Die Welt - 07.09.2019

(Axel Boer) #1

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07.09.19 Samstag, 7. September 2019DWBE-HP


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2 FORUM DIE WELT SAMSTAG,7.SEPTEMBER


Die Kanzeln


sind rot-grün


geworden


PASCAL KOBER

E


vangelische Kirche und FDP
sind sich fremd geworden. Dass
es diese Distanz nicht schon
immer gegeben haben soll, mag man-
chen erstaunen, verbindet man im
Allgemeinen den politischen Liberalis-
mus doch mit Kirchenkritik und Laizi-
tät. Was für die französische und die
angelsächsische Liberalismustradition
zutrifft, ist allerdings nicht auf den
politischen Liberalismus in Deutsch-
land zu übertragen. Denn dieser ver-
dankt sein Entstehen ganz wesentlich
dem kirchlich eng verbundenen und
dem damals noch sehr kleinen Teil des
gegenüber der Demokratie aufge-
schlossenen protestantischen Bürger-
tums am Ende des 19. und Beginn des


  1. Jahrhunderts. Von diesem his-
    torischen Erbe zeugt noch heute der
    evangelische Pfarrer Friedrich Nau-
    mann, den die der FDP nahestehende
    politische Stiftung als ihren Namens-
    geber gewählt hat.
    Ganz anders heute. Zusammen mit
    vielen anderen muss die FDP die zu-
    nehmende Ununterscheidbarkeit kirch-
    licher Verlautbarungen und grün-roter
    Parteipositionen beklagen. Ein be-
    herztes Eintreten für die Marktwirt-
    schaft und die für sie konstitutiven
    Elemente Leistung und Wettbewerb,
    gesellschaftlicher Wohlstandserhalt,
    Begeisterung für Technologie und Fort-
    schritt, Sehnsucht nach wissenschaftli-
    cher Erkenntnis und Zukunftsoptimis-
    mus – all dies bildet geradezu die Anti-
    these zu Inhalt und Stimmung, die
    kirchliche Verlautbarungen heute ver-
    breiten. Charakteristisch für das Bild
    der evangelischen Kirche sind eher
    Technikskepsis und eine Sehnsucht
    nach Verlangsamung oder gar Abkehr
    von Fortschritt, eher ein Zurück in ein
    Ideal von Vergangenheit.
    Theologisch gesehen ist dieser Zu-
    kunftspessimismus nicht nachvollzieh-
    bar, erwarten Christen doch das Gute
    aus der Zukunft und wissen sie doch
    um ihre menschlichen Möglichkeiten
    und zugleich Begrenztheiten, diese
    aktiv mitzugestalten. Auch das öffent-
    liche Leiden kirchlicher Vertreter am
    Marktwirtschaftlichen der Sozialen
    Marktwirtschaft ist theologisch nicht
    begründet. Protestantismus war auch
    immer die Idee, der Glaube lasse sich
    durch Vernunft verstehen. Das aktio-
    nistische Eintreten für ein Tempolimit,
    die Diskussion, ob die evangelische
    Kirche ein Flüchtlingsschiff im Mittel-
    meer finanzieren solle – all das befrem-
    det nicht nur die Christen in der FDP
    zu Recht. In der Sehnsucht nach Auf-
    merksamkeit werden Moralismus,
    Trivialität und politische Gesinnung
    zur kirchlichen Botschaft.
    Der Kritik aus der FDP begegnen
    viele Kirchenobere mit selbstbewusster
    Gleichgültigkeit. Doch das ist falsch.
    Denn in der Entfremdung der evan-
    gelischen Kirche von der FDP spiegelt
    sich die Entfremdung der Kirche von
    gesellschaftlich relevanten Milieus und
    ihren Erwartungen. Dabei kann Kirche
    mehr. Die an den Universitäten leben-
    dige evangelische Theologie forscht
    und publiziert zu Gegenwartsfragen
    brillante Analysen und Diskussions-
    beiträge, sie ist interdisziplinär breit
    aufgestellt und ihren Traditionen treu.
    Diese nach allen Seiten hin offene
    Diskursfreudigkeit sollte sich auch
    wieder konsequenter in den öffent-
    lichen Verlautbarungen der Kirche
    widerspiegeln. Dann finden evangeli-
    sche Kirche und Liberalismus wieder
    zusammen – aber was noch viel wichti-
    ger ist: Nur so findet die evangelische
    Kirche wieder mehr Respekt und Ge-
    hör bei allen gesellschaftlich relevan-
    ten Akteuren.


