Frankfurter Allgemeine Zeitung - 12.09.2019

(Michael S) #1

SEITE 4·DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019·NR. 212 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Herr Hadi, die humanitäre Lage in der


Provinz Idlib in Nordwestsyrien ist dra-


matisch. Laut den jüngsten Zahlen des


Welternährungsprogramms WFP wur-


den fast 150 000 Menschen allein im Au-


gust vertrieben. Mehr als 900 000 Men-


schen mussten mit Lebensmittelhilfen


versorgt werden.


Diese 150 000 Menschen, von denen


Sie sprechen, kommen noch zu den Millio-


nen von Menschen die wir seit sieben,


acht Jahren versorgen. Neben den etwa


vier Millionen Binnenvertriebenen unter-


stützen wir auch Flüchtlinge in den Nach-


barländern. Und es gibt in diesen Tagen


noch weitere, manchmal schwerwiegen-


dere humanitäre Krisen, so dass es zusätz-


lich eine große Herausforderung ist, genü-


gend Mittel einzuwerben, um die Bedürf-


nisse in Syrien abzudecken.


In Idlib sprechen Funktionäre der örtli-


chen Selbstverwaltung von einer „Politik


der verbrannten Erde“, die das Regime


bei seiner Rückeroberungskampagne be-


treibe. Es gibt Bilder brennender Felder.


Wie stark verschärft das die Lage?


Es ist beklagens-


wert, dass es in Kriegs-


situationen zu so et-


was kommt. Krieg ist


das Hässlichste, was es


gibt. Wir haben es in


Syrien und anderswo


erlebt, dass Menschen


ihrer Lebensgrundla-


ge beraubt und vertrie-


ben werden. Seit dem Anfang des Krieges


haben wir auf den Schutz der Bevölkerung


gedrungen, und wir hoffen, dass der Kon-


flikt sehr bald endet.


Im Juni wurde ein Bericht der Men-


schenrechtsorganisation Human Rights


Watch veröffentlicht, der gezeigt hat,


wie das Regime humanitäre Hilfe für sei-


ne Zwecke instrumentalisiert und politi-


siert. Ist das für Sie eine besorgniserre-


gende Angelegenheit?


Wir machen keine Kompromisse, was


die humanitären Prinzipien angeht, also


unsere Neutralität, unsere Integrität und


unsere Verpflichtung, den Menschen zu


helfen. Wir haben immer wieder in Kon-


flikten Probleme mit örtlichen Autoritä-


ten – überall auf der Welt. Wir sind in Sy-


rien wie an vielen Orten da, um sicherzu-


stellen, dass die Leute, die Nahrung brau-


chen, Nahrung bekommen. Wir konzen-


trieren uns nur darauf.


Nur ist – wie wir gesehen haben – das syri-


sche Regime nicht gerade eine Regierung


wie überall auf der Welt. Sondern eine,


die Hunger gezielt als Waffe einsetzt.


Das Regime ist – gelinde gesagt – ein be-


sonderer Partner.


Ich glaube, dass jeder Partner, mit dem


wir arbeiten, auf seine Art ein besonderer


Partner ist. Ja, wir hatten in Syrien Heraus-


forderungen zu bewältigen. Mit allen Par-


teien, um ehrlich zu sein. Mit manchen Par-


teien mehr als mit anderen. Und es ist un-


sere Aufgabe, mit diesen Parteien zu arbei-


ten, um unsere Aufgabe zu erfüllen. Nie-


mand hat erwartet, dass es eine leichte


Aufgabe wird. In allen Kriegsgebieten ist


unsere Arbeit schwierig.


Sind Sie in Syrien in den vom Regime


kontrollierten Gegenden in der Lage, je-


den Ort zu jedem Zeitpunkt zu erreichen?


Oder gibt es noch immer – wie in der Ver-


gangenheit im Fall vom Regime belager-


ter Gegenden – Orte, zu denen Ihnen die


Regierung keinen Zugang gewährt?


