Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1

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Ausland

DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019

K


inder, die in überfüllten Containern auf dem Boden
schlafen. Kranke, die nicht behandelt werden. Hun-
gernde, die um Lebensmittel betteln. Seit mehr als
drei Jahren prangern Hilfsorganisationen immer wie-
der die unwürdigen Zustände an, die in den EU-Flüchtlings-
zentren auf den griechischen Inseln herrschen. Vergebens.
Die Europäer haben die Katastrophe am südöstlichen
Rand des Kontinents, die sie selbst mit geschaffen haben,
ignoriert. Sie glaubten, die Krise aussitzen zu können, man-
che mögen sogar gehofft haben, dass die Bilder vom Lager -
elend Flüchtlinge abhalten, sich auf die Reise zu machen.
Diese Strategie ist gescheitert.
Denn während die EU auf Italien starrte, während Innen-
minister Matteo Salvini seine europäischen Kollegen in
der Migrationspolitik düpierte,
strandeten immer mehr Schutz-
suchende auf den griechischen
Inseln. 26 000 Migranten er-
reichten Griechenland bislang
in diesem Jahr auf dem See-
weg, fast fünfmal so viele wie
Italien.
In den vergangenen Wo-
chen hat sich die Lage noch
einmal verschärft. Im August
kamen mehr als 8000 Men-
schen auf den Inseln an – so
viele wie seit 2016 nicht mehr.
Auf Lesbos legten zwischen-
zeitlich 13 Flüchtlingsboote in-
nerhalb einer einzigen Stunde
an. Die Lager, die Athen mit-
hilfe der EU errichtet hat, sind
überfüllt. In Moria, dem EU-
»Hotspot« auf Lesbos, waren zuletzt 10 000 Menschen un-
tergebracht, gut dreimal so viele wie vorgesehen.
Das Elend auf den Inseln ist inzwischen so groß, dass sich
die neu gewählte griechische Regierung von Premier Kyriakos
Mitsotakis am Montag gezwungen sah, 1500 Flüchtlinge aus
dem Lager Moria aufs Festland zu evakuieren. Mitsotakis
hat den Notstand damit verschoben, nicht aufgehoben. Sein
Vorstoß könnte das Problem mittelfristig verschlimmern.
Die EU hat während der Flüchtlingskrise 2016 einen Pakt
mit der Türkei geschlossen. Der türkische Präsident Recep
Tayyip Erdoğan verpflichtete sich, Flüchtlinge an der Wei-
terreise nach Europa zu hindern. Im Gegenzug sollte sein
Land von der EU unter anderem Milliarden Euro Hilfsgelder
erhalten. Das Abkommen sah zudem vor, dass Flüchtlinge,
die über die Ägäis nach Griechenland gelangten und dort
keinen Anspruch auf Schutz haben, nach einer Blitzprüfung
zurück in die Türkei geschickt werden.
Der EU-Türkei-Deal hat insofern funktioniert, als er die
Flucht nach Europa erschwert hat. Die Flüchtlingszahlen sind
seit 2016 gesunken. Bei fast allen anderen Fragen blieben die
Europäer jedoch hinter ihren Versprechen zurück. Weder
hat die EU im großen Stil Flüchtlinge aus der Türkei nach
Europa umgesiedelt, wie sie es Ankara zugesagt hat. Noch

ist es ihr gelungen, Migranten in nennenswerter Zahl von
den Inseln zurück in die Türkei zu schiffen, was entscheidend
zu der Überfüllung der Lager beigetragen hat.
Die Teilevakuierung des Lagers auf Lesbos könnte den
Deal nun endgültig zum Kippen bringen. Bislang mussten
Flüchtlinge, die die Überfahrt von der Türkei nach Griechen-
land wagten, damit rechnen, auf unbestimmte Zeit auf den
Inseln festzusitzen. Mit dem Transfer von 1500 Flüchtlingen
aufs Festland sendet Mitsotakis ein Signal: Der Weg nach
Norden ist wieder frei.
Hinzu kommt, dass auch weiter östlich der Migrations-
druck wächst. Die Türkei hat 3,6 Millionen Syrer aufgenom-
men, mehr als jedes andere Land. Inzwischen jedoch kippt
die Stimmung. Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass
viele Türken Syrer als Konkur-
renten auf dem Arbeitsmarkt
betrachten. Die Erdoğan-Re-
gierung hat begonnen, Flücht-
linge ins Kriegsgebiet nach
Syrien abzuschieben. Grie-
chische Regierungspolitiker
vermuten, dass die türkischen
Behörden auch die Kontrollen
an der Küste gelockert haben,
um Migranten loszuwerden.
Am Donnerstag drohte Er-
doğan der EU offen: Entweder
sie helfe bei der Einrichtung ei-
ner »Sicherheitszone« im Nor-
den Syriens, in der Flüchtlinge
angesiedelt werden könnten –
oder die Türkei »werde ge-
zwungen sein, die Türen zu
öffnen«.
Wenn die EU den Deal mit der Türkei retten will, muss sie
schnellstmöglich handeln. Sie muss die Infrastruktur der La-
ger auf den griechischen Inseln verbessern. Und sie muss die
Asylverfahren beschleunigen. Die griechische Migrations -
behörde ist mit der Antragsflut überfordert. Die EU sollte
den Prozess nicht nur begleiten, sondern dirigieren.
Genauso wichtig ist es, dass die Europäer ihr Engagement
in der Türkei verstärken. Bislang hat die EU der Erdoğan-
Regierung Geld überwiesen und sich ansonsten nicht darum
gekümmert, was mit den Flüchtlingen in der Türkei passiert.
Diese Nachlässigkeit kann sie sich nicht länger leisten. Die
Europäer müssen sicherstellen, dass die Türkei tatsächlich
ein »sicherer Drittstaat« für Flüchtlinge ist, wie es das Ab-
kommen voraussetzt, sie müssen also unter anderem dafür
Sorge tragen, das Syrer nicht in den Krieg abgeschoben wer-
den. Zugleich sollten sie Resettlement-Programme ausbauen,
um die Türkei zu entlasten.
Viel Zeit bleibt Europa nicht. Sollte die Offensive des As-
sad-Regimes und Russlands in der Provinz Idlib in Syrien
eine weitere Massenflucht in die Türkei auslösen, könnte die
Situation schnell vollends außer Kontrolle geraten.
Maximilian Popp
Twitter: @Maximilian_Popp

Verdrängte Krise


AnalyseDie EU hat das Elend in den griechischen Lagern lange ignoriert. Das könnte
sich nun rächen, denn die Flüchtlingszahlen steigen wieder.

Evakuierung von Migranten auf Lesbos

GIANMARCO MARAVIGLIA / DER SPIEGEL
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