TDer Autor ist evangelischer Theologe
und Bundestagsabgeordneter der FDP.

GASTKOMMENTAR


D


ie Wahlen in Brandenburg
und Sachsen offenbaren
einmal mehr Differenzen
zwischen Ost und West. Die
Debatte, die wir nicht erst
seit dem vergangenen Sonn-
tag führen, kreist um die
Frage, weshalb der Osten politisch teilweise
anders tickt – 30 Jahre nach Mauerfall und fried-
licher Revolution, in der sich die Ostdeutschen
Freiheit und Demokratie erstritten haben. Eine
Frage, in der aus westdeutscherSicht gestellt oft
Ratlosigkeit mitschwingt, manchmal auch Ge-
reiztheit. Erklärungsansätze gibt es viele, auch
viele plausible. Das eigentliche Problem dieser
Frage besteht vielleicht weniger in den unter-
schiedlichen Antworten, die Ost- wie West-
deutsche darauf geben, als darin, dass sie eines
als gesetzt vorwegnimmt: wo das Normale
herrscht und wo die Anomalie.
Das prägt auch die konfliktreichen Auseinan-
dersetzungen in Europa. Nicht nur, aber ins-
besondere zwischen Ost und West scheinen sich
die Gräben zu vertiefen. Es herrscht ein gegen-
seitiges Nichtverstehen, das eine der größten
Errungenschaften der Epochenwende von 1989
bedroht: die Überwindung der Teilung des Kon-
tinents.
Es ist für das europäische Einigungsprojekt
nicht egal, wenn Mittel- und Osteuropäer den
Eindruck teilen, der auch Deutschen zwischen
Elbe und Oder vertraut ist: dass ihre Meinungen
und ihre Interessen zweitrangig sind, dass sie
nicht ausreichend Gehör finden. Dem lässt sich
etwas entgegensetzen: empathisches Interesse
und die „Leistung der Anerkennung“, die der
Historiker Karl Schlögel einfordert. Damit sind
nicht die monetären Transfers von West nach
Ost gemeint. Vielmehr geht es darum, die Er-
fahrungen und Perspektiven des ‚Anderen‘
wahrzunehmen und sie als gleichwertig anzuer-
kennen. Nicht, um sie sich unkritisch zu eigen
zu machen, sondern um sich besser gegenseitig
zu verstehen.
Ist den unter Immigrationsdruck stehenden
EU-Staaten eigentlich bewusst, dass die Er-
fahrungen in Mittel- und Osteuropa vor allem
durch Auswanderung geprägt sind? 2,5 Millionen
Polen verließen seit 1989 ihr Land, etwa ein
Fünftel der Rumänen und jeder zehnte Bulgare.
Laut einer aktuellen Umfrage besorgt viele Ost-
europäer die Abwanderung stärker als eine mög-
liche Einwanderung. Denn sie hat gravierende
wirtschaftliche und soziale Folgen: Es fehlt an
Fachkräften, weil vor allem die Jungen und gut
Ausgebildeten gehen. Die Gesellschaften altern
beschleunigt; zugleich mangelt es an Ärzten und
Pflegekräften, die zu besseren Bedingungen

