Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
Wer einen Teil seines Lebens am Griff ei-
nesKinderwagens verbracht hat, kennt
das Phänomen: Das Kind ist klein, der
Geist müde, der Körper eh. Es kann vor-
kommen, dass man im Supermarkt den
Einkaufswagen schaukelt, als müssten
darin die Zucchini beruhigt werden. Weil
Produktentwickler die Verzweiflung
übermüdeter Eltern kennen, gibt es rund
ums Kleinkind nichts, was zu irre wäre,
als dass es nicht Regale füllen oder On-
lineshops zieren würde: Überwachungs-
geräte mit Kamera und Temperaturmes-
sung, aber auch Wippen, die nicht das
Kind dazu animieren sollen, sich zu bewe-
gen, sondern selber bewegt werden.
Doch der Kapitalismus wäre nicht,
was er ist, wäre das Ganze nicht steige-
rungsfähig. Diesmal mit einem Produkt
aus dem Hause Bosch. Der elektrische
Kinderwagen wird als neueste Erfindung
gepriesen. „Schiebeunterstützung und
automatische Bremsfunktion“ hat er, ei-
ne „Alarmfunktion“ und, wie soll es heut-
zutage anders gehen, steuerbar per App.
Wer meint, die Idee sei nur, geschwäch-
ten Eltern das Schieben zu erleichtern,
irrt. „Weit mehr“ sei das, wirbt das Unter-
nehmen. Nämlich „ein Assistenzsystem
für Kinderwagen mit einer umfangrei-
chen Komfort- und Sicherheitsausstat-
tung“. Es schütze das Kind sogar bei einer
Windstärke von bis zu 60 km/h. Solche
Wetterlagen werden tatsächlich auch in
unseren Gefilden häufiger, wenn wir mit
dem Konsum überflüssiger Produkte
den Klimawandel weiter vorantreiben.
Das Produkt ist weniger prophetisch,
als es scheint. Einen selbstfahrenden Kin-
derwagen gibt es bereits. Dass Bosch ei-
nen weiteren präsentiert, könnte damit
zusammenhängen, dass bei der Entwick-
lung „Maßstäbe wie in der Autoindus-
trie“ geherrscht hätten – ein Werbesatz,
der unfreiwillig komisch wirkt.
Das Schwierige am täglichen Kinder-
auslüften ist ja nicht, den Wagen zu schie-
ben. Sondern dass man nachts oft alle ein-
einhalb Stunden wach war und zweimal
Erbrochenes vom Fußboden gewischt
hat. Deshalb geht es nicht um Muskel-
kraft, sondern darum, überhaupt die Au-
gen offen zu halten, regelmäßig Gesun-
des zu essen und zwischendurch Schnul-
ler auszukochen. Die nächste Erfindung
sollte daher eine ausklappbare Matratze
mit Massagefunktion für Erwachsene, ei-
ne integrierte Mikrowelle sowie Spülma-
schine haben. Auch ein Windelschredder
wäre praktisch. Klingt verrückt? Früher
oder später kommt sicher ein Produktent-
wickler von alleine drauf. lea hampel

von philipp bovermann

München –Auf Facebook gebe es 200 Mil-
lionen Singles, sagte Firmengründer
Mark Zuckerberg im vergangenen Jahr
auf der Entwicklerkonferenz F8, als fühle
er sich für all diese einsamen Herzen ver-
antwortlich: „Hier gibt es ganz klar etwas
zu tun.“ Kurz darauf gab die Aktie der
Match Group, zu der unter anderem die
App Tinder gehört, um fünf Prozent nach.
Zuckerberg hatte eine Dating-Funktion
für Facebook angekündigt.
Nun ist sie da, nach einer anfänglichen
Testphase nun offiziell in den USA und 19
anderen Ländern. In Europa soll sie An-
fang kommenden Jahres starten. Sie könn-
te der Social-Media-Plattform neuen Auf-
trieb geben, wenn es auf Facebook plötz-
lich nicht mehr nur darum geht, „Likes“
zu sammeln, also „gemocht“ zu werden –
sondern auch darum, begehrt zu werden.

