T
öchter können grausam sein.
Mankanneinfach nicht vorher-
sehen,wann es so weit ist, dass
sie ihr Elternhaus gegen ein
neues Leben eintauschen. Und
was, wenn dieses neue Leben nichts
mehr mit dem alten zu tun haben soll?
Maik Messing hat seine Tochter, die er
Leo nennt, manchmal „meine kleine
Leo“, vor vier Jahren auf diese Weise ver-
loren. Eines Tages, es war der 12. März
2015, verließ Leonora Messing das Haus
in Breitenbach im südlichen Harzvorland
und verschwand. Spurlos zunächst.
Ihr Vater hatte einen Monat zuvor
seine zweite Frau geheiratet. Doch das
konnte der Grund nicht sein. Das Kind
verstand sich gut mit seiner Stiefmutter,
und auch sonst schien der Teenager
keine Probleme zu haben. Sie interes-
sierte sich neuerdings sogar für den Is-
lam. Es dauerte sechs Tage bis zu einem
Lebenszeichen.
„Ihrer Tochter gehtes gut“, ließein Un-
bekannter wissen. Sie sei „angekom-
men“.
Maik Messing verstand nicht, erinnert
er sich heute. Angekommen, wo?
„Sie ist zu Hause.“
Leonora war zu diesem Zeitpunkt
15 Jahre alt. Und sie war in den Islami-
schen Staat abgehauen.
„Manhat innerlich dasBilddes Schwie-
gersohns“, sagt Maik Messing, „einer
schwarz vermummten Gestalt, und sie
verkörpert symbolhaft das, woran ich
meineTochter verlo-
ren habe. Dieser
Mann steht für den
Terror des Kalifat-
staats, fürdieRekru-
tierung, für die vie-
len Lügen, für das
viele Leid, das auch
wirerfahren haben.“
Aber er nennt ihn
Schwiegersohn.
„Ja“, sagt Maik
Messing, Jahrgang
1972,„das erstaunt jeden.“ Aber was ihm
anderes übrig bleibe, fragt er, als den Va-
terseinerEnkelkinder als solchen anzuer-
kennen.
Nicht jederVater bekommt denSchwie-
gersohn, den er sich wünscht. Messing
bekam einen, der ihn die überwiegende
Zeit spüren ließ, „wer am Drücker ist“.
Nihad nenntersich.Er hat eineBlitzra-
dikalisierung hinter sich, die aus einem
Schweißer aus Zeitz in Sachsen-Anhalt
namens Martin Lemke binnen weniger
Monate den IS-Kämpfer Abu Yasir al-Al-
mani macht. In Videobotschaften prahlt
er, dass er Menschen enthaupte für den
„Dschihad“. Er nimmt Messings Tochter
zur Drittfrau, zwei Kinder zeugt er mit
ihr, während er beim IS Karriere macht.
Er sollMitglied derSittenpolizei desKali-
fats gewesen und später zu einer wichti-
gen Figur des Amnijat aufgestiegen sein,
des verrufenen Staatsschutzes, einer Art
islamistischer Gestapo. Er selbst sagt, er
habe nur Computer repariert. Derzeit
wartet er in einem kurdischen Gefängnis
auf einen Prozess.
Schwiegersohn. Es ist auch das Wort,
mit dem Maik Messing um seine Familie
kämpft. Und am liebsten würde er keine
große Sache daraus machen. Messing,
der sich frühmorgens lange vor der Däm-
merung unbemerkt aus dem Haus
schleicht, um in seine Backstube zu fah-
ren, ist ein gewohnheitsmäßig stiller
Mensch. Trotzdem hat er sich mit den
Journalisten Georg Heil und Volkmar Ka-
bisch für ein Buch zusammengetan – es
heißt „Leonora. Wie ich meine Tochter
an den IS verlor – und um sie kämpfte“,
erschienen ist es im Econ Verlag, eine
ARD-Fernsehdokumentation wird am 9.
September um 22.50 Uhr gesendet. Und
jetzt muss er darüber reden, an einem
sonnigen Sommertag in der lärmenden
Hauptstadt.
ErsitztaneinemfürsolcheZweckevor-
gesehenen langen Holztisch, umgeben
von den Büchern des Verlages, und sein
kleinerHof mit den drei Hunden, den Po-
nys und den vielen Hektar Land sind weit
weg,wennersagt,dasserhabezeigenwol-
len,was hinter der „Bild“-Schlagzeile von
der „schönen Leonora“ stecke, die sich
den Gotteskriegern angeschlossen habe.
