Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1
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 Es ist leicht, Mitleid mit Jeremy Corbyn
zu empfinden, man muss sich nur die ver-
gangene Debatte zwischen ihm und Boris
Johnson im Unterhaus anschauen. Gegen
die sarkastischen Spitzen des Premiers
wirkt der 70-jährige Corbyn wie ein hilf -
loser Lehrer, der die Witze aus der letzten
Reihe über sich ergehen lässt. Als ihn


Johnson am Mittwoch bei der General -
debatte ein »Chlorhühnchen« nannte,
blickte Corbyn schlecht gelaunt gerade-
aus, ohne eine Miene zu verziehen.
Ausgelacht zu werden ist das Lebens-
thema von Jeremy Corbyn, dem Labour-
Vorsitzenden. Es wird ihn und seine
Partei auch jetzt wieder beschäftigen,
wenn es um die Frage geht, ob er eine
mögliche Parlamentswahl gewinnen kann.
Die Partei ist, wie bei so vielen Themen,
auch in der Corbyn-Frage tief gespalten.
Manche Labour-Mitglieder sagen, Corbyn
wäre nach drei Tory-Premierministern
genau der richtige Mann für das Amt.
Andere lachen nur über die Vorstellung,
dass er das Land regieren könnte. Promi-
nente Labour-Abgeordnete bedrängten
ihn zuletzt, er solle sich bitte nicht auf
vorgezogene Neuwahlen einlassen. Sie
fürchteten, mit Corbyn an der Spitze


würden sie gegen Johnson krachend
verlieren.
Nach einer Erhebung der Nachrichten-
seite Politico.eu wünscht sich eine Mehr-
heit der Befragten einen No-Deal-Brexit
eher als einen Premierminister Corbyn.
Demoskopen melden seit Monaten einen
Rückgang in der Beliebtheit des Labour-

Chefs. Eine YouGov-Umfrage Anfang
September sah die Konservativen bei
35 Prozent, Labour bei 25 Prozent.
Dazu kommt der Vorwurf, Corbyn tole-
riere Antisemitismus in seiner Partei, was
die Sache nicht einfacher macht. In urba-
nen Labour-Kreisen gilt der Parteichef,
der in seiner Freizeit gern historische
Kanaldeckel fotografiert und Marmelade
einweckt, als schwer vermittelbar.
Corbyn ist ein Freund haarsträubender
Vorschläge. Er verlangte den Austritt
Großbritanniens aus der Nato, wollte
geschlossene Kohlebergwerke wieder öff-
nen und große Teile der Infrastruktur
verstaatlichen. Er nannte die Terrororga-
nisationen Hamas und Hisbollah seine
»Freunde«, umgab sich in den Achtzigern
mit früheren IRA-Mitgliedern und
bezeichnete die Exekutierung Osama
Bin Ladens als »Tragödie«.

Und doch hat er erstaunliche Erfolge
vorzuweisen. Vor vier Jahren wurde er ins
Amt gewählt, seitdem traten mehr als
300 000 neue Mitglieder in die Partei ein,
darunter viele Aktivisten vom linken Rand.
Sie schätzen Corbyns unverstellte, authen-
tische Art, mit der er seit Jahrzehnten die
immer gleichen Reden hält. Viele Labour-
Mitglieder sehen in ihm den bescheidenen
Gegenentwurf zur Politelite, die in Eton
zur Schule ging und in Oxford studiert hat.
Niemand weiß mit Sicherheit, was er
über den Ausstieg aus der EU denkt.
Er macht kein Geheimnis daraus, dass er
dem europäischen Projekt skeptisch
gegenübersteht; 1975 stimmte er im ersten
Referendum gegen den Verbleib Großbri-
tanniens in der Europäischen Wirtschafts-
gemeinschaft. Später wetterte er gegen die
Verträge von Lissabon und Maastricht
und hält Brüssel für einen Ort, wo Konzer-
ne und das Großkapital jegliche demokra-
tische Impulse im Keim ersticken.
Sein Dilemma ist, dass Labour Wähler
verlieren wird, egal wie er sich positio-
niert. Entscheidet er sich für einen klaren
Brexit-Kurs, werden die Europafreunde
in der Partei abwandern, vor allem Wäh-
ler in den Großstädten und in Schottland;
entscheidet er sich gegen den Brexit,
werden ihn die Europakritiker verlassen,
vor allem in ländlichen Regionen.
Seine Stärke zieht Corbyn daraus, dass
er noch immer als Außenseiter wahrge-
nommen wird. In entscheidenden Fragen
stimmte er gegen seine Partei, das nutzt
ihm. Nach den turbulenten Jahren unter
Tony Blair, dem ein Großteil der Partei
den Irakkrieg noch immer nicht verziehen
hat, gilt Corbyn gerade unter jungen
Labour-Mitgliedern als unkorrumpierbar.
Ihnen ist es gleichgültig, wenn Blair den
Parteichef als »linken Schlafwandler«
bezeichnet – viele Labour-Mitglieder
sehen das sogar als Kompliment.
Zudem ist Corbyn ein passabler Wahl-
kämpfer, selbst wenn seine Reden und
Auftritte einschläfernd wirken. Bei der
Unterhauswahl 2017 erreichte Labour
trotz anfangs schlechter Umfragewerte ein
überraschend gutes Ergebnis und landete
nur etwas mehr als zwei Prozent hinter
den Konservativen. Offenbar hatte sich
Corbyns damalige Kontrahentin Theresa
May verkalkuliert, als sie dachte, mit Neu-
wahlen gegen einen scheinbar schwachen
Gegner eine satte Mehrheit zu erreichen.
Am Ende blieb den Konservativen im
Unterhaus nur noch eine Mehrheit von
einer einzigen Stimme – und die verloren
sie in dieser Woche, als der Tory-Abgeord-
nete Phillip Lee zu den Liberaldemokra-
ten wechselte. Die Lektion für die Konser-
vativen ist, dass es gefährlich sein kann,
Corbyn zu unterschätzen.
Isabella Reichert

WahlenLabour-Chef Jeremy Corbyn wird gern


unterschätzt – ob das bei einem Duell gegen Johnson reicht?


Schwer vermittelbar


CHRISTOPHEER FURLONG / GETTY IMAGES
Oppositionsführer Corbyn: Ein Freund haarsträubender Vorschläge
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