Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
Der Himmel ist meist stark bewölkt. Am
Samstagimmer wieder Regen, am Sonn-
tag auch Gewitter.  Seite R14

von susi wimmer

M


arina B. hatte keine Chance.
Als sie sich nach 25 Jahren
Ehehölle endgültig von ih-
rem Mann trennen wollte,
folgte ihr Josip B. frühmor-
gens auf ihrem Arbeitsweg und tötete sie
am Mangfallplatz mit 25 Messerstichen.
Die erste Schwurgerichtskammer am
Landgericht München I verurteilte den
Mann im November 2018 zu lebenslanger
Haft und stellte die besondere Schwere der
Schuld fest. Doch der Bundesgerichtshof
(BGH) hob das Urteil auf, unter anderem
deshalb, weil die Alkoholkrankheit des Tä-
ters nicht ausreichend gewürdigt worden
sei. Bei dem Gewalttäter käme auch eine
Unterbringung in einer Entzugsklinik in
Betracht, so der BGH.
In dieser Woche wurde der Fall erneut
verhandelt – und am Freitag die Unterbrin-
gung in einer Entzugsklinik angeordnet.
„Der BGH hat sich so deutlich positioniert,
dass es sinnlos ist, dagegen anzugehen“,
sagte Richter Norbert Riedmann im Urteil.
Richter sowie Staatsanwälte kritisieren
mittlerweile ziemlich deutlich die aktuelle
Rechtssprechung des BGH. „Wenn einer
mal kurz an einem Schnapsglas gerochen
hat, kommt er schon in eine Entzugskli-
nik“, formulierte es ein Jurist in einem Pro-
zess salopp. Als Folge davon sind die foren-

sischen Kliniken im Bezirk Oberbayern
hoffnungslos überbelegt, das Aggressions-
potenzial unter den Patienten steigt und
„effektive Therapiebedingungen werden
mehr und mehr infrage gestellt“, sagt Pres-
sesprecherin Constanze Mauermayer.
Richter Riedmann ist Vorsitzender der
zweiten Schwurgerichtskammer am Land-
gericht München I und ein Freund deutli-
cher Worte. Als „weichgespülte Vorausset-
zungen“ geißelte er 2018 in einem Urteil
die momentane BGH-Linie beim § 64 des
Strafgesetzbuchs, in dem die Unterbrin-
gung für Alkohol- und Drogensüchtige in
einer Entziehungsanstalt geregelt ist. War-
um der Bundesgerichtshof dafür sorgt,
dass immer mehr Straftäter nicht hinter
Gitter, sondern in den sogenannten Maßre-
gelvollzug kommen, ist unklar. Die Presse-
stelle des BGH könne „weder Entscheidun-
gen des Gerichts inhaltlich bewerten noch
eine Stellungnahme zu fachlicher Kritik
an den Entscheidungen abgeben“, teilt
BGH-Richterin Louisa Bartel mit.
Die Linie, die Strafverteidiger nun ver-
folgen, ist klar: Bei der psychiatrischen Be-
gutachtung ihres Mandanten und vor Ge-
richt einen möglichst exorbitanten Dro-
gen- und Alkoholkonsum angeben. Das
Gegenteil zu beweisen, fällt meist schwer,
auch eine Haaranalyse kann zuweilen
nicht letzte Gewissheit bringen, schon gar
nicht, wenn ein Mehrfachtäter in weiser

Voraussicht den Schädel kahlrasiert trägt.
Der Nutzen des § 64 ist für Straftäter
enorm: Zum einen dürfte der Aufenthalt
in einer Entzugsklinik angenehmer sein
als im Gefängnis. Und, wie Florian Gliwitz-
ky, Pressesprecher am Oberlandesgericht,

erklärt: „Bei einer mehrjährigen Freiheits-
strafe hat der Betreffende nach zwei Drit-
teln der Haftverbüßung die Chance, in
Freiheit entlassen zu werden. Wenn die Un-
terbringung in einer Entziehungsanstalt
angeordnet wird, kann er schon nach der
Hälfte entlassen werden.“ Wer also den
§ 64 zugesprochen bekommt, kann früher
freikommen.
Die Zahlen, die Constanze Mauermayer
vom Bezirk Oberbayern nennt, sind be-