Mehr als eine Million Menschen sind in


Gegenden, die schwierig zu erreichen


sind. Wir arbeiten gemeinsam mit der Re-


gierung daran. Es gab Verzögerungen,


aber die haben uns nicht davon abgehal-


ten, es immer wieder zu versuchen. Wir


werden niemals aufgeben, die Leute zu er-


reichen – wo immer sie sind. Ob wir wie


früher Nahrung aus Flugzeugen abwerfen


oder Konvois schicken, wir geben nie auf.


Sie sind auch für den Jemen zuständig.


Wie dramatisch ist die Lage dort?


Das WFP wird im Jemen sehr bald


zwölf Millionen Menschen mit Nahrung


versorgen müssen. Das sind mehr Men-


schen als die Bevölkerung von Jordanien.


Von 30 Millionen Jemeniten sind 20 Mil-


lionen von Hunger bedroht. Und wir arbei-


ten in einer Kriegssituation mit nicht funk-


tionierenden staatlichen Institutionen.


Die Fragen stellteChristoph Ehrhardt.


Frankfurter Zeitung


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Sigmar Gabriel 60


Als Sigmar Gabriel 2009 Vorsitzender


der SPD wurde, beschrieb er die Lage


der Partei als „katastrophal“ und forder-


te umfassende Erneuerung. Seither hat


sich die Situation verschlechtert. Ga-


briel wurde von vielen gemocht und ver-


ehrt. Andere trieb er regelmäßig zur


Weißglut und auch im Verglimmen sei-


ner politischen Laufbahn sind seine Rat-


schläge und Auftritte für manche Er-


munterung, für andere eine Pein. Ga-


briel wurde in Goslar geboren und


wuchs gegen seinen Willen zunächst


beim Vater auf. Über Umwege und nach


einer Dienstzeit bei der Bundeswehr stu-


dierte er Germanistik, Politik und Sozio-


logie und wurde Lehrer von Beruf. Da


war die SPD ihm schon zu einer Heimat


geworden. In Hannover lernte Gabriel


die Finessen der Politik kennen und


machte dank seinem Talent Karriere,


bis hin zum Amt des niedersächsischen


Ministerpräsidenten. Nach seiner Wahl-


niederlage gegen Christian Wulff ging


Gabriel bald nach Berlin und wurde


Umweltminister im ersten Kabinett


Merkel. In einer Mischung aus Angriffs-


lust, brennendem Ehrgeiz und dann


doch Zaudern ließ er zwei Gelegenhei-


ten passieren, selbst als Kanzlerkandi-


dat anzutreten. Zuletzt gab er 2017 Mar-


tin Schulz den Vortritt, auch als Partei-


chef. Er selbst wurde Außenminister,


eine Position, die ihn begeisterte, die er


aber nur kurz ausüben durfte. Denn


nun war mit Andrea Nahles eine Vorsit-


zende im Amt, die mit der Faust, die sie


zuvor oft in der Tasche geballt hatte,


auf den Tisch hauen konnte. Gabriel


lebt seine außenpolitische Leidenschaft


jetzt als Vorsitzender der „Atlantik-Brü-


cke“ aus und schreibt für Zeitungen. An


diesem Donnerstag feiert er seinen 60.


Geburtstag. (pca.)


Jusuf Habibie gestorben


Der frühere indonesische Präsident und


Träger des Bundesverdienstkreuzes war


ein enger Freund Deutschlands. Seine


Verbindungen zur Bundesrepublik


reichten bis in die fünfziger Jahre zu-


rück. An der Technischen Hochschule


in Aachen ließ sich Bacharuddin Jusuf


Habibie damals zum Ingenieur ausbil-


den. Danach arbeitete er im Kernfor-


schungszentrum Jülich und machte bei


MBB in Hamburg Karriere, wo er maß-


geblich am Bau des Airbus beteiligt


war. Der fließend Deutsch sprechende


Indonesier erregte die Aufmerksamkeit


des damaligen Präsi-


denten Suharto, der


ihn in den siebziger


Jahren nach Indone-


sien zurückholte.


Sein Traum, eine in-


donesische Flugzeug-


industrie aufzubau-


en, ist zwar nie rich-


tig in Erfüllung ge-


gangen. Aber als Mi-


nister für Forschung


und Technologie dirigierte er riesige


Staatsbetriebe. Er wurde zu einem der


einflussreichsten Politiker und schließ-


lich zum Vizepräsident seines Landes.