andernorts in der EU arbeiten. Der bulgarische
Politologe Ivan Krastev sagt, die Zurückbleiben-
den beherrsche eine Angst vor dem „ethnischen
Verschwinden“. Das befördere Misstrauen ge-
genüber allem Kosmopolitischen und die Sehn-
sucht nach dem Schutz des Eigenen und Ver-
trauten hinter sicheren Grenzen. An die 50 Pro-
zent der Ungarn und Polen sprechen sich dafür
aus, den dauerhaften Wegzug zu unterbinden.
Drei Jahrzehnte nach der Verheißung offener
Grenzen in Europa!
Auch wenn die Demografie nicht alles erklärt:
Betrachtet man die ostdeutschen Wahlergeb-
nisse vor diesem Hintergrund, scheinen sie
keine Ausnahme. Die Einwohnerzahl in den
östlichen Ländern ist auf dem Stand von 1905 –
während gleichzeitig die Zahl der auf dem Bun-
desgebiet lebenden Menschen den höchsten
Stand erreicht hat. Vielerorts ist die Bevölke-
rung in den neuen Bundesländern seit 1990 um
ein Fünftel und mehr geschrumpft. Es verwun-
dert nicht, dass drei Viertel der Ostdeutschen
große Unterschiede bei den Lebensbedingungen

in Ost und West sehen. Den meisten Westdeut-
schen scheint das indes kaum bewusst zu sein –
ebenso wenig wie die Tatsache, dass viele Re-
gionen im Westen von der ostdeutschen Migra-
tion profitiert haben.
Unwissen oder auch nur nachlässiges Des-
interesse sollten sich die Deutschen aber weder
untereinander noch im Verhältnis zu den öst-
lichen Nachbarn leisten. Bei allen Unterschie-
den: Die spezifischen Erfahrungen Ostdeutscher
zu kennen, kann helfen, die Befindlichkeiten der
mittel- und osteuropäischen Nationen besser zu
verstehen – und umgekehrt.
Machen wir integrationsfreundlichen Deut-
schen uns ausreichend klar, dass für die mittel-
und osteuropäischen Staaten die Einbindung in
die EU und der Schutz ihrer wiedererlangten
Unabhängigkeit zwei Seiten einer Medaille sind?
Verstehen wir den Blickwinkel derjenigen, die
erst deutsche Besatzung, dann Einverleibung in
den kommunistischen Herrschaftsbereich erlebt
haben? Nur wer begreift, wie die Menschen
Jahrzehnte darum kämpfen mussten, sich zu
behaupten, die eigene Kultur zu bewahren, wird
verstehen, warum ihnen die Rückbesinnung auf
das Eigene, das Nationale so wichtig ist. Vor
dem Hintergrund gerade erst wiedergewonne-
ner Souveränität wird anders argumentiert. Wer
die europäische Einigung gegen das Bedürfnis
auf nationale Identität auszuspielen versucht,
wird Europa nicht stärken, sondern schwächen.
Dabei ist Osteuropa ebenso wenig ein ein-
heitliches Gebilde wie Westeuropa, von dem wir
meist überhaupt nur in Abgrenzung zu seinem
Widerpart sprechen. Die Perspektiven der Mit-
tel- und Osteuropäer unterscheiden sich je nach
historischen Erfahrungen, kulturellen Prägun-
gen und wirtschaftlicher Situation. Das gilt etwa
im Verhältnis zu Russland. Während viele Un-
garn, Bulgaren und auch Ostdeutsche eine Wie-
derannäherung präferieren, überwiegt in ande-
ren Staaten die Sorge vor der russischen Über-
macht. Dass insbesondere die Erwartungen der
Polen und Balten sich auf eine verbesserte Ver-
teidigungsfähigkeit richten, ist vor dem Hinter-
grund ihrer Geschichte nachvollziehbar – eben-
so wie die Einwände gegen die Ostseepipeline
Nord Stream 2. Die Sichtweise unserer östlichen
Nachbarn übergangen zu haben, gehört nicht zu
den Glanzpunkten deutscher Politik und hat viel
Vertrauen zerstört. Das Projekt auf Umwegen
zu sabotieren, ist aus gesamteuropäischer Sicht
trotzdem keine vernünftige Lösung.
Von unterschiedlichen Ansichten durch Aus-
gleich und Kompromiss zu gemeinsamen eu-
ropäischen Lösungen zu kommen, war und ist
die Quintessenz europäischer Politik. Um ge-
meinsam voranzukommen, müssen die Prioritä-

