Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
von anna hoben

E


s war eine Art „Friday for Futu-
re“, was sich vor ziemlich genau
hundert Jahren auf dem Ober-
wiesenfeld abspielte, dem Ge-
lände des heutigen Olympia-
parks. „Das Zauberwort Der Zeppelin
kommthat auch heute wieder, als das Luft-
schiff auf seiner ersten Fahrt von Fried-
richshafen nach Berlin in München eine
Zwischenlandung vornahm, seine Wir-
kung ausgeübt“, schrieben dieMünchner
Neuesten Nachrichten(MNN) am Freitag,
dem 12. September 1919, in ihrer Abend-
ausgabe. „In starken Scharen waren die
Münchner, voran die Schuljugend, auf das
Oberwiesenfeld gepilgert, um die Ankunft
des neuesten Zeppelin-Luftschiffes zu er-
warten.“ Vor allem junge Leute wollten
sich den Zeppelin, Symbol technischen


Fortschritts, nicht entgehen lassen. Luft-
fahrt war damals noch nicht mit Begriffen
wie CO2-Steuer und Flugscham verknüpft,
sondern eine großartige Sache. Ein Zu-
kunftsversprechen.
Zehn Jahre war es her, dass 1909 schon
einmal ein Zeppelin auf dem Oberwiesen-
feld gelandet war, ebenfalls beobachtet
von vielen Schaulustigen und Neugieri-
gen. Diesmal war der LZ 120, das Luftschiff
„Bodensee“, um 8.07 Uhr in Friedrichsha-
fen aufgestiegen; um 9.20 Uhr sollte es in
München ankommen. „Es wurde jedoch
9 Uhr 30, bis sich die Silhouette des im Son-
nenlichte silbern glänzenden Schiffes am
Horizont in der Richtung von Südwest ab-
hob“, berichteten die MNN. Das Luftschiff
nahm Kurs über die Stadt, fuhr dann zum
Oberwiesenfeld, machte von da eine große
Schleife nach Norden und landete schließ-
lich um 9.55 Uhr „auf dem durch eine weiß-

rote Flagge gekennzeichneten Platz, wo
Luftschiffer die ausgeworfenen Seile er-
griffen und die Landung vollendeten“.
Es stiegen 13 Fahrgäste aus und 14 ein,
sie hatten schon mit ihrem Handgepäck be-
reitgestanden. Nach einem 20-minütigen
Aufenthalt stieg der Zeppelin wieder auf,
nahm Kurs auf Dachau und war schon bald
den Blicken der Zuschauer entschwunden.

Tags darauf gab es auf der ersten Seite der
MNN einen Sonderbericht über die Fahrt
mit dem Zeppelin. Sechs Stunden Fahr-
zeit, so schrieb der Autor, „das ist eine Leis-
tung, die sich um so mehr sehen lassen
kann, als sie nun etwas Alltägliches gewor-
den ist und nicht etwa nur eine sportliche
Einzelleistung darstellt. So hat man denn
allen Grund, den heutigen Tag in der Ge-
schichte des Verkehrs zwischen den Haupt-
städten des deutschen Nordens und des
deutschen Südens rot anzustreichen.“
Bis Anfang Dezember 1919 fuhr der Zep-
pelin „Bodensee“ im Linienverkehr zwi-
schen Friedrichshafen und Berlin-Staaken
hin und her; 15 Mal machte er dabei in Mün-
chen Station. Für die 600 Kilometer benö-
tigte er etwa sechs Stunden, die schnellste
Fahrt dauerte nur vier Stunden – so viel
wie heute die schnellste Bahnverbindung
von München nach Berlin.

Am meisten erzählt über eine Universität
wahrscheinlich ihre Bibliothek. Die
Ecken in den Buchseiten, die Notizen auf
den Tischen. Reliquien von tausenden
Studenten. Die Bibliothek in der Lichten-
bergstraße 6 in Garching aber sieht an-
ders aus. Man findet sie gleich hinter
dem Eingang, auf der linken Seite. In den
Schränken stehen keine Bücher, sondern
Bohrmaschinen. Sensoren, Halbleiter,
Drohnen, und vieles andere, was denkbar
wenig mit Büchern zu tun hat. In diesem
Haus wird aber ja auch nicht erforscht,
was in der Vergangenheit passiert ist. Son-
dern vielmehr, was in der Zukunft passie-
ren wird.
Das Haus gehört zur Unternehmer-
TUM, dem Gründungszentrum der Tech-
nischen Universität München. An diesem
Wochenende werden mutmaßlich noch
einmal mehr Bohrmaschinen ausgelie-
hen als sonst, denn für drei Tage kom-
men hunderte Tüftlerinnen und Tüftler
zu einem Hackathon zusammen, den
man auch als Rätselmarathon bezeich-
nen könnte. An diesem Wochenende ge-
schieht genau das, was die Gründerin der
Unternehmer-TUM Susanne Klatten im
Sinn hatte: Die Forschung und die Wirt-
schaft arbeiten gemeinsam an der Lö-
sung von Problemen.
Sieben Unternehmen stellen also eine
Aufgabe, beschreiben ein Problem. Sie
müssen für die Teilnahme zahlen, erhof-
fen sich im Gegenzug neue Lösungen von
außen. Da ist zum Beispiel ein Hersteller
von sogenannten Wandfarbsprühpisto-
len, der festgestellt hat, dass es immer we-
niger Maler für seine Pistolen gibt und
deshalb möchte er nicht mehr nur die her-
stellen, sondern auch das Malen überneh-
men. Am liebsten automatisiert. Da ist
der Hersteller von Auspuffen, der ein neu-