Vielleicht, sagt er, könne er damit andere
Jugendliche zur Besinnung bringen und
vor dem fatalenSchrittbewahren.
Seit der IS zerschlagen ist und seine
versprengten Reste sich in syrischen und
nordirakischenLagern sammeln,hat Mes-
sings Buch eine ganz andere Bedeutung.
In Deutschland wird diskutiert, was mit
den überlebenden Anhängern des IS und
ihren Familien geschehen soll. Im kurdi-
schen Einflussgebiet sollen 40 IS-Kämp-
feraufihre Auslieferung warten.DieBun-
desregierung tut sich schwer, sie nach
Deutschland zu holen, wo selbst die
Frauen der Kämpfer als Sicherheitsrisiko
eingestuft werden. Im Juni entschied ein
Gericht über die Rückreise einer Mutter
mit ihren drei Kindern. Aus gesundheitli-
chen Gründen.
Unterden 70aufgegriffenenFrauen fin-
den sich viele jüngere wie Leonora, die
ihre Unschuld beteuern und flehentlich
bitten, heimkehren zu dürfen. Wir haben
genug vom Krieg, sagen sie.
Doch das Mitleid für ihr Schicksal hält
sich hierzulande in Grenzen. Messings
Leidensgeschichte lässt sich deshalb
auch als Appell verstehen, seine mittler-
weile 19-jährige Tochter nicht als
Fremde zu betrachten. Es gehörte so we-
nig dazu, dass sie aus der heilen Welt
kippte, die er ihr zu bieten versucht hatte,
ein pubertierender Teenager, der nicht
überblickte, was er tat. „Sie hat uns keine
Chance gegeben, das zu verhindern.“
Dabei ist die Bindung zum Vater eng.
Beide gehen 2013 durch eine schwere
Phase, als sich Messings erste Frau von
ihm trennt und auch Leonora über Nacht
eine wichtige Vertraute verliert. Trotz-
dem läuft es weiterhin gut in der Schule.
Leonora ist Klassensprecherin, spielt in
der Schülerband, liest älteren Menschen
im Pflegeheim aus der Zeitung vor. Ihr
ausgeprägter Gerechtigkeitssinn impo-
niert den Lehrern und wird eigens im
Zeugnis vermerkt. Zu schön, um wahr zu
sein?, hat sich Maik Messing oft gefragt.
Was hätte ihm auffallen müssen? Die
Frage rotiert in seinem Kopf: Warumwa-
rumwarum!
Schmale Straßen, kein Handynetz,
eine überschaubare, konservative Welt,
in der Leonora jeden kennt, wenn es auch
kaumMädchen inihremAltergibt. Wenn
dieMessingsihre Tochter bei einerFreun-
din abliefern, verschwindet sie im Haus
und man kann sie zur verabredeten Zeit
wiederabholen.Dasssie inder Zwischen-
zeit nach Frankfurt am Main reist, um
dort Mitglieder ihrer sich radikalisieren-
den Muslima-Clique zu treffen, erfahren
die Eltern erst viel später. Es handelt sich
um Mädchen wie sie selbst auf der Suche
nach einer neuen Identität. Sie tauchen
ein in eine mysteriöse Welt voller Regeln
und fremdartiger Ausdrücke wie „alham-
dulillah“ oder „SubhanAllah“, mit denen
sie ihre Unterhaltungen spicken.
Es gibt Interviews mit Leonora aus
dem Flüchtlingslager Al-Haul. Darin be-
richtet sie von diesen Anfängen. Zuerst
sei sie gar nicht auf dem „Isis-Trip“ gewe-
sen, erzählt sie einem „Stern“-Reporter.
