Sprachgebrauch der Beamten Großscha-
densereignis heißen.
Ein paar Meter von Hartmanns Büro
entfernt füllt sich ein weiterer Raum. Ver-
bindungsbeamte des Bundeskriminalamts,
des Verteidigungsministeriums und ande-
rer Behörden besetzen Schreibtische, die
U-förmig vor einer blau gestrichenen
Wand stehen. Neun Uhren zeigen verschie-
dene Zeitzonen, eine von ihnen wird auf
die Lokalzeit am Krisenort eingestellt: Ma-
deira, UTC +1.
In einem weiteren Raum sitzen Freiwil-
lige, durch Scheiben abgetrennt, sie gehö-
ren zu einer Gruppe von Mitarbeitern aus
verschiedenen Referaten, die regelmäßig
für Krisenfälle geschult werden. Sie neh-
men die Anrufe entgegen, die unter der
Notfallnummer des Auswärtigen Amts ein-
gehen. An diesem Abend klingelt das
Telefon 281-mal.
Um 21.59 Uhr schreibt Jörn Ulrich an
seinen Bruder Stefan per WhatsApp:
Kann das Krankenhaus in Funchal anrufen.
Aber da versteht mich ja keiner.
Stefan Ulrich antwortet: Auf Englisch
schon!
Und setzt hinzu: Ich habe bei beiden auf
Band gesprochen!
Dass er weder seinen Vater noch seine
Mutter erreicht, ist ungewöhnlich. Inzwi-
schen, denkt er, müssten die beiden auf
Madeira von dem Unglück gehört haben,
sie müssten wissen, dass die Söhne in Sor-
ge sind.
Wenig später geht Stefan Ulrich schla-
fen. Er ist Filialleiter bei einem Lebensmit-
tel-Discounter, um fünf Uhr früh muss er
im Laden stehen. Sein Bruder Jörn ver-
sucht weiter, Informationen zu bekommen.
Aber weder die deutsche Botschaft in Lis-
sabon noch das Reiseunternehmen wissen
etwas. Mehrmals versucht er es bei der
Notfallhotline des Auswärtigen Amts, mal
ist die Leitung besetzt, mal hängt er in der
Warteschleife und legt auf, einmal nach 19,
ein andermal nach 10, ein drittes Mal nach
12 Minuten, das belegen Anrufprotokolle.
Um 23.09 Uhr schreibt er an seinen Bru-
der Stefan:
Ich habe Angst und zitter.
Um 23.50 Uhr schreibt er:
Freizeichen, aber keiner nimmt ab.
Das gibt es doch gar nicht.
Am nächsten Morgen eröffnet Frank
Hartmann um neun Uhr in Berlin den Kri-
senstab.
Der Saal befindet sich hinter einer mas-
siven Stahltür, fast einen halben Meter dick,
es ist ein ehemaliger Tresorraum der Reichs-
bank, in dem die Nazis Gold gelagert hat-
ten. Vom Kopf des Tisches aus blickt Hart-
mann auf Vertreter der Bundeswehr, des
Innenministeriums, der Personalabteilung
und weiterer Abteilungen. Auf der Video-
leinwand erscheint die Stellvertreterin des
deutschen Botschafters in Portugal, der Bot-
schafter selbst ist schon am Morgen nach
Madeira geflogen. Die Runde fragt: Wie
reagieren wir? Brauchen wir Unterstützung
vor Ort? Auf Madeira gibt es kein Konsulat.
Der Krisenstab beschließt, eine deutsche
Delegation solle auf die Insel fliegen.
Am späten Mittag des 18. April steigt
Frank Hartmann am Flughafen Berlin-
Tegel in einen Airbus 319 der Flugbereit-
schaft der Luftwaffe, seine Frau hat ihm
noch schnell eine schwarze Krawatte ins
Büro gebracht. Zum Krisenteam gehören
Ärzte, Psychologen, eine Notfallsanitäte-
rin und weitere Mitarbeiter des Auswärti-
gen Amts. Auch Außenminister Heiko
Maas ist an Bord. Die Maschine fliegt di-
rekt nach Funchal.
Er habe im Hotel angerufen, schreibt
Jörn Ulrich an diesem Donnerstagvormit-
tag an seinen Bruder Stefan, die Eltern sei-
en nicht auf ihrem Zimmer.
Um 11.26 Uhr schreibt er:
Wir müssen jetzt stark sein und zusammen-
halten
Nach der Arbeit rufen auch Stefan
Ulrich und seine Frau Natalie bei der Bot-
schaft und beim Auswärtigen Amt an.
Niemand kann ihnen sagen, ob die Eltern
leben. Auf der Homepage des Reiseunter-
nehmens finden sie eine Telefonnummer,
landen jedoch nur in einem Callcenter.
»Wir hätten eine Reise buchen können,
aber eine Auskunft haben wir nicht be-
kommen«, sagt Natalie Ulrich.
Auf Madeira besuchen der Krisenbeauf-
tragte Hartmann und Außenminister Maas
den Unfallort. Maas steht in der Sonne,
hinter ihm glitzert der Atlantik, er spricht
von der sehr schwierigen Arbeit, »bei der
keine Fehler gemacht werden dürfen«. Das
Krisenteam fährt direkt ins Krankenhaus.
Ärzte entscheiden darüber, wer transport-
fähig ist. Mitarbeiter des Auswärtigen
Amts befragen die Verletzten: Wann ha-
ben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen? Vermis-
sen Sie persönliche Gegenstände?
Noch in der Nacht fliegen Frank Hart-
mann und Außenminister Heiko Maas zu-
rück nach Berlin. Maas twittert ein Bild
von sich an der Unfallstelle, im Hinter-
grund das Meer:
Wir in Deutschland trauern mit den Ange-
hörigen, die ihre Liebsten in #Madeira
verloren haben. Unsere Gedanken sind bei
ihren Familien. Unsere Gedanken sind
auch bei den Verletzten, die wir heute ge-
meinsam besucht haben.
Frank Hartmann sagt: »Die erste Phase
der Krisenreaktion ist sehr schnell und gut
gelaufen.«
Am Karfreitag, zwei Tage nach dem Un-
glück, wissen Stefan und Jörn Ulrich noch
immer nicht, ob ihre Eltern unter den Op-
fern sind. Jörn ist trotzdem von Berlin
nach Steinbergkirche gefahren, die Brüder
wollen einander nahe sein.
Dann klingelt bei Stefan Ulrich das Te-
lefon. Eine Mitarbeiterin des Auswärtigen
Amts: Klaus und Heidemarie Ulrich waren
in dem verunglückten Bus. Klaus Ulrich
sei identifiziert und verstorben, sagt sie,
Heidemarie Ulrich sei noch nicht identifi-
ziert, aber definitiv nicht unter den Über-
lebenden im Krankenhaus.
Stefan Ulrich steht wie gelähmt in der
Küche, minutenlang bekommt er kein
Wort heraus. Jörn Ulrich weint. Natalie
* Am Unglückstag auf Madeira.
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MILOS DJURIC / DER SPIEGEL
Rentnerpaar Ulrich (vorn)*: Glaube, Hoffnung, Liebe