Zum Mann des Übergangs entwickelte


er sich, als er durch den mit Protesten er-


zwungenen Rücktritt des Diktators Su-


harto plötzlich zum Staatsoberhaupt


aufstieg. Er übernahm die Aufgabe, In-


donesien auf den Weg der Demokratie


zu führen. Deutschland blieb er stets


verbunden, nicht nur als Freund frühe-


rer Bundeskanzler, sondern auch als


wiederkehrender Besucher und Bewoh-


ner des Örtchens Ahlerstedt-Kakerbeck


bei Stade. Habibie ist am Mittwoch im


Alter von 83 Jahren in einem Kranken-


haus in Jakarta gestorben. (fäh.)


Im Gespräch: Muhannad Hadi, Direktor des WFP für den Mittleren Osten, Nordafrika, Zentralasien und Osteuropa


Foto Unifeed


Foto Reuters


„Krieg ist das Hässlichste, was es gibt“


rüb.ROM, 11. September. Der italieni-


sche Ministerpräsident Giuseppe Con-


te hat am Mittwoch bei seinem ersten


Besuch in Brüssel seit dem Regierungs-


wechsel in Rom die Forderungen der


neuen italienischen Linkskoalition be-


kräftigt. Italien erwartet eine Locke-


rung der EU-Vorgaben zur Haushalts-


und Schuldendisziplin in der Eurozone


sowie einen Abschied von den soge-


nannten Dublin-Regeln, wonach für


Asylverfahren jener EU-Staat zustän-


dig ist, in dem ein Migrant zum ersten


Mal europäischen Boden betritt.


Conte äußerte sich nach seinen Ge-


sprächen mit der nächsten EU-Kommis-


sionspräsidentin Ursula von der Leyen


und dem scheidenden EU-Ratspräsi-


denten Donald Tusk zuversichtlich,


dass die EU Italien „starke Unterstüt-


zung“ leisten werde, um in eine digitale


und grüne Wirtschaft zu investieren.


„Unser Ziel ist es, die Schulden zu redu-


zieren“, sagte Conte, „und wir wollen


dies durch Wirtschaftswachstum errei-


chen.“ In seinen Regierungserklärun-


gen vor beiden Parlamentskammern


hatte Conte am Montag und Dienstag


eine Änderung der Regeln des Stabili-


täts- und Wachstumspaktes der Eurozo-


ne gefordert. Die neue Regierung in


Rom will mit zusätzlichen schuldenfi-


nanzierten Investitionen die stagnieren-


de Wirtschaft in Schwung bringen. Mit


der Ernennung des ehemaligen Minis-


terpräsidenten Paolo Gentiloni vom so-


zialdemokratischen Partito Democrati-


co (PD) zum EU-Wirtschaftskommis-


sar hofft die neue Koalition der linkspo-


pulistischen Fünf Sterne und des PD


dieses Ziel in Brüssel leichter erreichen


zu können. Außerdem rechnet Rom


mit dem Wohlwollen der EU-Kommis-


sion, weil Brüssel und die neue italieni-


sche Koalition in Rom mit vereinten


Kräften die Rückkehr der rechtsnatio-


nalistischen Lega des früheren Innen-


ministers Matteo Salvini an die Macht


verhindern wollen.


Conte bestand in Brüssel außerdem


auf einer Überarbeitung der Dublin-Re-


geln. Ungeachtet des Regierungswech-


sels in Rom halten die italienischen Be-


hörden bisher an der von Salvini durch-


gesetzten Hafen- und Gewässersper-


rung für private Rettungsschiffe im Mit-


telmeer fest. Rom schlägt unter ande-


rem die Einrichtung humanitärer Korri-


dore seitens der EU vor. Dadurch sollen


Flüchtlinge und Vertriebene aus afrika-


nischen Staaten sicher nach Europa aus-


geflogen werden, statt von Schleppern


auf den gefährlichen Seeweg über das


Mittelmeer geschickt zu werden. Bis


zur Einigung auf einen neuen Aufnah-


me- und Verteilmechanismus in der EU


soll nach dem Willen Contes ein „Über-


gangsmechanismus“ zur Verteilung von


Bootsflüchtlingen im Mittelmeer grei-


fen. Vertreter Deutschlands, Frank-


reichs, Italiens, Maltas und Finnlands


wollen am 23. September in Valletta


über einen solchen Mechanismus bera-


ten. Conte forderte in Brüssel, dass EU-


Staaten, die die Übergangsmaßnahmen


und später den dauerhaften Verteil-


schlüssel ablehnen sollten, mit dem Ent-


zug von EU-Fördermitteln bestraft wer-


den müssten.