Zunächst hat Facebook aber erst ein-
mal ein Problem. Das Unternehmen weiß,
dass die Nutzer beim Dating möglicher-
weise lieber einem anderen Dienst ver-
trauen. Einem, der die intimen Details, die
man, so Gott will, mit anderen einsamen
Nutzern austauscht, nicht irgendwann für
Werbekunden auswertet. Oder sie plötz-
lich auf frei zugänglichen Servern herum-
liegen, so wie jüngst die Handynummern
von mindestens 200 Millionen Nutzern.
Um ein bisschen Vertrauen aufzubauen,
hat Facebook die neue Dating-Funktion
in einen eigenen, abgeschotteten Contai-
ner verlagert, als App-in-der-App, ohne
Werbung und offenbar auch ohne Analyse
der sensiblen Nutzerdaten für mögliche
Werbekunden.

Wer mitmachen will, muss sich dafür
ein komplett neues Profil zulegen, nur
den Namen und das Alter zieht Facebook
aus seiner Haupt-App. Anschließend lädt
man bis zu neun Fotos hoch und beantwor-
tet eine Reihe von Fragen, um es potenziel-
len Interessenten zu erleichtern, das Eis
zu brechen. Etwa, wie man sich einen per-
fekten Tag vorstellt. Man kann auch Inhal-
te verlinken, die man bereits auf Face-
book oder Instagram gepostet hat, ohne
dass jemand außerhalb von Facebooks Da-
ting-Welt etwas davon mitbekäme. Kom-
plett außerhalb des Social Media-Kosmos
von Facebook bewegt man sich also eben
doch nicht – aber das tut man bei anderen
Dating-Apps ja auch nicht.
Tinder und Bumble beispielsweise nut-
zen ebenfalls Facebooks Daten. Deshalb
zeigt Tinder an, wie viele gemeinsame
Facebook-Freunde man mit der Person
hat, deren Foto man sich gerade anschaut.
Verhindern, dass man über die eigene Ex-
Freundin, den eigenen Ex-Freund stol-
pert, kann man bei diesen Apps allerdings
nicht – und somit auch nicht, dass umge-
kehrt Freunde und Kollegen interessiert
das eigene Profil studieren. Facebooks Da-
ting-Funktion allerdings lässt sich so ein-
stellen, dass man nur außerhalb des eige-
nen Netzwerks von Freunden und deren
Freunden datet. Umgekehrt lassen sich
auch bestimmte Menschen in den geson-
derten Dating-Container hineinholen.
Aus der normalen Facebook-Freundeslis-
te kann man jemanden als „Secret Crush“
auswählen, einen „heimlichen Schwarm“.
Der kriegt dann eine Benachrichtigung,
dass jemand ihn anschwärmt, in der aber
nicht steht, wer der heimliche Verehrer
ist. Erst wenn beide sich gegenseitig als
„Secret Crush“ markiert haben, enthüllt
das Programm, um wen es sich jeweils
handelt – also so wie auf Tinder, wenn
man ein „Match“ hat. Auch innerhalb von
Gruppen, denen man auf Facebook beige-

treten ist und in Veranstaltungen, die man
besucht hat, kann man heimlich schwär-
men und „matchen“. Man kann sich beim
Dating also innerhalb der sozialen Struk-
turen bewegen, wie sie sich auf Facebook
abbilden – indem man bestimmten Teilen
seines Netzwerks aus dem Weg geht, ande-
re aktiv aufsucht. Das könnte ein entschei-
dender Vorteil für Facebook sein: Andere
Apps bieten zwar auch Verknüpfungen zu
Facebook. Aber nicht die Infrastruktur ei-
nes kompletten sozialen Netzwerks, das
sich im Alltag ständig verändert.