„Irgendwie bin ich, so richtig weiß ich es
auch nicht, durch das Internet zum IS ge-
kommen.“ Sie lernte eine Französin ken-
nen,die in Leipzig einen Internetshop für
islamische Kleidung unterhielt. Sie
wurde in eine Whatsapp-Gruppe aufge-
nommen. „Das geht ganz schnell. Dann
war ich mittendrin.“ Als sie sich „bede-
cken“ wollte, wusste sie, dass sie das in
ihrem Umfeld niemals würde durchset-
zen können. „Ich dachte damals, wenn
ich nach Syrien ginge, würde ich das isla-
mische Leben führen können, mit mei-
nem Mann und Kindern.“
Das ist das Versprechen, mit dem das
selbst ernannte Kalifat Gläubige aus aller
Weltanlockt: dasssie dortnicht angefein-
det würden. Tatsächlich erzeugt der
Krieg in Syrien, in dem Muslime gegen
Nicht-Muslime und Muslime gegen Mus-
lime kämpfen, einen riesigen Heirats-
markt. Im Internet suchen die meist nicht
minder entwurzelten Kämpfer nach
Frauen, mit denen sie ihren Status festi-
gen können. So wird Leonora an Martin
Lemke alias Nihad vermittelt. Seine Posi-
tion im IS erlaubt ihm, sich neben den
zwei Frauen, die er bereits unterhält,
noch eine dritte zu leisten.
Was Leonora „Auswandern“ nennt, ist
akribisch vorbereitet. Maik Messing fin-
det später sogar eine Packliste. Einen Ab-
schiedsbrief vollendet seine Tochter
nicht. Einer Freundin gegenüber gesteht
sie, dass sie „ja keinen Stress“ mit ihren
Eltern habe. „Aber ich will anders leben.
Ich muss mich total verstellen. Ich führe
voll das Doppelleben.“
Aus den Chatverläufenerfährt Messing
später, dass die Mädchengruppe sich im
Internet gegenseitig „auf Kurs gebracht“
hat. Immer, wenn eines zu wanken be-
ginnt,wird esvonihrenFreundinnenwie-
der aufgebaut, wobei Leonora unter einer
falschen islamischen Identität auf Face-
book besonders eifrig religiöse Fragen
erörtert. Sie spielt sich als Expertin auf
und spricht von der „Pflicht“, den „Ge-
schwistern“ in Syrien zu helfen.
Warumsiehtdas Mädchen, das kurzzu-
vor noch Beauty- und Lifestyle-Videos
ins Netz gestellt und Kreuzfahrtreisen
mit den Eltern unternommen hat, nicht
die Gefahr? Wie können ihr die Gräuel
verborgen bleiben, von denen zu der Zeit
alle Medien berichten?
„Ich kann den Menschen nicht die
Angst vor ihr nehmen“, sagt Messing.
Und er gesteht, dass seine geliebte Toch-
ter sich „zur Täterin“ gemacht habe.
„Auch wir müssen ihr erst wieder ver-
trauen können.“
Erstaunlicherweise reißt der Faden zu
Leonora nie gänzlich ab. Zwar verhängt
Nihad wiederholt mehrwöchige Kontakt-
sperren oder der Internetzugang bricht
zusammen, danach meldet sich das Mäd-
chen jedoch jedes Mal wieder aus dem
IS-Kernland, wo es zunächst in einer
Wohnung mit mindestens einer der bei-
den anderen Ehefrauen lebt. Maik Mes-
sing wird in eine Welt hineingezogen, die
ihm fremder nicht sein könnte. Er weiß,
wo Syrien liegt. „Aber von Rakka hatte
ich noch nie gehört.“
In Chats tauschen sich er und Leo nun
beinaheintensiveraus als vorher.Sie mel-
det sichnach einem festgelegtenSchema.
Er organisiert seinen Alltag danach. Und
jetzt, die Sonne im Rücken, wundert er
sich immer noch darüber, wie er das aus-
halten konnte. „Mein Kind sitzt in Rakka,
wo das leibhaftige Böse wütet, und feiert
mit der französischen Zweitfrau eine
Party,weiles irgendwo Weichkäse zukau-
fen gab. Und ich er-
fahre davon, weil
Leo mir die Musik
von Helene Fischer
schickt, ,Atemlos
durch die Nacht‘.“
So was, sagt Mes-
sing, sei niemandem
zu erklären. Abgese-
hen davon, dass es
niemandem erklärt
werdendarf.Diebei-
den Frauen begeben
sich in Lebensgefahr mit diesem Treiben,
wenn es nach Außen dränge. Der Vater
darfkeinenMenschenmerkenlassen,wie
vieler aus demInneren desIS erfährt.
„Hast du was Neues gehört?“
„Ja, es geht ihr gut.“
„O.k.“
Auf solche kurzen Wortwechsel be-
schränkt sich der Austausch im Dorf.