achtlich: Bundesweit habe sich die Zahl
der nach § 64 untergebrachten Straftäter
verdreifacht, „der Anstieg hat sich gerade
in den letzten Jahren eher noch weiter be-
schleunigt“. Der Bezirk ist für die forensi-
schen Kliniken in Haar, Wasserburg und
Taufkirchen/Vils (dort sind nur Frauen un-
tergebracht) zuständig. Mauermayer be-
richtet von Überlastung, dass Stockbetten
aufgestellt werden müssen und sich das
Zusammenleben der Patienten aufgrund
der Enge schwierig gestalte. Um zu deeska-
lieren, müsse Personal eingesetzt werden,
das dann für die eigentliche suchtthera-
peutische Arbeit fehle. Ein Expertenzu-
sammenschluss aus Trägern Psychiatri-
scher Krankenhäuser, Krankenpflegeper-
sonen der Psychiatrie sowie Sozialer
Psychiatrie berichtet zudem, dass „immer
mehr Patienten, denen es primär gar nicht
um die Behandlung ihrer Sucht geht, zuge-
wiesen“ würden. Die Zustände würden die
erfolgreiche Therapie jener Patienten ge-
fährden, die tatsächlich suchtkrank und
therapiemotiviert seien.
Auch Yahia A. profitierte von § 64. Im
August 2019 wurde der 64-Jährige wegen
versuchten Mordes zu elf Jahren Haft ver-
urteilt – und zur Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt, weil er seiner Freun-
din in einem Fahrstuhl heimtückisch ein
Messer in den Rücken gerammt hatte.
„Der Mann war schon einmal gewalttätig

gegenüber Frauen“, sagte die Staatsanwäl-
tin in ihrem Plädoyer. „Die Tat ist nicht sei-
nem Alkoholkonsum zuzuordnen, son-
dern seinem Rollenbild von einer Frau
und seiner extremen Eifersucht.“ Zudem
ist es Voraussetzung für die Verhängung
des § 64, dass für die Therapie eine Erfolgs-
aussicht besteht. Yahia A. hatte bereits
zwei Entgiftungen hinter sich und war im-
mer wieder rückfällig geworden. Zudem
sprach er kein Deutsch. Doch laut BGH ist
das kein Grund, die Erfolgsaussichten der
Therapie infrage zu stellen, denn in Maßre-
gelvollzugsanstalten werden Deutschkur-
se angeboten. Der Richter schien keine
Wahl zu haben: „So wie der BGH das zur-
zeit sieht, liegt der Fall einer Unterbrin-
gung vor“, sagte er im Urteil. Für Yahia A.
bedeutet das konkret, dass er lediglich
dreieinhalb Jahre im Gefängnis sitzt und
dann seinen zweijährigen Entzug antritt,
bei dem er bei guter Führung mit Locke-
rungsstufen wie regelmäßigem Ausgang
rechnen kann. Ohne § 64 hätte der wegen
versuchten Mordes verurteilte Mann erst
nach sieben Jahren und drei Monaten mit
einer Entlassung rechnen können.