So wie auch die meisten anderen Da-
ting-Apps schlägt einem Facebook mögli-
che Kandidaten vor. Diese Vorschläge
kommen nicht zufällig aus dem Blauen,
sondern stammen von Algorithmen, die
berechnen, wer zu wem passen könnte.
Bei Facebook ermitteln sie sich laut Aussa-
ge des Unternehmens auf der Grundlage
von „deinen Vorlieben, Interessen, und an-
deren Dingen, die du auf Facebook tust“.
Das klingt, gelinde gesagt, nach einer sehr
soliden Datengrundlage. Eine Studie der
Stanford University zeigte, dass Face-
books Algorithmen die Antworten ihrer
Nutzer besser vorhersagen können als der
eigene Ehepartner, sobald man über 300
Likes abgegeben hat. Und darum geht es
beim Dating schließlich: Jemanden zu fin-
den, der einen versteht. Der zu einem
passt. Jemanden, dem man vertraut.
Doch was springt dabei für das Unter-
nehmen heraus? Da der Dating-Bereich
von Facebook werbefrei ist, wirft er wohl
keine direkten Gewinne ab. Allerdings
könnte das soziale Netzwerk, zum Dating-
Spielplatz umfunktioniert, wieder interes-
santer für viele Menschen werden: Laut ei-
ner Untersuchung des PEW Research Cen-
ter haben 2017 fast die Hälfte der US-ame-
rikanischen Nutzer eine zumindest zeit-
weilige Pause von Facebook eingelegt. Die
Jüngeren nutzen häufig lieber Instagram.
Sie könnten die Funktion ausprobieren,
um mit ihren Instagram-Fotos auf Dating-
tour zu gehen – und dabei die klassische,
blaue Facebook-App entdecken, die be-
sonders wertvolle Daten abliefert. In sie
ist das Dating eingebettet.
Davon abgesehen: Wenn auch nur drei
Prozent der rund 2,4 Milliarden Facebook-
Nutzer sich zum Dating anmelden, zieht
der Social-Media-Gigant am bisherigen
Marktführer Tinder vorbei. Ob sich das
Unternehmen dann noch an sein Verspre-
chen erinnert, die Daten nicht für Wer-
bung zu nutzen?

So lautet der Wert in US-
Dollar, auf den die Analysten
des Finanzunternehmens
Nomura Instinet den weltwei-
ten Markt für Onlinedating im
Jahr 2020 schätzen. Ihre Über-
legung: Rund die Hälfte der
Internetnutzer sind Singles.
Ein Fünftel dieser Gruppe
wird Onlinedating ausprobie-
ren, glauben die Analysten.
Das macht über 300 Millionen
Menschen weltweit. Von
diesem Potenzial hat bislang
vor allem die Match Group
profitiert, die Dating-Apps
betreibt, unter anderem
Tinder. Ihr Aktienkurs hat sich
in den vergangenen fünf
Jahren mehr als verfünffacht.

Alles fürs Baby


Die Industrie glaubt, übermüdete
Eltern mit den unnötigsten
Erfindungen ködern zu können

Frankfurt/Berlin– Ein zweites europäi-
sches Konsortium zur Produktion von
Batteriezellen nimmt Formen an. Das
Bundeswirtschaftsministerium erklärte,
derzeit werde das Projekt zwischen meh-
reren europäischen Staaten abgestimmt.
„Innerhalb nur eines Jahres ist es uns ge-
lungen, zwei europäische Großprojekte
zur Batteriezellfertigung auf das Gleis set-
zen“, sagte Wirtschaftsminister Peter Alt-
maier (CDU) demHandelsblatt. Damit sei
man dem Ziel, in Europa eine wettbe-
werbsfähige Batteriezellenentwicklung
und -fertigung aufzubauen, „ein gutes
Stück nähergekommen“. An dem Konsor-
tium seien aus Deutschland unter ande-
rem BMW, BASF, Varta und der bayeri-
sche Batteriehersteller BMZ beteiligt, be-
richtete die Zeitung unter Berufung auf
Insider. reuters