Nun ist er es, der ein doppeltes Leben
führt. Mit Kommentaren hält er sich be-
wusst zurück, seine Naivität schürt das
Interesse der Tochter, ihm die Lage zu er-
läutern. Luftschläge und Bodenoffensi-
ven bekommt Messing quasi live mit,
ebenso wie die wachsenden Spannungen
zwischen Nihads Ehefrauen. Eifersüchte-
leien vergiften das Hausklima so stark,
dass Nihad seine Familie auf verschie-
dene Wohnungen aufteilt.
Damit ist die Möglichkeit gekommen,
über eine Flucht aus Rakka nachzuden-
ken. SchonwenigeMonate nachihrerAn-
kunft will sienichts wieweg. EinerFreun-
din vertraut sie an: „Das Leben an sich in
dieser Stadt ist eigentlich normal. Aber
ich komme hier nicht klar. Ich kann nicht
ohne meine Familie sein und auch nicht
hier sein, wenn solche Menschen über
die Stadt herrschen.“
Der Fluchtplan bringt eine neue Dyna-
mik in die regelmäßigen Chats. Sollte er
auffliegen, hätte Maik Messing das Leben
seiner Tochter aufs Spiel gesetzt, ebenso
dasderMänner, diesie aus Rakka heraus-
holen sollen. Die Familie ist überfordert.
EskommtzueinerkompliziertenVerabre-
dung mit einem Mittelsmann, der sich als
Mitglied von Al Qaida ausgibt. Überprü-
fenlässtsichdasnicht.SeinPlanhörtsich
plausibel an,derPreis:8000 Dollar. Nach
einigemZögern willigtMessing ein.
Dennoch wird Leonora am verabrede-
ten Ort nie abgeholt. Entweder verpasst
siedie Schleuser oder die brechendie Ak-
tion vorsorglich ab. Schließlich fliegt der
Plan auf. Statt Leonora meldet sich Nihad
und verkündet die „frohe Botschaft“, die
er mit der Drohung verbindet: „Sie wis-
sen nicht, gegen wen Sie kämpfen.“
Das Nächste, was die Messings von
Leonora hören, kommt erneut nicht von
ihr selbst. Sie sei bei einem Bombenan-
griffschwerverletzt worden heißt es.An-
geblich liegt sie im Koma. Kurz darauf
übermittelt Khadija, die behauptet, Ni-
hads Zweitfrau zu sein, die Todesnach-
richt. Leonora habe die Operation nicht
überlebt, bei der ihr ein großer Metall-
splitter aus dem
Kopf entfernt wer-
den sollte.
Vater Maik kommt
sich wie ein „Maul-
held“ vor, macht sich
schwere Vorwürfe,
weil er sein Verspre-
chen nicht hat einlö-
sen können. Nur so
weit geht er nicht,
sich selbst die
Schuld an ihrem Tod
zu geben. In einer Zeremonie will die Fa-
milie Abschied von ihrer Leo nehmen.
Dameldet sich diese plötzlichbei einer
Freundin, redet von drohender Erschie-
ßungundInternetverbot, dass dieSchleu-
ser heimlich mit dem IS kooperiert und
sie verraten hätten. Sie scheint gerade so
davonzukommen, wohl auch dank Ni-
hads, der seinen Einfluss geltend machen
kann. Leonora lebt jedoch fortan in der
ständigen Furcht, dass er ihre Chats ent-
schlüsselt, sie sagt, dass er das könne.
Dann kauft er sich eine jesidische Frau
als Sklavin. Die Messings warten ab.
Dann fällt Rakka. Maik Messing sagt:
abwarten.
Dann wird Nihad verhaftet. Leonora
ist nun ohne Schutz.
Diesmal ergreifen sie und die Zweit-
frau Khadija von sich aus die Initiative.
Über den Bruder Khadijas wollen sie ei-
nenSchleuser engagieren, für den derVa-
ter das Geld auftreiben soll. Es werden
ein Dutzend Anläufe unternommen, bis
Leonora sich mit der Nachricht meldet,
dass sie gleich in das Auto der Schleuser
steigen werde. Danach bricht der Kon-
takt ab, was eingutes Zeichenist. Schließ-
lich melden sich die Schleuser, doch die
Verständigung ist wegen des Überset-
zungsprogramms, das sie benutzen, äu-
ßerst schwierig. „Das ergab keinen Sinn,
ich konnte nicht nachvollziehen, was sie
von mir wollten“, sagt Messing.