Oder Artiomas T., verurteilter Juwelen-
räuber: Er hatte zusammen mit anderen
im April 2017 äußerst brutal binnen 120 Se-
kunden einen Juwelier in Harlaching aus-
geraubt und Uhren und Schmuck im Wert
von 300 000 Euro erbeutet. Sein Verteidi-
ger Wilfried Eysell forderte die Unterbrin-
gung, zumal sein Mandant abhängig von
„Spice“, synthetischen Cannabinoiden,
sei. Staatsanwalt Laurent Lafleur kritisier-
te die BGH-Linie scharf, dass dafür bereits
eine intensive Neigung ausreiche, also gar
keine Abhängigkeit vorhanden sein müs-
se. Es genüge schon, wenn der Angeklagte
zu bestimmten Anlässen Alkohol oder Dro-
gen im Übermaß konsumiere. Richter
Frank Zimmer verzichtete dann aber doch
auf die Anordnung des § 64.
„I bin Schwerstalkoholiker“, mit diesen
Worten erklärte vor zwei Wochen Gerüst-
bauer Herbert P., warum er seinen Bekann-
ten verprügelt, getreten und ihm eine Bier-
flasche über den Kopf gezogen hatte.
Zwölf Halbe und zwei Flachmänner gehör-
ten zu seiner Tagesration, Entgiftungsver-
suche waren bei dem 52-Jährigen nicht
von Erfolg gekrönt. „Wissen Sie, was so ein
Entzug im Monat kostet“, fährt ihn Psychi-
ater Karl-Heinz Crumbach im Prozess an.
„9000 Euro!“ Dominik Konther, Presse-
sprecher von Zentrum Bayern Familie und
Soziales, das die Fachaufsicht über den
Maßregelvollzug in Bayern innehat, will
und kann keine konkreten monatlichen
Kosten für einen Entzug nennen, das sei
pauschal nicht möglich. Er bestätigt aller-
dings, dass die Zahl der Männer und Frau-
en in den 14 bayerischen Entzugskliniken
stetig anwachse, bayernweit waren es im
vergangenen Jahr 1565 Patienten, vor zwei
Jahren noch 200 weniger.
Die Experten aus der Forensik hatten
sich im März in einem Brandbrief an die da-
malige Bundesjustizministerin Katarina
Barley gewandt und eine Novellierung des
§ 64 gefordert. Auf Antwort warten sie bis
heute. Im Herbst tagt die Justizminister-
konferenz. Man hoffe, dass dort der Para-
graf geändert werde, „im Sinne der Patien-
ten, für die der Maßregelvollzug gedacht
und hilfreich ist“, sagt Mauermayer.

von anna hoben

B


ei dem Firmennamen Osram han-
delt es sich um ein sogenanntes
Kofferwort, das sich aus den chemi-
schen Elementen Osmium und Wolfram
zusammensetzt. Der österreichische Che-
miker und Schöpfer der Marke Osram,
Carl Auer von Welsbach, leistete einst ei-
nen wichtigen Beitrag zur Erfindung der
Glühlampe. Für die in diesem Jahrtau-
send Geborenen: Das waren jene birnen-
förmigen Lichtquellen, mit denen man
grob in der Zeit zwischen Kerzen und Han-
dy-Displays die Räume erleuchtete.
„Hell wie der lichte Tag“, so lautet der
Werbeslogan des Münchner Unterneh-
mens Osram, der als aus Leuchtröhren be-
stehender Schriftzug seit 60 Jahren an
dem Gebäudeensemble am Stachus
prangte. Einmal links: „Osram – hell wie
der lichte Tag – Osram“. Und einmal
rechts: „Osram – hell wie der lichte Tag –
Osram“. Das war vor allem wegen der Ver-
wendung des Adjektivslichtnicht ohne ei-
nen gewissen Charme; ein Wort, das heu-
te in einem Museum der Wörter zu su-
chen wäre und nur noch in Verbindung
mithellgebräuchlich ist, nämlich dann,
wenn es um ein Verbrechen geht: „Es ge-
schah am helllichten Tag.“
Am helllichten Tag ist nun in dieser
Woche am Stachus eine Tat begangen
worden, die für manche in der Stadt ei-
nem Verbrechen gleichkommt. Die Firma
Osram hat ihren Schriftzug entfernt, und
zwar ohne vorher alle Münchner zu befra-
gen. Sie hat dies getan, nachdem sie den
Schriftzug mit LED-Technologie moder-
nisieren wollte, wegen des Klimaschut-
zes, und die Stadt es nicht genehmigte,
wegen des Denkmalschutzes. Falls die
Verwaltung die Reklame schon länger los-
werden wollte und nur nicht wusste, wie,
könnte man sagen, dass sie die Gelegen-
heit ganz geschickt genutzt hat.
Der darauf folgende Aufschrei in den
sozialen Medien aber war ungefähr so,
als wäre über Nacht das Schloss Nym-
phenburg abgerissen worden. „München
hat ein Wahrzeichen weniger. München
ist nicht mehr das, was es mal war. Mün-
chen wird immer weniger attraktiv. Tradi-
tion hat in München ja schon längst verlo-
ren.“ Ohne Leuchtreklame scheint der
Stachus zu einem Stück Dunkeldeutsch-
land zu werden. Man könnte dem man-
ches entgegnen. Dass man das neobaro-
cke Rondell ohne Werbung eventuell äs-
thetischer finden könnte als mit. Oder
dass München ja wohl kaum im Verdacht
steht, dereinst als jene Stadt in die Ge-
schichtsbücher einzugehen, in der die
Tradition als erstes starb. Doch gegen das
„Alles soll so bleiben, wie es ist“-Phäno-
men, das immer dann seinen Auftritt hat,
wenn sich etwas im Stadtbild verändern
soll, hat all das wenig Chancen.
Die CSU hingegen wittert nun ihre
Chance. In einem Anflug größter Bürger-
nähe bittet sie die Verwaltung in einem
Antrag, „erneut mit Osram in Kontakt zu
treten, um eine pragmatische Lösung für
den Verbleib des Schriftzugs am Stachus
zu finden“. Der sei „inzwischen ein eta-
blierter und für die Münchner Bevölke-
rung identitätsstiftender Bestandteil des
Ensembles am Stachus“. Bedenken des
Denkmalschutzes müssten „in Relation
zu dieser Traditionslinie gewichtet wer-
den“. Vielleicht werden die Buchstaben al-
so wieder aus dem Lager geholt. Und alles
kann endlich so werden, wie es war.