KIEL ,11. September. Es ist nicht so,


dass man in Schleswig-Holstein vor lau-


ter Bäumen den Wald nicht sieht. Es


fehlt vielmehr an Wald. Nur elf Prozent


der Landesfläche sind bewaldet, das ist


der geringste Anteil aller Flächenlän-


der. Neu ist das nicht. Aber in Zeiten, da


viel von der Klimapolitik und den Wäl-


dern die Rede ist, von großer Not und


großen Zielen, hat die CDU-Fraktion im


Norden zum Waldgipfel geladen. Sie


will Bäume pflanzen – etwa 75 Millio-


nen sollen es sein. Aber so einfach ist


das nicht. Denn es gilt nicht nur zu klä-


ren, welche Bäume es sein sollen und


wer sie bezahlt – sondern: wo sie hinsol-


len. Und da dürfte es mit dem grünen


Koalitionspartner schnell heikel wer-


den.


Schon alt ist das Ziel im Norden, die


Waldfläche auf zwölf Prozent zu erhö-


hen. Auch im Koalitionsvertrag von


CDU, Grünen und FDP steht es. Die


Forstpolitik solle „Nachhaltigkeit akzen-


tuieren“, insbesondere die Interessen


des Klimaschutzes, der Biodiversität,


der Klimaanpassung und des Natur-


schutzes in Ausgleich bringen. Das


macht es nicht gerade leicht, Flächen für


neue Bäume zu finden – ganz abgesehen


davon, dass auch noch Flächen für neue


Windräder gesucht werden. Auf das


Zwölf-Prozent-Ziel berief sich Tobias


Koch, der Fraktionsvorsitzende der


CDU, als er zu dem Gipfel in den Land-


tag einlud. Er wolle eine „konzertierte


Aktion“ von Land, Kommunen, Waldbe-


sitzern, Verbänden und Stiftungen initi-


ieren, damit das Ziel in den nächsten


zehn Jahren erreicht werde. Zur Be-


kämpfung des Klimawandels bedürfe es


konkreter Maßnahmen und keiner Sym-


bolpolitik. Beim Koalitionspartner von


den Grünen hielt sich die Begeisterung


in Grenzen. Sie waren nicht vorab infor-


miert worden und stellen doch den zu-


ständigen Minister für Umwelt und


Landwirtschaft, Jan Philipp Albrecht.


Die Opposition nahm das für ihre Kritik


gerne auf: Anscheinend traue die CDU


es dem Minister nicht zu, für Wald und


Klima geeignete Maßnahmen zu ergrei-


fen, sagte die umweltpolitische Spreche-


rin der SPD-Fraktion, Sandra Redmann.


Wie schwierig es ist, mehr als nur


Symbolpolitik zu machen, dürften der


CDU schon die Reaktionen der Verbän-


de und Stiftungen gezeigt haben, die vor


dem Gipfel klargemacht hatten, was al-


les nicht geht. So beklagte sich der Natur-


schutzbund, man könne nicht von vorn-


herein Ackerflächen für die Schaffung


neuer Wälder ausschließen und dafür


Grünlandflächen, etwa Weiden, in den


Blick nehmen. Und der Bauernverband


warnte davor, Ackerflächen im großen


Stil aufzuforsten. Am Mittwoch saßen


dann alle zusammen im Casino des


Landtages, um darüber zu diskutieren.


Auch das Umweltministerium hatte ei-


nen Vertreter geschickt.