Berlin– Zumindest für Svenja Schulze
ist die Sache klar. „Die Zeit ist reif für ein
Plastiktütenverbot“, sagt die Umweltmi-
nisterin von der SPD. Die große Mehrheit
der Deutschen sehe das genauso. „Ich bin
sicher, dass schon bald kaum einer die
Wegwerftüten vermissen wird.“ Und sor-
gen soll dafür eine winzige Änderung des
deutschen Verpackungsgesetzes. Schon
im nächsten Jahr könnte die Einwegtüte
an der Kasse Geschichte werden.
Am Freitag hat Schulze einen Entwurf
dafür vorgelegt, das Gesetz soll aus ge-
nau zwei Artikeln bestehen. Artikel 1 ver-
bietet alle Tüten, die weniger als 50 Mi-
krometer dick sind, erlaubt aber weiter-
hin jene mit bis zu 15 Mikrometer Dicke.
Kurzum: Was Kunden bislang an der Kas-
se bekommen haben – zuletzt vermehrt
gegen einen Obulus – soll verschwinden.
Die so genannten „Hemdchen-Beutel“
aber, wie sie oft an der Obsttheke aushän-
gen, sollen weiter erlaubt bleiben. „Das
liegt daran, dass es hier noch keine guten
Alternativen gibt“, sagt Schulze. Andern-
falls könne noch mehr Obst und Gemüse
vorverpackt in den Handel geraten als
jetzt schon, und das will die Ministerin
nicht. Schließlich seien die Tüten der „In-
begriff der Ressourcenverschwendung“.
In Kraft treten soll das Gesetz, Artikel 2,
ein halbes Jahr, nachdem es erlassen wur-
de. Das soll dem Handel genug Zeit ge-
ben, seine Bestände zu räumen.


Doch der Handel ist alles andere als be-
geistert von dem Vorstoß. Vor drei Jahren
hatte er mit dem Umweltministerium ei-
ne Selbstverpflichtung geschlossen, um
die Zahl der Plastiktüten zu senken. Die-
se Vereinbarung sei sogar übererfüllt wor-
den, heißt es nun beim Handelsverband
HDE: „Die Einzelhändler haben Wort ge-
halten.“ Schulze aber dreht das Argu-
ment kurzerhand um: Schließlich zeig-
ten die Erfahrungen mit der freiwilligen
Vereinbarung, dass es auch ohne Plastik-
tüte gehe. Immer mehr Menschen griffen
zu Mehrwegbeuteln.


Umweltschützer dagegen begrüßten
das geplante Verbot – warnten aber auch
vor zu hohen Erwartungen. Plastiktüten
machten nur einen kleinen Teil des deut-
schen Plastikmülls aus, warnt etwa Bern-
hard Bauske, Experte für Plastikmüll bei
der Umweltstiftung WWF. Das geplante
Tütenverbot habe deshalb hierzulande
„eher symbolische Bedeutung“. Auch sei
nichts gewonnen, wenn Verbraucher auf
Papiertüten auswichen. „Es muss darum
gehen, Einwegbehältnisse unabhängig
vom Material zu reduzieren“, sagte Bau-
ske. michael bauchmüller


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Milliarden Zweites Projekt für


Batteriezellen


Es ist kompliziert


Facebook bietet in den USA und einigen anderen Ländern künftig eine Dating-Funktion an.
Der Konzern wird damit zu einer echten Konkurrenz für Marktführer Tinder und Co.

„Die Zeit


ist reif“


Umweltministerium will
Plastiktüten verbieten

Aus der normalen Freundesliste
können die Nutzer ihren
„heimlichen Schwarm“ wählen

Umweltschützer fänden es


besser, alle Einweg-Behältnisse


zu reduzieren


DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 HF2 WIRTSCHAFT 27


Nach den Freundschaften möchte sich Facebook nun auch noch um die Liebe kümmern. FOTO: ARTEM BELIAIKIN/UNSPLASH

Tomaten im sogenannten Hemdchen-
Beutel: Den soll es mangels guter Alter-
nativen weiterhin geben. FOTO: IMAGO


ZWISCHEN DEN ZAHLEN


BMW Motorrad komponiert den Sound der Freiheit


und exportiert ihn aus Spandau in die ganze Welt.


Freiheitsklang Berlin


be.berlin

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