es Geschäftsmodell sucht, weil er seine
Auspuffe gerne in andere Dinge einbau-
en möchte als alleine in Autos mit Ver-
brennungsmotor, die ja keine allzu glän-
zende Zukunft vor sich haben. Und da ist
das Pharmaunternehmen, das gerne
wissen würde, wie man Insulin auf der
Welt fairer verteilen könnte, weil viele
Menschen keinen Zugang zu dem Medi-
kament hätten. „Wir hoffen, dass die
Teams unser Geschäftsmodell komplett
in Frage stelle werden“, sagt einer der Mit-
arbeiter.

Am Tisch nebenan arbeitet ein Stu-
dent der Betriebswirtschaftslehre und In-
formatik bereits daran. Er hat seine Lö-
sung mal eben auf ein großes Blatt Papier
gezeichnet: ein Chip, eine App, ein Auto-
mat. An dem soll sich jeder Patient, der In-
sulin verschrieben bekommen hat, sein
Medikament abholen können. Aber nur
eine kleine Menge, um zu vermeiden,
dass das Insulin am Ende am Schwarz-
markt landet. Deshalb auch der Chip, des-
halb die App.
Um sich gegen die anderen Gruppen
durchzusetzen, die über das gleiche Pro-
blem nachdenken, und vor allem auch
noch gegen die anderen Teams mit ande-
ren Aufgaben, wird es allerdings mehr
brauchen als diesen Zettel. Das Ziel der
Gruppe ist, dass sie schon in eineinhalb
Tagen, am Sonntag, einen Automaten vor-
stellen können, und auch eine App.
Sie werden dafür aber erst noch zur
„Hardware Library“ gehen müssen. Viel-
leicht eine Bohrmaschine holen. ratz

Der Prozess um den Tod eines 13-jähri-
gen Ruderschülers des Münchner Wil-
helmsgymnasium am 19. April 2015 im
Starnberger See droht zu platzen. Die bei-
den Übungsleiter des Münchener Ruder-
Clubs (MRC) in Starnberg waren zwar be-
reits vor knapp vier Jahren wegen fahrläs-
siger Tötung durch Unterlassen vor dem
Landgericht München II angeklagt wor-
den, weil sie gegen die Aufsichtspflicht
und die Sicherheitsrichtlinien des Deut-
schen Ruderverbandes bei dem Jugend-
training verstoßen hätten. Doch erst
nach weiteren drei Jahren wurde das Ver-
fahren an das Amtsgericht Starnberg ver-
wiesen, das nun überlegt, den Prozess ge-
gen die Angeklagten wegen fehlenden öf-
fentlichen Interesses nach Paragraf 153a
gegen eine Geldauflage von 50 000 Euro
und 12 000 Euro einzustellen.
„Dies wäre ein fatales Signal, und das
nicht nur für die Eltern des ertrunkenen
Kindes“, empört sich Anwältin Annette
von Stetten, die die Eltern des Gymnasias-
ten als Nebenklägerin vertritt. Sie kriti-
siert, dass das Verfahren „verschleppt“
worden sei. Sie spricht von einem „Justiz-
skandal“, weil es der Staat nicht geschafft
habe, in den viereinhalb Jahren seit dem
Unglück zu einem Urteil zu kommen.
Denn hier gehe es aus ihrer Sicht um „gro-
be Fahrlässigkeiten, nicht unerhebliche
Straftaten und den Tod eines Kindes“, be-
tont von Stetten. Sie verweist auch auf
zwei Gutachten, in denen das Ausmaß
der Verschuldens der beiden Rudertrai-
ner „mehr als deutlich“ werde.
Es gebe verschiedene Überlegungen,
wie es in diesem Verfahren weitergehen
könnte, sagte auf Anfrage Franz von Hu-
noltstein, Sprecher des Amtsgerichts
Starnberg. Dass hierbei auch geprüft wer-
de, das Verfahren gegen Geldauflagen ein-
zustellen, könne er „nicht dementieren“.
Eine weitere Stellungnahme wolle er
aber derzeit zu dem Fall nicht abgeben.
Auch die Staatsanwaltschaft München II
will sich jetzt nicht konkret äußern; die
Angeklagten waren nicht zu erreichen.
Der Junge war im acht Grad kalten
Wasser des Sees ertrunken. Er hatte als
Anfänger an dem Jugendtraining teilge-
nommen und war bei starkem Nordost-
wind in seinem Einer-Rennboot abgetrie-
ben, während sich die restliche Ruder-
gruppe den Ermittlungen zufolge in ih-
ren Mannschaftsbooten außer Sichtwei-
te in Richtung Berg entfernte. Der 13-Jäh-
rige war nur leicht bekleidet, hatte kein
Handy dabei und trug auch keine
Schwimmweste, als er offenbar beim
Kampf gegen Wellen und Böen ins kalte
Wasser fiel. Er wurde erst sechs Tage spä-
ter aus 35 Metern Tiefe und 425 Meter
vom Starnberger Ufer entfernt aus dem
See geborgen. christian deussing

