56 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Gesellschaft
V
or einiger Zeit überraschte mich meine Tochter mit
einem neuen Idol. Ob ich Julien Bam kenne, wollte
sie wissen.
Als ich den Kopf schüttelte, schien sie erleichtert.
Mit Idolen ist es ja meistens so: Anfangs haben die Kinder
dieselben Vorbilder wie ihre Eltern, worauf besonders die
Eltern stolz sind. Später dann haben sie ausdrücklich nicht
mehr dieselben Vorbilder wie ihre Eltern – was diese stolz
machen sollte.
Meine Tochter ist beinahe 15. Sie liest Bücher, die ich nicht
verstehe; sie hört Musik, die ich nicht kenne; und sie verehrt
den Filmhelden Tony Stark, gespielt von Robert Downey Jr,
von dem ich bis vor Kurzem noch nie etwas gehört hatte.
Sie ist meine Fremdenführerin durch
die Zukunft.
Julien Bam also. »Ein Influencer«,
sagte sie.
Influencer, ich habe das gegoogelt,
sind meist junge Leute, die in sozialen
Netzwerken wie YouTube irgend -
etwas vermarkten. Weil sie besonders
charismatisch sind oder besonders lus-
tig oder beides. Firmen zahlen Geld
dafür, dass Influencer ihre Produkte
erwähnen. 4,6 Millionen Influencer
soll es in Deutschland geben, das be-
hauptet eine Studie. Offenbar hatte
ich eine komplette soziale Bewegung
verschlafen.
Jede zweite Woche, sagte meine
Tochter, lade Julien Bam auf YouTube
ein neues Video hoch. Er lebt offen-
bar in einem ziemlich großen Haus,
gemeinsam mit ein paar Freunden, in
den Videos kann man sehen, wie sie
gemeinsam einen Pool bauen, Mär-
chen parodieren oder Trickshots
üben. In einer Folge bringt Julien Bam seiner Mutter das
Rappen bei. Die Mutter sieht asiatisch aus, sie spricht nicht
perfekt Deutsch, was das Video auf berührende Weise lustig
macht.
Als meine Tochter sich kürzlich beim SPIEGELfür ein
Schülerpraktikum ankündigte, beschloss ich, die Gelegenheit
zu nutzen. Ich rief bei Bams Management an und bat um
einen Termin. Ich wollte verstehen, was eine 14-Jährige
bewundert.
An einem Sonntag fuhren wir mit dem Zug nach Köln.
Julien Bam betreibt dort eine Tanzschule. Er wurde 1988 in
Aachen geboren, so steht es in seinem Wikipedia-Eintrag,
seine Mutter kommt aus Singapur. Sein richtiger Name ist
Julien Budorovits. Er hat Vorfahren aus China und Indone-
sien (mütterlicherseits) sowie aus Tschechien und Rumänien
(väterlicherseits), er kann rappen und tanzen, filmen und
fotografieren. Früher, als es YouTube noch nicht gab, nannte
man solche Leute Tausendsassa.
Natürlich wollte ich meine Tochter nicht blamieren. Wie
aber macht man’s richtig, wenn man nicht einmal weiß, was
falsch ist?
Was zieht man beispielsweise an? Ein Business-Hemd?
Oder einen Hoodie, wie Katarina Barley neulich auf diesem
unglaublich coolen SPD-Wahlplakat? Eine Gratwanderung:
Man will sich einerseits nicht anbiedern, andererseits aber
auch nicht aussehen wie ein Erdkundelehrer.
Und wie begrüßt man einen Influencer?
Sagt man: »Guten Tag, Herr Bam«?
Oder bricht man das Eis, indem man sich mit einem flotten
»Yo, Ju, krasses Programm, Digger« vorstellt?
Für eine 14-Jährige ist der gemeinsame Ausflug mit dem
Vater zu einem Idol nicht unheikel. In der Pubertät ändern
sich Werturteile. Was lange Jahre selbstverständlich schien,
wirkt plötzlich peinlich.
Manche der Fotos, die ich auf Instagram hochlade, findet
meine Tochter »Schrott«. Manchmal, wenn ich ihr ein Bild
zeige, auf das ich besonders stolz bin, sagt sie streng: »Was
ist das denn? Ich wusste gar nicht, dass du das hochgeladen
hast.«
Als Julien Bam uns begrüßte, sagte er irgendetwas wie
»Yo, was geht?«. Während ich noch über eine passende Ant-
wort nachdachte, führte er uns nach unten ins Tanzstudio.
Etwa zwei Dutzend Schüler waren da.
Da es keine Stühle gab, setzten wir
uns auf den Boden. Bam demonstrier-
te Moves und korrigierte Abläufe, er
hatte eine erstaunliche Körperbeherr-
schung.
Ich lehnte mit dem Rücken gegen
die Wand und versuchte, dabei mög-
lichst lässig auszusehen. Ab und an ver-
änderte ich unauffällig meine Sitz -
position.
Irgendwann ging Bam raus und kam
mit einem Schaumstoffwürfel zurück.
»Für deinen Dad«, sagte er zu meiner
Tochter.
Verstohlen sah ich zu ihr hinüber.
Sie schien etwas angespannt.
Mein eigener Vater fiel mir ein. Als
ich 15 wurde, lud ich ein paar Freunde
zu einer Geburtstagsfeier ein. Und da
ich noch keine eigene Musikanlage be-
saß, legte mein Vater ein Kabel vom
Wohnzimmer hinauf in mein Zimmer,
wo ein Lautsprecher stand. Die Freun-
de hatten Platten mitgebracht, die er
nacheinander auflegte: Police, Electric Light Orchestra, Pink
Floyd, solche Sachen. Irgendwann, gegen halb zehn, ertönte
aus dem Lautsprecher »Heidschi Bumbeidschi«. Ein Schlaf-
lied. Es dauerte Jahre, bis ich mich davon erholt hatte.
Als er mit dem Unterricht fertig war, erzählte Julien Bam
von seiner Leidenschaft, dem Tanzen, von seinen Anfängen,
von seinen Plänen. Er wirkte sehr ernsthaft und professionell,
ein Unterhaltungsproduzent mit eigener Firma. Kürzlich, sag-
te er, sei er mit seinem Team in Bangladesch gewesen, auf
Vermittlung der Uno, weil er fand, dass 5,6 Millionen Follo-
wer zu etwas verpflichten.
5,6 Millionen Follower – das sind etwa so viele, wie der
SPIEGELLeser hat.
Zum Abschied machten wir ein Foto. Meine Tochter hatte
mir vorher eingeschärft, dass ich das Bild auf keinen Fall
versauen solle. Ich dirigierte die beiden vor meiner Handy-
kamera, den Influencer und seinen Fan. Julien Bam machte
ein Zeichen mit seiner Hand, das ich nicht verstand, meine
Tochter schaute in die Kamera, als gehörte sie bereits dazu.
Für einen Moment fühlte ich mich wie in Bernstein einge-
schlossen. Hauke Goos
Herr Bam und ich
HomestoryIst es – rein theoretisch – möglich,
seine halbwüchsigen Kinder nicht zu blamieren?
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL