarschaft leben, ist hier zu einer Ge-
wohnheit geworden, im Grunde sogar zu ei-
ner Mahnung dafür, dass Demokraten ein
friedliches Nebeneinander unterschiedli-
cher Weltbilder niemals gegen Denkverbo-
te eintauschen würden.
Hamburg ringt um ein Gleichgewicht
der Gegensätze. Dieser Kampf ist schwie-
rig, denn die Ansprüche an eine moderne
Großstadt sind hoch. Sie soll sauber sein, si-
cher, vielfältig, offen, modern, geschichts-
bewusst, geräumig, grün, günstig, innova-
tiv, wirtschaftlich erfolgreich. Das Schei-
tern gehört da sozusagen zur Natur der Auf-
gabe, deshalb gibt es immer noch Orte in

Hamburg, an denen das urbane Leben sei-
ne Fratze zeigt: Der Hansaplatz in St. Ge-
org ist trotz aller Bemühungen der Politik
ein Versammlungsort für Trinker und an-
dere leicht Entflammbare geblieben. Und
wer tagsüber mit Kindern die Reeperbahn
überquert, führt diese an Aussteigern und
Obdachlosen vorbei, die dort mit ihrer gan-
zen Not an den Häuserwänden lehnen.
Aber war es nicht schon schlimmer? Die
Reeperbahn ist nicht mehr der Austra-
gungsort blutiger Zuhälterbandenkriege
wie zu den verklärten Zeiten, als Rotlicht-
Größen mit Kampfnamen wie Schöner
Klaus oder Neger-Kalle im Kiez regierten.
Und St. Georg, einst Hotspot der offenen
Drogenszene, ist aufgeräumter und friedli-
cher, seit die Hamburger Jugendhilfe ihr
Projekt Drob Inn ausbauen durfte. Das
Drob Inn nahe dem Hauptbahnhof ist ein
Überlebenshilfezentrum für Suchtkranke.
Sie können dort Spritzen tauschen, du-
schen, sich beraten oder ärztlich untersu-
chen lassen. Touristen sollen dem Gebäu-
de nicht zu nahe kommen, heißt es, weil
manche Drogensüchtige unberechenbar
seien. Und doch trägt das Drob Inn zur
Schönheit Hamburgs bei. Es ist eine von
vielen Einrichtungen, die dafür sorgen,
dass die Probleme der Metropole nicht ein-
fach mit eisernen Besen vor die Stadttore
gekehrt, sondern mit Rücksicht auf alle Be-
teiligten gelöst werden.
Auf der Toilette der Ponybar fällt ein an-
geknibbelter Aufkleber auf. „NOlympia
Hamburg“, flüstert er. Auf einer anderen
Fliese steht, kräftiger: „Fuck G20.“ Die Be-
werbung für die Olympischen Spiele 2024
und der G-20-Gipfel – das sind in den ver-
gangenen fünf Jahren die anschaulichsten
Beispiele dafür gewesen, dass der hanseati-
sche Zeitgeist bisweilen in Selbstüber-
schätzung mündet. In Hamburg weiß man
eigentlich, wie man gut ist. Indem man
nämlich immer nur genau das tut, was
man wirklich tun kann. Die Hamburger Be-
scheidenheit ist ein Markenzeichen des
Standorts, sie steht für die Kunst, sich
großartig zu finden, ohne abzuheben.

Früher machte es sich die Hansestadt
oft zu bequem in dieser unaufgeregten
Selbstgewissheit. Dann wurde 2011 der
heutige Bundesfinanzminister Olaf Scholz
(SPD) Bürgermeister, brachte einen neuen
Zug in die Stadt – und sorgte dafür, dass
man im Eifer auch mal zu groß dachte. Bei
der Olympia-Bewerbung eben oder beim
G-20-Gipfel 2017. In der Spiele-Angelegen-
heit konnten Hamburgerinnen und Ham-
burger ihre Stadt noch per Volksentscheid
davor bewahren, im Hafen binnen sieben
Jahren Sportstadien bauen zu müssen, die
Hamburg noch nie hatte. Beim G-20-Gip-
fel ging das nicht. Den holte Scholz mit
Basta-Mentalität und tat dann so, als
werde das Hochsicherheitsereignis fast
unbemerkt an der Bevölkerung vorbei-
rauschen. Manche Hamburgerinnen und
Hamburger haben immer noch das Knat-
tern der Helikopter im Ohr, die damals ta-
gelang über der Stadt kreisten, erinnern
sich an die abgesperrte Innenstadt und die
Gewalt, derer die Polizei nicht Herr wurde.
Äußerlich ist so gut wie nichts zurückge-
blieben von den beiden Niederlagen. Aber
sie haben von den Projekten abgelenkt, bei
denen Hamburg wirklich etwas für die
Stadtentwicklung leistet. Wilhelmsburg
zum Beispiel, einst wegen seines hohen
Ausländeranteils als Hamburger Ghetto
verschrien, erlebt einen bemerkenswerten
Wandel, nachdem es 2013 die Internationa-

le Gartenschau und davor die Internationa-
le Bauausstellung beherbergte: Wenn man
heute über die Elbinsel spaziert, erlebt
man einen Ort mit nachhaltiger Architek-
tur, Sportpark und Heimstatt des gerade
erst aufgestiegenen Basketball-Bundesli-
gisten Hamburg Towers. Und es geht wei-
ter: Eine ganze Bundesstraße wird verlegt
für mehr Wohnraum und durchmischte
Nachbarschaften. Debatten und Gentrifi-
zierungsängste gibt es auch hier – aber
dass man Wilhelmsburg heute nicht mehr
so einfach als Hamburgs Schmuddelecke
bezeichnen kann, ist Tatsache.
Der Flakbunker am Heiligengeistfeld
ruht nackt und klobig neben dem Millern-
tor-Stadion. Hier soll gegen regen Anwoh-
nerprotest ein Garten aufs Dach. Am Spiel-
budenplatz, an dem Anfang 2014 die bau-