Zauberwort Zeppelin


Vor hundert Jahren fuhr die „Bodensee“ im Linienverkehr zwischen Friedrichshafen und Berlin


und stoppte dabei in München. Das Luftschiff erschien den Menschen wie ein Zukunftsversprechen


Die „Bodensee“ wurde
fürden innerdeutschen
und europäischen
Passagierverkehr gebaut
und landete auf ihrer
Fahrt nach Berlin auch
in München. Bis zu
30 Passagiere fanden
darin Platz.
FOTOS: SZ PHOTO/SCHERL

Wie könnte das Medikament Insulin fairer verteilt werden? Das will die Gruppe an
diesemWochenende herausfinden. FOTO: FLORIAN PELJAK

Drei Tage, sieben Fragen


Studenten helfen Unternehmen beim Lösen von Problemen


Ohne Aufsicht


ertrunken


Prozess gegen zwei Ruderlehrer
wackelt – „fatales Signal“

Ein Chip, eine App,
ein Automat –
erlaubt ist alles


R4 MÜNCHEN Samstag/Sonntag,7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH


SZ-ServiceZentrum
Fürstenfelder Straße 7
80331 München

Öffnungszeiten:
Mo. –Do. 9.30 bis 18 Uhr
Fr. –Sa. 9.30 bis 16 Uhr

Kommen Sie doch persönlich vorbei:


Anzeige

Globalisierung, Migration und der gleichzeitige Verlust religiöser
Bindungen haben aus unseren Städten Orte der Vielfalt gemacht,
religiöse „Mega-Citys“. Aber was glauben die Menschen? Welche
Erwartungen haben die Gläubigen an Demokratie und Rechts-
staat? Björn Bickers Text, entstanden aus Interviews mit Ange-
hörigen verschiedenster Glaubensrichtungen, zeichnet in einer
Mischung aus chorischem Spiel und erzählenden Passagen ein
Bild der Glaubensvielfalt in Deutschland.
Die Schauspieler Edgar Selge und Jakob Walser, Vater und Sohn,
stellen mit dem Text die Frage danach, welche Rolle Glaube in
unserer Gesellschaft spielt: Was glauben wir? Was glauben „die“?
Wer sind „die“, und wer „wir“ – und wo soll das alles hinführen?

Edgar Selge & Jakob Walser – Was glaubt ihr denn
Residenz, Allerheiligen-Hofkirche, Fr., 06.12.19, 17 und 20 Uhr
* über die Telefon-Hotline und im SZ-ServiceZentrum

Edgar Selge


& Jakob Walser


Was glaubt ihr denn


20
%
RABATT
für SZ-Leser *
20
%
RABATT
für SZ-Leser *

Belcanto-Operngala


mit Elena Mosuc‚


#Genesis


Starting Point


Im Oktober ist die dramatische Koloratursopranistin gemeinsam
mit weiteren internationalen Gesangssolisten bei der Belcanto
Operngala in der Münchner Philharmonie zu erleben. Auf dem
Programm stehen die schönsten Arien und Duette aus berühmten
Belcanto-Opern von Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi u.a.

Rhein-Main-Philharmoniker, Elena Mosuc‚ (Sopran)
Gasteig, Philharmonie, Mi., 09.10.19, 20 Uhr
* über die Telefon-Hotline und im SZ-ServiceZentrum

Die israelische Regisseurin Yael Ronen wendet sich nach ihrer
Inszenierung „Point of No Return“ an den Kammerspielen nun
dem „Starting Point“ zu und wird da nachlesen, wo vermeintlich
alles begonnen hat: Das 1. Buch Mose, hebräisch Bereschit,
altgriechisch Genesis genannt, beschreibt die Erschaffung der
Welt. Gemeinsam mit dem Ensemble untersucht sie einzelne
Fragmente der Genesis, um zu erkunden, auf welche Weise uns
die biblischen Bilder geprägt haben und was sie uns heute be-
deuten. Während die Genesis wie viele andere Mythen zur Orien-
tierung und Identitätsfindung archaischer Kulturen diente, stützt
sich die Inszenierung auf die Frage, welche Perspektive wir heute
zu einzelnen Themen einnehmen und was aus der Welt geworden
ist, die dem Menschen zu Beginn der Genesis überantwortet wird.

#Genesis – Starting Point (in deutscher und englischer Sprache)
Münchner Kammerspiele
So., 06.10., Fr., 11.10. und Sa., 19.10.2019, jeweils 20 Uhr

© Paulo César

© David Baltzer
Free download pdf