Wirtschaft
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er Reflex funktioniert noch immer. »Die Treu-
hand«, sagt der Görlitzer Soziologe Raj Kollmor-
gen, sei wie ein Codewort, »das man aufruft, und
alle sagen: ja, wie wahr!« Die meisten Ost -
deutschen können sich schnell darauf einigen: Die Institu -
tion, die 1990 gegründet wurde und binnen vier Jahren
rund 8500 staatliche, sogenannte volkseigene Betriebe
der DDR privatisierte, gilt als Ursache allen Übels, das
die Menschen zwischen Zinnowitz und Zwickau heute
beklagen.
Die Treuhandanstalt, heißt es, habe die ostdeutsche
Industrie plattgemacht und Millionen Arbeitsplätze ver-
nichtet. »Der Schaden, den die Treuhand angerichtet
hat«, behauptet der Fraktionsvorsitzende der Linken im
Bundestag, Dietmar Bartsch, sei »bis heute eine wesent -
liche Ursache für den ökonomischen Rückstand des
Ostens und für politischen Frust vielerorts«.
Sein Parteifreund Bodo Ramelow, Ministerpräsident in
Thüringen, schlägt in dieselbe Kerbe: »Aus der Zeit, in der
die Treuhand das Zepter führte«, stamme das heute noch
unter Ostdeutschen verbreitete Gefühl, sie würden wie
Bürger zweiter Klasse behandelt«, und
»an dieses Gefühl knüpft die AfD an«.
Seit die rechtspopulistische Partei
und ihr völkisch-nationalistischer »Flü-
gel« im Osten den Ton angeben, rückt
die Treuhand wieder ins Blickfeld. De-
ren Wirken vor fast 30 Jahren wird von
vielen für die heutige politische Stim-
mung, für fremdenfeindliche Gesin-
nung und Demokratiedefizite in Ost-
deutschland verantwortlich gemacht.
Nun wird der Ruf nach »Aufarbeitung« der Treuhand-
Tätigkeit immer lauter. Die Linksfraktion im Bundestag
hat einen Untersuchungsausschuss beantragt, die AfD zog
mit einem eigenen Antrag nach. Auch viele ostdeutsche
Sozialdemokraten glauben, mit dem Reizthema Treuhand
der AfD etwas entgegenhalten zu können.
Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping
(SPD) verstieg sich gar dazu, eine »Wahrheitskommis sion«
zu fordern, die das »Unrecht« der frühen Nachwendezeit
ergründen solle. Wahrheitskommissionen assoziiert man
mit Ermittlung brutaler Menschenrechtsverletzungen
etwa im Apartheidstaat Südafrika oder beim Völkermord
in Ruanda.
Köpping veröffentlichte vor einem Jahr eine, wie es im
Untertitel ihres Buches heißt, »Streitschrift für den Os-
ten«. In deren Zentrum steht, natürlich, die Treuhand -
anstalt, »für uns Ostdeutsche Sinnbild des knallharten,
über Nacht hereingebrochenen Turbokapitalismus«. Die
Treuhand, behauptet Köpping, habe im Interesse west-
deutscher Unternehmen »potenzielle Ostkonkurrenz bei-
seitegeräumt«. Auch Köpping, deren Buch im Osten zum
Bestseller wurde, konstruiert einen Zusammenhang zwi-
schen »unbewältigten Demütigungen, Kränkungen und
Ungerechtigkeiten« der »Nachwendezeit« und der gras-
sierenden Ausländerfeindlichkeit. Viele Ostdeutsche,
meint Köpping, hätten sich »von der Stimmung anste-
cken« lassen, dass man »das Recht habe, gegenüber ande-
ren Gruppen von Menschen ungerecht zu werden, weil
man sich selbst ungerecht behandelt fühlt«.