So viel gab es jedenfalls zu diskutie-


ren, dass der dritte Tagesordnungspunkt


kaum zur Sprache kam: welche Bäume


und Waldarten man denn wolle. Statt-


dessen ging es um die Finanzierung der


Aufforstung, wo man auf privates Geld


setzt, aber auch auf Berlin. Da hat Bun-


deslandwirtschaftsministerin Julia


Klöckner (CDU) für Ende September zu


einem Waldgipfel geladen, und auch


wenn es dabei um die Wiederauffors-


tung geschundener Wälder gehen soll,


setzt Koch darauf, dass auch für die Neu-


aufforstung etwas abfallen könnte. Zum


anderen ging es um die Flächen. Bis zu


15 000 Hektar braucht es, Koch sprach


von einem sehr ambitionierten Ziel.


„Wir dürfen nichts von vornherein aus-


schließen.“


Wohin also mit den Bäumen? Die Ide-


en reichen von Alleen über die Auffors-


tung alter Industrieflächen bis hin zu


Randstreifen an Gewässern oder land-


wirtschaftlichen Flächen, die schwer zu


bewirtschaften sind. Ob das ausreicht,


ist fraglich. Die Grünen bleiben skep-


tisch. Grundsätzlich sei es zu begrüßen,


dass mehr Bäume gepflanzt würden, äu-


ßerte die umweltpolitische Sprecherin


der Grünen-Fraktion, Marlies Fritzen.


Es sei jedoch grotesk zu glauben, man


müsse nur ein paar Bäume pflanzen,


und dann sei man das Problem mit dem


Klimawandel los. Umweltminister Al-


brecht äußerte: „Ein Gipfel genügt, wie


erwartet, nicht, um den Wald zu retten.“


Es sei aber ein gutes Format, um alle Be-


teiligten an einen Tisch zu bringen. Man


brauche einen offenen Findungsprozess,


auf welchen Flächen aufgeforstet wer-


den könne. „Hierfür ist vorrangig auch


die Bereitschaft von Grundbesitzern,


Flächen zur Verfügung zu stellen, ent-


scheidend.“ Die CDU will jetzt erst ein-


mal eine Karte anlegen lassen, welche


Flächen es genau gibt und welche in Fra-


ge kommen. Dann will man sich wieder


treffen. Entscheidend sei, sagte Koch,


was am Ende dabei herauskomme.


SÃO PAULO,11. September


W


ashington ist zufrieden mit Me-


xiko. Dank der „bedeutenden


und beispiellosen Schritte“ – so


der amerikanische Vizepräsident Mike


Pence – der mexikanischen Regierung ist


es gelungen, die illegale Einwanderung


in die Vereinigten Staaten in den vergan-


genen drei Monaten massiv einzudäm-


men. Die Zahl der Migranten, die beim


Grenzübertritt von Mexiko in das nördli-


che Nachbarland festgenommen wurden,


ist von gut 140 000 im Mai auf rund


64 000 im August gesunken.


Zufrieden ist die Regierung in Washing-


ton auch mit sich selbst. Denn der Rück-


gang ist das Resultat einer im Juni getrof-


fenen Vereinbarung zwischen den beiden


Nachbarländern. Präsident Donald


Trump hatte Mexiko zuvor mit Strafzöl-


len auf alle mexikanischen Importe ge-


droht, sollte die dortige Regierung von


Präsident Andrés Manuel López Obrador


ihre Anstrengungen gegen die Migration


aus Zentralamerika nicht verstärken und


dabei Erfolge erzielen. Mexiko setzte dar-


aufhin seine Nationalgarde zum Schutz


der Grenzen ein.


Am Dienstag trafen sich Regierungsver-


treter beider Länder in Washington, um


nach dem Ablauf einer 90-tägigen Frist Bi-


lanz zu ziehen. Von amerikanischer Seite


hieß es dabei, dass trotz der Fortschritte


noch mehr Arbeit nötig sei. Damit dürfte


vor allem das Begehren Washingtons ge-


meint sein, Mexiko zu einem sicheren


Drittstaat zu erklären. Dies hätte zur Fol-


ge, dass durch Mexiko gereiste Migranten


ihre Asylgesuche nicht mehr in den Verei-


nigten Staaten stellen könnten, sondern


dies in Mexiko tun müssten. Mexikos Au-


ßenminister Marcelo Ebrard hält davon


nichts. Man erwäge kurzfristig keine wei-


teren Maßnahmen, sagte er.


