Ulrich steht dazwischen und versucht zu
trösten.
Der Anruf des Auswärtigen Amts ist ein
Schlusspunkt. Die Zeit der Ungewissheit
ist vorbei. Eine Todesnachricht ist traurig,
aber sie erleichtert auch. Nur wer Gewiss-
heit hat, kann anfangen zu trauern.
Am Ostersamstag sitzen die Ulrichs in
ihrem roten Backsteinhaus, auf dem Kü-
chentisch liegt ein Zettel für die Beerdi-
gungsvorbereitungen. Stichwörter sind
dort notiert: Testament, Versicherung,
Haus. Aufgaben sind wichtig, Aufgaben
lenken ab.
Am Vormittag klingelt das Telefon, noch
einmal das Auswärtige Amt in Berlin: »Ich
kann Ihnen sagen, dass Ihre Mutter noch
lebt«, an diese Worte erinnern sich die
Ulrichs bis heute. Heidemarie Ulrich wer-
de noch am selben Tag mit anderen Ver-
letzten in ein Kölner Krankenhaus geflogen.
Die Ulrichs machen sich auf den Weg
nach Köln, hoffnungsvoll und ein wenig
ungläubig. In Neumünster fahren sie kurz
von der Autobahn, zum Haus der Eltern.
Stefan Ulrich sollen Speichelproben abge-
nommen werden, die Beamten packen au-
ßerdem Gegenstände der Eltern ein, einen
Kamm, eine Zahnbürste, ein Taschentuch.
Die portugiesischen Rechtsmediziner ha-
ben die Obduktion der Opfer schon abge-
schlossen, doch deren Identität steht noch
nicht zweifelsfrei fest. Dafür benötigen sie
DNA-Informationen, die vom Bundes -
kriminalamt in Wiesbaden gesammelt und
dann elektronisch nach Portugal übermit-
telt werden.
Auf dem Kölner Flughafen landet am
Nachmittag der Airbus A310 MedEvac der
Luftwaffe, eine fliegende Intensivstation,
ausgestattet mit Beatmungsgeräten, Defi-
brillatoren und Ultraschall. An Bord sind
15 Verletzte aus Madeira, darunter, so
heißt es, Heidemarie Ulrich.
Am Sonntag treffen die Ulrichs auf der
Intensivstation der Klinik Köln-Merheim
ein. Es ist der Tag, an dem sie mit ihren
Eltern verabredet waren, um die Urlaubs-
fotos anzuschauen.
Stefan Ulrich zieht sich einen Besucher-
kittel an, streift Handschuhe über und geht
den Flur entlang in einen Raum, in dem
eine Frau liegt. Ihre braunen, leicht gräu -
lichen Haare sind zurückgekämmt, die Au-
gen geschwollen. Über dem rechten Auge
ist eine Beule zu erkennen, ein Beatmungs-
schlauch verdeckt einen Teil des Gesichts.
Sie zeigt keinerlei Reaktion. Stefan Ulrich
streichelt ihr über die Schulter, seine Frau
Natalie hält die Hand, die unter der Decke
hervorschaut.
Zwei Tage lang, am Ostersonntag und
am Ostermontag, warten die drei am Kran-
kenbett darauf, dass es Heidemarie Ulrich
besser geht.
Am Dienstag entfernen die Ärzte den
Beatmungsschlauch. Die Frau versucht zu
sprechen. Ihre Stimme ist rau, sie röchelt,
sie ist kaum zu verstehen.
Am Mittwoch geht es besser. Stefan
Ulrich fällt auf, dass ihre Zähne dunkler
sind, als er es von seiner Mutter in Erinne-
rung hat. Natalie Ulrich starrt auf den
Haar ansatz der Frau, der ihr fremd vor-
kommt. Etwas stimmt nicht.
Am Abend untersuchen die Ulrichs die
persönlichen Gegenstände der Frau, die
in einer weißen Tüte nach Deutschland
gekommen sind. Die Kamera von Heide -
marie Ulrich, ein Schlüsselanhänger in
Form eines »H«, das Portemonnaie mit
dem Personalausweis. Aber auch ein Ring,
den sie noch nie an ihr gesehen haben.
Am Donnerstag teilen Beamte den Ul-
richs mit, dass die Frau nicht Heidemarie
Ulrich ist. Sie haben am Bett einer Fremden
gewacht, einer Frau aus Hannover, die Hei-
demarie Ulrich zufällig ähnlich sieht.
»Ich fand das noch schlimmer als bei
der ersten Todesnachricht«, sagt Natalie
Ulrich.
Dass in der Tüte der richtige Pass neben
dem falschen Ring lag, war ein Versehen
der Helfer.
»Von außen wirkt es komisch: Wie er-
kennt man seine eigene Mutter nicht?«,
sagt Stefan Ulrich in seinem aufgeräumten
Wohnzimmer in Steinbergkirche. »Aber
uns wurde von den Ärzten gesagt, das ist
Heidi. Da achtet man nicht auf Details.«
Die Verwechslung war über das Oster-
wochenende geschehen, wenige Stunden
vor Abflug der Maschine, die die Über -
lebenden von Madeira nach Köln bringen
sollte. Am Morgen gab es eine Verletzte,
die noch nicht identifiziert war. Das Kri-
senteam entschied, sie solle in Deutsch-
land behandelt werden, doch zunächst
wollte man ihren Namen herausfinden.
Die Ärzte weckten die Frau aus dem künst-
lichen Koma. Eine Mitarbeiterin des Aus-
wärtigen Amts zeigte ihr eine Buchstaben-
tafel, auf der das Alphabet, Zahlen und
portugiesische Wörter zu sehen waren, ein
Verfahren, das in ähnlicher Form in der
deutschen Intensivmedizin angewandt
wird. Beim »U« habe die Frau mehrmals
reagiert. Man habe sie gefragt, ob »Ulrich«
ihr Name sei, sagt Frank Hartmann: »Da-
rauf hat sie positiv reagiert. Alles passierte
in dem Willen, eine schwer verletzte Per-
son zu evakuieren. Das sind schwierige
Abwägungen.«
Zu den Abwägungen gehörtimmer auch
die Frage, wann man die Angehörigen in-
formiert. Sie wollen wissen, was los ist,
so schnell wie möglich; ein Informations -
defi zit bedeutet Stress. Daheim, im Wohn -
zimmer, ticken die Uhren langsamer als
unterwegs im Kriseneinsatz, wo jede Se-
kunde etwas passiert. Allerdings wollen
Angehörige keine Wahrscheinlichkeiten,
sondern Gewissheit. Gewissheit aber
braucht Zeit.
Am Freitag fahren die Ulrichs zurück
nach Steinbergkirche, am Samstag er -
halten sie offiziell die Nachricht, dass
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 51
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL
Angehörige Stefan, Natalie Ulrich: Am Bett einer Fremden gewacht
Angehörige
wollen keine Wahr-
scheinlichkeiten,
sondern Gewissheit.