fälligen Esso-Häuser fielen, ist immer
noch nicht zu erkennen, dass nach einer
beispielhaften Bürgerbeteiligung etwas
Neues entsteht. Dafür nimmt der Umbau
des Kongresszentrums am Dammtor For-
men an und die Hafencity wächst – unter
anderem um ein umstrittenes Büro-Wohn-
Kreuzfahrtterminal-Einkaufszentrum im
Überseequartier. Hamburg will was aus
sich machen, aber jedes Projekt hat seine ei-
gene Geschwindigkeit und Diskussion –
und in gewisser Weise gehört auch das zur
Schönheit der Stadt. Der Kampf um das
richtige Maß der Veränderung lässt hier
kaum jemanden kalt.
Nach Neuwerk sollte man von Zeit zu
Zeit, wenn man seinen Frieden haben will
von der Enge der Stadt. Auch wenn es et-
was umständlich ist, dorthin zu kommen
mit Zug, Bus und Wattwagen; Neuwerk ge-
hört zum Bezirk Mitte, ist aber eine Insel in
der Elbmündung bei Cuxhaven, vermut-
lich der grünste und entlegenste Innen-
stadtbereich auf der Welt. Die Harburger
Berge sind näher, Elbufer und der Stadt-
park in Winterhude auch. Der Radweg aus
der City nach Entenwerder bietet Aussich-
ten, die es in südlicheren, hübsch renovier-
ten Ex-Residenzstädten nicht gibt. Die
Stadtteile Barmbek, Steilshoop oder Jen-
feld wiederum haben keine klassischen
Sehenswürdigkeiten – aber dafür echte
Hamburger, deren Wurzeln in der Türkei,
in Afrika oder sonstwo auf der Erde liegen
und die mit viel Liebe von ihrer Ham-
burger Scholle erzählen. Die dröhnende,
kunstlichtumwitterte Reeperbahn bei
Nacht ist der nächste Kontrast. Allerdings
kein so toller mehr, wie die kritischen
Kenner des Kiezes sagen, weil vor lauter
Tourismus, Kioskwirtschaft und Kom-
merz allmählich das Herz der schrägen Rot-
lichtwelt verloren gehe. Wieder so ein Ham-
burger Endlosthema: Kann man heute
rund um die Amüsiermeile nicht mehr so
abgedreht und anders sein wie früher?
Hamburg lässt sich keine Ruhe. Wirt-
schaft und Politik eilen dem Fortschritt
nach, Anrainer kämpfen um jeden Baum,
wenn sie glauben, dass es sein muss. Und
aus vielen Ecken brüllt still der feste Glau-
be des linken Milieus an eine bessere Welt
ohne Sexismus, Ausländerfeindlichkeit,
Umweltfrevel und Massentierhaltung.
Aber am Ende aller Hamburg-Spazier-
gänge hat man das Gefühl, dass die meis-
ten Menschen froh sind, hier zu leben, egal
ob sie links oder rechts, Mainstream oder
anders sind. Ab und zu müssen sie vom Al-
tonaer Balkon auf die Schiffe im Hafen
schauen oder rüber zur Spitze des Michel,
um sich zu vergewissern dass die ganze
ruppige Herrlichkeit Hamburgs noch am
Platz ist. Dann geht es ihnen gut. Dann spü-
ren sie dieses Heimatgefühl, das nur eine
Stadt auslösen kann, die mit all ihren Brü-
chen eine echte Schönheit ist.

Nach Neuwerk sollte man,
wennman seinen Frieden haben
will vom Rummel der Stadt

In ruppiger


Herrlichkeit


Die Hamburger ringen darum,


wie sich ihre Stadt verändern soll.


Manchmal mit Erfolg


20 SZ SPEZIAL – HAMBURG ERLEBEN Donnerstag, 12. September 2019, Nr. 211 DEFGH


Hamburg erleben
Verantwortlich: Peter Fahrenholz
Redaktion: Monika Maier-Albang
Gestaltung: Alper Özer, Julia Kienscherf
Anzeigen: Jürgen Maukner

Im Gleichgewicht der Gegensätze? Hamburg hat alles:
Schäfchenwiesen, Strand und Tanz, Gipfel-Antipathie und ein gut
vermarktetes Rotlichtviertel.FOTOS: THOMAS HAHN (2), IMAGO, DPA (2)

Hamburg verschont
einen nicht mit
Eindrücken:
Autonome, Abend-
stimmung am Hansa-
platz, Kutschen auf
Neuwerk, die Pony-
bar und der Flak-
bunker am Heilig-
geistfeld.
FOTOS: DPA (2), KARL
SCHÖFMANN, IMAGO,
PONYBAR (2)

Unser Autor war
fünf Jahre lang
Korrespondent der
Süddeutschen
Zeitung in
Hamburg. Jetzt
berichtet er aus
Japan und Süd-
korea. Er denkt oft
zurück, weil man
die Atmosphäre
Hamburgs in
Tokio vergeblich
sucht.

WER GUTE


M USIK LIEBT,


HAT JETZT


GUTE


KARTEN!


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