Es ist auch fraglich, ob Mexiko über-


haupt die Kapazitäten hat, weitere Migran-


ten aufzunehmen. Schon jetzt schicken


die Vereinigten Staaten im Rahmen der


Vereinbarung nichtmexikanische Migran-


ten nach Mexiko zurück, die dort auf die


Bearbeitung ihrer Asylgesuche und Auf-


enthaltsgenehmigungen warten. Bisher


hatten Asylbewerber – insbesondere Fami-


lien – in den Vereinigten Staaten damit


rechnen können, während ihrer Wartezeit


relativ rasch freigelassen zu werden. Das


gab ihnen die Möglichkeit, Schwarzarbeit


zu suchen und gegebenenfalls unterzutau-


chen. Seit die neue Regelung angewendet


wird, hat die mexikanische Nordgrenze


sich zu einem gigantischen Warteraum


entwickelt. Viele der Migranten geben frei-


lich irgendwann auf und kehren freiwillig


in ihre Heimatländer zurück. Die Rückfüh-


rungen werden von der Internationalen


Organisation für Migration (IOM) organi-


siert und vom amerikanischen Außen-


ministerium finanziert.


Weiterhin gelangen Migranten aus Zen-


tralamerika nach Mexiko und an die ame-


rikanische Grenze. Die Zahl ist aller-


dings zurückgegangen, seit Mexiko die


Überwachung seiner südlichen Grenze


zu Guatemala mit Tausenden Soldaten


der Nationalgarde verstärkt hat. Noch nie


hat Mexiko so viele Migranten aus Zen-


tralamerika abgeschoben wie in den ver-


gangenen Monaten. In den Auffangzen-


tren für Migranten in Südmexiko herr-


schen prekäre Zustände. Dort sammeln


sich nicht nur Zentralamerikaner, son-


dern auch Migranten aus Kuba, Haiti,


Afrika und anderen Regionen.


Doch die Statistik stimmt – Trumps Tak-


tik ist aufgegangen. Durch die Erfolge be-


stärkt, dringt Washington nun auch auf


eine engere Zusammenarbeit mit den Re-


gierungen der zentralamerikanischen Län-


der. Mit Guatemala und offenbar auch mit


Honduras sollen Gespräche laufen, die


darauf abzielen, die Länder ebenfalls zu si-


cheren Drittstaaten zu erklären. Men-


schenrechtsorganisationen und auch die


IOM halten die Idee für absurd, da die Si-


cherheitslage in diesen Ländern ein


Grund der anhaltenden Migration sei.


Auch Mexiko fühlt sich durch die erfolg-


reiche Eindämmung der Migration in ei-


ner gestärkten Position. Die Regierung


von Präsident López Obrador sieht sich


nicht zu weiteren Maßnahmen verpflich-


tet und stellt nun gar selbst Forderungen


an die Adresse Washingtons. So brachte


Mexiko den Vorschlag ein, den Schmug-


gel von Waffen aus den Vereinigten Staa-


ten nach Mexiko zu unterbinden. Laut der


amerikanischen Organisation Center for


American Progress gelangen jährlich


mehr als 200 000 Feuerwaffen illegal über


die Grenze – und dort vorwiegend in die


Hände des organisierten Verbrechens.


Die mexikanische Regierung sieht den


Waffenhandel als eine der Ursachen für


die Gewalt in Mexiko.


Muhannad Hadi


Wo sollen all die


Bäume hin?


Die Kieler CDU lädt zum Gipfel / Von Matthias Wyssuwa


Personalien


JusufHabibie


Conte will Ende


der Dublin-Regeln


Mexiko wird zur Wartehalle


Für die Herstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird ausschließlich Recycling-Papier verwendet.


DonaldTrumps Druck auf


den südlichen Nachbarn hat


Wirkung gezeigt. Die Zahl der


illegalen Grenzübertritte ist


stark zurückgegangen. Aber


Washington will noch mehr.


Von Tjerk Brühwiller


Hier kommt keiner raus:Mexikanische Nationalgardisten bewachen die Nordgrenze nahe Ciudad Juárez. Foto Reuters

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