in dem Papier auf »existierende adminis-
trative Techniken« verwiesen.
Kurzum: Es handelt sich um einen bü-
rokratischen Albtraum, der für kleinere
Betriebe kaum zu bewältigen oder zu be-
zahlen wäre, weiten Raum für Missbrauch
ließe, praktisch unkontrollierbar wäre und
allen gegenteiligen Beteuerungen zum
Trotz physische Kontrollen in der Grenz-
region zur Regel machen würde.
Sogar die Autoren der Studie räumen
ein, dass ihr Lösungsvorschlag alles andere
als sofort umsetzbar sei. Allein für das Sys-
tem der »vertrauenswürdigen Händler«
rechnen sie mit einer Einführungszeit von
12 bis 15 Monaten, andere Mechanismen,
so heißt es lapidar, »könnten länger dau-
ern«. Alles in allem sollte das vielschichti-
ge Programm »innerhalb von zwei bis drei
Jahren voll einsatzbereit sein«. Dumm nur:
Bis Halloween bleiben nicht mal mehr
zwei Monate.
Was also will Johnson? Will er wirklich
mit der EU verhandeln? Oder nur so tun,
als ob? Und dabei zusehen, wie die digitale
Brexit-Uhr, die er sich auf seinen Kamin-
sims in Downing Street hat setzen lassen,
unwiderruflich abläuft?
Einen Hinweis auf Johnsons wahre
Motive lieferte diese Woche eine aufsehen-
erregende Geschichte, die ausgerechnet
von seiner Haus-und-Hof-Postille »Daily
Telegraph« verbreitet wurde. Demnach
soll Johnsons Chefberater Dominic Cum-
mings – Mastermind der erfolgreichen Bre-
xit-Kampagne 2016 – intern verraten ha-
ben, die Verhandlungen mit der EU seien
ein »reines Täuschungsmanöver«. Eine
Aussage, die Cummings im Gespräch
mit dem SPIEGELals »hundertprozentig
falsch« zurückwies.
Allerdings haben er und sein Chef die
Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem
Brexit schon derart oft zum Narren gehal-
ten, dass wenige ihnen glauben würden,
auch wenn sie in diesem Fall die Wahrheit
sprächen.
Die Aussicht auf einen No-Deal-Brexit
scheint den Zocker in 10 Downing Street
nicht zu schrecken, im Gegenteil. Johnsons
eigener Beamtenapparat, die Opposition,
die Bank of England, der Verband der bri-
tischen Industrie und etliche weitere Or-
ganisationen sagen Lebensmittelengpässe,
Grenzchaos, zivile Unruhen, Milliarden-
verluste und eine mögliche Rezession vo-
raus. Aber der Regierungschef und seine
Regierung sind für Warnungen praktisch
nicht mehr erreichbar. »Spielend« werde
man mit einem No Deal fertigwerden, ora-
kelt Johnson, der die ersten Wochen nach
einem vertraglosen Bruch am liebsten mit
einer Fahrt über Schlaglöcher vergleicht –
ein bisschen holprig vielleicht, aber nicht
dazu angetan, ihn vom großen Ziel abzu-
bringen.
Wie konsequent das neue Kabinett die
Realitätsverweigerung zum Regierungspro-
gramm erhoben hat, machte diese Woche
einmal mehr Jacob Rees-Mogg deutlich. In
seine wöchentliche Talk-Radiosendung
»Ring Rees-Mogg« wählte sich der Neuro-
loge David Nicholl ein. Der hatte an den
No-Deal-Notfallplänen der Regierung,
Code name »Yellowhammer«, mitgearbeitet.
Im Fall eines vertraglosen Bruchs mit
der EU drohten massive Engpässe bei le-
bensnotwendigen Medikamenten, so Ni-
choll. Er fragte den Minister, wie viele Tote
er da für akzeptabel halte. »Es überrascht
mich, dass ein Doktor in Ihrer Position
sich an derartiger Angstmache beteiligt«,
antwortete Rees-Mogg. Daraufhin Nicholl:
»Darf ich Sie daran erinnern, dass ich die
Notfallpläne geschrieben habe?« Worauf
Rees-Mogg schnippisch befand: »Nun, es
waren offenbar keine guten Pläne« – er
sei froh, dass dies nun »von anderen Leu-
ten« erledigt werde.
Diese Mischung aus Herablassung und
gespielter Sorglosigkeit versetzte zuletzt
immer mehr Parlamentarier, darunter vie-
le Tories, in helle Panik. Um vor der ge-
planten Schließung des Parlaments das
Schlimmste zu verhindern, entschloss sich
eine informelle Koalition daher zu einem
ungewöhnlichen Schritt: Am Dienstag ent-
rissen sie dem frischgebackenen Regie-
rungschef die Hoheit über Gesetzgebungs-
verfahren, um einen vertraglosen EU-Aus-
tritt am 31. Oktober praktisch zu verbieten.
»Nicht der beste Start für dich, Boris,
was?«, rief im Überschwang einer der Ab-
geordneten.
Tatsächlich gerät Johnson durch die Of-
fensive des Parlaments massiv in die Bre-
douille. Immer und immer wieder hatte er
zuletzt betont, dass er die EU »unter kei-
nen Umständen« um eine Verlängerung
bitten werde und dass sein Land an Hallo-
ween unabhängig sein werde, »komme,
was wolle«. Den Rebellen in den eigenen
Reihen drohte er mit sofortigem Fraktions-
ausschluss, sollten sie gemeinsame Sache
mit der Opposition machen.
21 Konservative ließen sich davon nicht
beirren und bereiteten ihrem Chef gleich
im ersten Anlauf eine schmerzliche Nie-
derlage. Kurz darauf ließ Johnson die 21
vor die Tür setzen. Churchill-Enkel Soames
sprach von einem »Kriegsschicksal«.
Kampflos würde sich Johnson nicht fü-
gen, das war allen klar. Schon tags darauf
warf er im Unterhaus einen Köder aus,
von dem er hoffte, dass Jeremy Corbyn,
Chef der oppositionellen Labour-Partei,
ihn sofort schlucken würde: Er biete hier-
mit, so Johnson, Neuwahlen für den
- Oktober an und hoffe auf die nötige
Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten.
Tatsächlich ruft Corbyn seit drei Jahren
bei jeder sich bietenden Gelegenheit
nach Neuwahlen. Diesmal jedoch wider-
stand er.
Denn nach einem Neuwahlbeschluss
hätte sich das Parlament praktisch sofort
aufgelöst. Und auch die Abgeordneten wis-
sen sehr genau um Johnsons eher lockeres
Verhältnis zur Wahrheit. Ihr Verdacht:
Wäre das Parlament erst einmal aufgelöst,
könnte der Regierungschef den Neuwahl-
termin unter vorgeschobenen Gründen
doch noch auf einen Tag nach dem 31. Ok-
tober legen und als glorreicher Mr. Brexit
Titel
14 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
HENRY NICHOLLS / REUTERS
Abgeordnete May: Eine Ein-Stimmen-Mehrheit hinterlassen
Das neue Kabinett hat
die Realitätsverwei -
gerung zum Regierungs-
programm erhoben.