Immerhin begreift er, dass die angeb-
lich benötigten Summen immer größer
werden. Schließlich wird er offen er-
presst. Man würde ihm Bilder seiner
Tochter und seiner Enkel schicken, die
ihm nicht gefallen dürften. Er denkt: „Ich
bin in der Pflicht, weil ich ihrer Mutter
versprochen habe, sie da rauszuholen.
Und jetzt liegt es einfach nur an mir, weil
ich irgendetwas nicht verstehe.“
Daranzerbrichterbeinahe.Ersagtesge-
nau so. Aber anmerken lassen will er sich
jetztnatürlichnicht, wasdas bedeutet.
Welche Wahl hat er? Eine, die keine ist
für einen Vater. Messing entscheidet sich
trotzdem. Er beendet die Kommunika-
tion – innerlich gibt er damit auch seine
Tochter preis, die umzubringen die Män-
ner am anderen Ende der Leitung ange-
droht haben.
„Ich habe mich wirklich mies gefühlt.
Denn ich bin davon ausgegangen, Leos
Todesurteil gesprochen zu haben. Aber
da waren ja noch meine Frau und unser
gemeinsames jüngstes Kind. Für die habe
ich mich entschieden.“
Wieder ist alles nur ein Spiel. Der
plumpe Versuch, Geld herauszuschla-
gen. Zwei Tage später meldet sich Leo-
nora. Sie sei jetzt wieder zu Hause, heißt
es. Es stellt sich heraus, dass Leonora die
Zeit in der Wohnung der Schleuser ver-
bracht habe, während die nach einem
Ausweg suchten. „Ob das die Wahrheit
ist“, sagt Messing, „weiß ich leider nicht.
Ich habe die Hoffnung, dass sie es ist.“
Nach diesem neuerlich gescheiterten
Versuch beginnt „das große Aufräumen“,
wie Messing die militärische Endphase
der IS-Zerschlagung nennt. Als sich Leo-
nora Ende Januar 2019 aus einem um-
kämpften Ort an der irakischen Grenze
meldet, steht diese letzte IS-Bastion kurz
vor der Kapitulation. Es regnet. Schlamm
macht die Wege unpassierbar. Am 30. Ja-
nuar wird Leonora Messing verhaftet. Sie
wiegt 42 Kilogramm. Seither sitzt sie in
einem Kurdencamp.
ZweiTagevorVeröffentlichungdesBu-
cheswirdBäckerMessingzuHausevonei-
nem Polizeiaufgebot überrascht. Man
nimmt ihm Handy und elektronische Ge-
räteab,überdieerunddieFamiliemitder
TochtervierJahrelanginVerbindungstan-
den.Siegelten nichtals Beschuldigte.
Hass auf Nihad? Sein Tod würde nichts
ändern, sagt Messing. Neulich habe er
sich aus der Haft gemeldet mit den Wor-
ten, „Hallo, ich bin’s, Martin.“
So klein war der plötzlich. Ein gutes
Gefühl, sagt Maik Messing. Nach allem.
— Mitarbeit: Frank Jansen
Sollte
der Plan
auffliegen,
ihr Leben
stünde auf
dem Spiel
Von Kai Müller
Leonora ist 15, als sie ihr Elternhaus im Südharz verlässt
und sich dem IS anschließt. Nun will sie zurückkehren.
Und der Vater weiß nicht mehr, was er noch hoffen kann
Die
Ve r w a n d l u n g
Sein Hof,
seine Hunde,
seine
vielen Hektar
Land.
Weit weg
Da meldet
sie sich
plötzlich.
Redet von
drohender
Erschießung
Bilder einer jungen Frau.Leonora ist Klassensprecherin, liest älteren Menschen im Pflegeheim vor und versteht sich gut mit ihrem
Vater (oben rechts). Bis sie sich in „Nihad“ verliebt, der eigentlich Martin Lemke heißt: einen blitzradikalisierten Schlosser aus Sach-
sen-Anhalt (unten links). Ihm folgt sie in den Dschihad, wird seine Drittfrau, gebärt ihm zwei Kinder. Fotos: privat (6), NDR
SONNABEND, 7. SEPTEMBER 2019 / NR. 23 938 DIE DRITTE SEITE DER TAGESSPIEGEL 3