Köpping verlangte ein »Geständnis der westdeutschen
Politiker«, dass sie »die schnelle Währungsunion, die Aus-
richtung der Treuhand und viele andere Instrumente der
Nachwendezeit ... nicht ›zum Wohle‹ Ostdeutschlands«
eingesetzt hätten, sondern »um westdeutsche Bürger vor
den Konsequenzen der Wiedervereinigung zu schützen«.
Das ist, seit fast drei Jahrzehnten, das gängige Narrativ.
Das Thema Treuhand habe »sein Erregungspotenzial un-
geschmälert behalten«, konstatiert der emeritierte Theo-
logieprofessor Richard Schröder, der in der letzten, demo-
kratisch gewählten DDR-Volkskammer Vorsitzender der
SPD-Fraktion war. »Weil es dazu bisher kaum wissen-
schaftliche Untersuchungen gibt, können sich hier die
Emotionen ohne allzu große Rücksicht auf die Tatsachen
austoben.«
Doch das ändert sich gerade. Seit Kurzem kann sich je-
der Interessierte informieren, was an den Räubergeschich-
ten dran ist, die seit der Einheit immer wieder erzählt
werden. Die für Behördenakten geltende Sperrfrist von
30 Jahren nach ihrem Entstehen kann seit 2016 auf Antrag
verkürzt werden, wofür sich vor allem Richard Schröder
eingesetzt hat. Seither werden rund 170 000 Treuhand -
akten sukzessive ins Bundesarchiv überführt und archi-
visch aufbereitet. Von so mancher Legende, die jahrzehn-
telang gepflegt wurde, bleibt da kaum noch etwas übrig.
Der besonders skandalumwitterte Fall des thüringi-
schen Kalibergwerks Bischofferode etwa stellt sich ganz
anders dar, als er bisher kolportiert wurde. Dank eines
medienwirksam inszenierten Hungerstreiks einiger Kum-
pel im Sommer 1993 wurde der Konflikt zum Fanal für
die Treuhandanstalt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Bi-
schofferode sei »die erste Zusammenlegung zweier Unter-
nehmen« gewesen, »bei der die Schließung eines profita -
blen Standorts Ost zur Sanierung des Standorts West bei-
getragen« habe, wie Jana Hensel in ihrem Buch »Achtung
Zone« behauptet. Auch die »Zeit« unterstellte, Bischoffe-
rode sei »ohne trefflichen Grund von der Treuhand ge-
schlossen« worden, damit eine westdeutsche Firma, die
Kali + Salz AG (K+S), »ihre Marktmacht behalten kann«.
Die Protokolle der Gremiensitzungen, die Schriftwech-
sel und Expertisen widerlegen das. Das grundlegende Pro-
blem bestand darin, dass weltweit viel zu viel Kali, das
man zur Produktion von Düngemitteln braucht, gefördert
wurde. Die DDR war nach Kanada und der Sowjetunion
der größte Kaliexporteur. Noch vor der Wiedervereini-
gung wurde das volkseigene Kombinat Kali aufgelöst und
in die Mitteldeutsche Kali AG (MdK) umgewandelt.
Eigentümerin der MdK wurde die Treuhand. Obwohl die
von der Treuhand beauftragte Investmentbank Goldman
Sachs weltweit 47 potenzielle Investoren anschrieb, gab
es nirgendwo Interesse am Erwerb der gesamten MdK.
Auch K+S winkte ab.
Zu DDR-Zeiten wurde Bischofferode gezielt als »Devi-
senschlepper« eingesetzt: Westeuropäischen Abnehmern
wurde Kali zu besonders niedrigen Preisen angeboten.
Nach der Währungsunion lagen die Förderkosten bei
740 Mark je Tonne, auf dem Weltmarkt wurde der Roh-
Norbert F. Pötzl
Ende Legende
Essay Die Treuhand gilt als Ursache aller Probleme
im Osten Deutschlands. Ein Blick in
die Archive reicht, dies als Mär zu entlarven.
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
»Die Emotionen
können sich ohne
allzu große Rücksicht
auf die Tatsachen
aus toben.«