ten und Perspektiven der mittel- und osteuro-
päischen Staaten ebenso Gehör finden wie die
der „Altmitglieder“. Das erfordert die Bereit-
schaft, vom Gewohnten abzurücken und andere
Sichtweisen zu tolerieren, auch in der Auslegung
unserer europäischen Werte – solange sich alle
an die gemeinsam verabredeten Regeln halten.
Das fällt da manchmal schwer, wo lange ge-
glaubt wurde, dass sich für sie selbst mit dem
Epochenbruch von 1989 nur wenig ändert. Hier
machen sich viele keine Vorstellung von den
Verwerfungen, die die Menschen in den Staaten
des ehemaligen Ostblocks erlebt haben. Wer
durch Glück in Westeuropa von ähnlichen Brü-
chen verschont geblieben ist, hat Anlass zu De-
mut und nicht zu Belehrungen.
Sich mit der Perspektive der Anderen aus-
einanderzusetzen, weitet den eigenen Horizont.
Unsere wechselseitigen Erwartungen zu ar-
tikulieren und in den eigenen begrenzten Blick-
winkel aufzunehmen, vermag nationale Selbst-
blockaden zu lösen und ist Voraussetzung für
eine wirklich gesamteuropäische Perspektive.
Wir können alle voneinander lernen – zumal
Ostdeutsche und Osteuropäer den Menschen im
Westen eine Erfahrung voraushaben: die An-
passung an massive gesellschaftliche Umwäl-
zungen. Eine wertvolle Erfahrung, insbesondere
seit wir erkennen, dass die Geschichte doch
nicht zu Ende ist und dass die Zumutungen von
Globalisierung und Digitalisierung vor den west-
lichen Gesellschaften nicht haltmachen.
Die europäische Einigung ist kein westeuro-
päisches Projekt mehr. Für das gemeinsame
Europa tragen wir alle Verantwortung: in Berlin
und Paris ebenso wie in Warschau und Buda-
pest. Wer sich mit dem Historiker Dan Diner
gedanklich auf die Stufen der Treppe von Odes-
sa ans Schwarze Meer setzt und von dort im
Rückblick auf das vergangene Jahrhundert nach
Westen schaut, erkennt leicht, dass erst der
Kalte Krieg Ost und West in Europa zementiert
hat.
Das ist längst Geschichte, aber die Spaltung
besteht fort. Die Geschichte Europas sei offen,
so Diner. Sie weise in Richtung tieferer Integra-
tion oder einer dramatischen Desintegration.
Wer Letzteres nicht will, muss alles tun, um die
Gräben zu überwinden. Dabei hilft, die Per-
spektive des Anderen zu kennen und gemeinsam
zu erkennen: Uns eint mehr, als uns trennt.

TDer Autor (CDU) ist Präsident
des Deutschen Bundestages.

Lesen Sie morgen die Schwerpunkt-Ausgabe
der WELT AM SONNTAG
„30 Jahre Freiheit“ zum Wendejahr 1989.

ESSAY


Die große Spaltung


WOLFGANG SCHÄUBLE

Zwischen Ost und


West scheinen sich


europaweit die Gräben


zu vertiefen. Es herrscht


ein gegenseitiges


Nichtverstehen,


das eine der größten


Errungenschaften


der Revolution


von 1989 bedroht –


die Überwindung


der Teilung eines


ganzen Kontinents


Einst eine gut bewachte Trennlinie,
heute eine Binnengrenze der EU und des
Schengenraumes: Brücke in Frankfurt/Oder
zzzwischen Deutschland und Polenwischen Deutschland und Polen

AFP/GETTY IMAGES

/JOHN MACDOUGALL

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