14 °/10°


Ihr Lokalteil auf Tablet und Smart-
phone:sz.de/zeitungsapp

Anna Hoben findet nicht,
dassalles so bleiben soll,
wie es ist.

Rita Falk startet im Circus Krone
die Lesetour für ihren
zehnten Krimi  Kultur, Seite R18

des Strafgesetzbuchs regelt:

„Hateine Person den Hang,
alkoholische Getränke oder
andere berauschende Mittel im
Übermaß zu sich zu nehmen,
und wird sie wegen einer
rechtswidrigen Tat, die sie im
Rausch begangen hat oder die auf
ihren Hang zurückgeht, verurteilt
oder nur deshalb nicht verurteilt,
weil ihre Schuldunfähigkeit
erwiesen oder nicht
auszuschließen ist, so soll das
Gericht die Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt anordnen,
wenn die Gefahr besteht, dass sie
infolge ihres Hanges erhebliche
rechtswidrige Taten begehen
wird. Die Anordnung ergeht nur,
wenn eine hinreichend konkrete
Aussicht besteht, die Person durch
die Behandlung in einer Entzie-
hungsanstalt (...) zu heilen
oder über eine erhebliche
Zeit vor dem Rückfall in den
Hang zu bewahren (...).“

Wie der Linienverkehr mit Luftschiffen
vor hundert Jahren die Münchner
faszinierte  München, Seite R4

§
64

Dieleeren Gänge trügen: In Wahrheit wird die forensische Abteilung im Isar-Amper-Klinikum in Haar (Bild oben) immer voller, weil dort immer mehr verurteilte
Straftäter für eine Therapie untergebracht werden. Damit entgehen sie – zumindest eine Zeitlang – dem Zellentrakt der JVA Stadelheim. FOTOS: CLAUS SCHUNK


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Bleibt alles


anders


Immer wenn in Unterflossing die Mutter Gottes erscheint,
werden Spenden gesammelt. Nun jedoch keimt dort
der Verdacht der Gaunerei  Bayern, Seite R15

Entzug statt Vollzug


Immer mehr Straftäter landen in einer Klinik statt im Gefängnis. Das liegt vor allem daran,
dass der Bundesgerichtshof diese Linie vorgibt – zum Ärger vieler Juristen und zu Lasten der Patienten

Süddeutsche Zeitung München, Region und Bayern
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Eberhofers Erfolg


FOTO: ASTRID ECKERT

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