Bedrohtes
Paradies
D
ie Bäume morsch, der Restra-
sen ungepflegt und zertreten,
tonnenweise Müll, und da-
vor: Menschen, Menschen,
Menschen. Willkommen im
Volkspark Friedrichshain.
Oder im Weinbergspark in Mitte?
Oder im Kreuzberger Viktoriapark?
Stefan Tidow würden noch viele wei-
tere Beispiele einfallen. Er findet: „Die
Parks sind vielerorts in einem erbärmli-
chen Zustand.“ Tidow ist kein Wutbür-
ger,der anderen den Spaß ander frischen
Luft nicht gönnt. Er ist jemand, der den
Überblick haben muss – als Berlins Um-
weltstaatssekretär.
Lange hat man in Politik und Verwal-
tung die Grünflächen verkümmern las-
sen, statt sich um sie zu kümmern. Dabei
sollen Stadtparks doch Oasen sein: Sie
entstanden, um die Zumutungen der mo-
dernen Stadt infolge der Industrialisie-
rung erträglich zu machen – als Orte der
Erholung und der sozialen Interaktion.
Und je größer die Städte wurden, desto
wichtiger wurden die grünen Flecken
zwischen den Steinen.
Mehr als 2500 öffentliche Parks und
grüne Plätze gibt es in Berlin. Das sind
6500 Hektar, mehr als ganz Flensburg.
7,5 Prozent der Stadtfläche sind parkähn-
lich, rechnet man die Wälder hinzu,
kommt man sogar auf 25,5 Prozent. Die
Senatsumweltverwaltung verweistauf ih-
rer Website stolz darauf, dass die Stadt
wegen dieses Schatzes „internationales
Ansehen“ genieße. Doch dieser Schatz
ist bedroht.
Nicht zuletzt, weil das Grün in der von
Baulücken durchzogenen Metropole
lange an fast jeder Straßenecke wuchs,
wurde sein Wert zu lange verkannt. Seit
Jahren schon fehlt es an Geld zur Pflege.
Durch eine immer intensivere Nutzung
hat sich das Problem in der wachsenden
Stadt dramatisch verschärft. An man-
chen Wochenenden sieht man in den In-
nenstadtparks vor lauter Grillrauch,
Scherben, Menschen und Hunden kaum
noch einen Grashalm.
Im Bezirksamt Neukölln hält man die
überlaufenen Parks für ein Symbol der
„wachsenden sozialen Ungleichheit“.
DasWohnen sei zunehmendbeengt,Aus-
weichmöglichkeitenwieKleingärten ver-
schwinden. Auch Obdachlose würden
deshalb vermehrt ihre Lager zwischen
Bäumen und Büschen aufschlagen.
DieParksmüssen aufnehmen, wofür in
derStadt immerweniger Platz ist.Siedie-
nen als Radstrecke, Jugendclubersatz,
Sportplatz,Festwiese, alsDrogenhandels-
markt oder Hundeauslaufgebiet. Und
sind damit längst überfordert. Die unter-
schiedlichen Ideen davon, was erhol-
same Freizeitgestaltung ist, prallen hier
immer härter aufeinander.
„Konfliktpotenziale gibt es zwischen
aktiven und besinnlichen Erholungsfor-
men, den schnellen und langsamen, den
lauten und ruhigen“, formuliert die Um-
weltverwaltung. Die größten Brandherde
zählt das Bezirksamt Friedrichs-
hain-Kreuzberg auf: „Grillen, nächtliche
Partys, Müll und vor allem Glas, freilau-
fende Hunde und rasende Radfahrer“.
Bei vielen dieser kleinen und großen
Parksünden haben die personell ausge-
dünnten Behörden lange weggeschaut,
notgedrungen. Es gab Wichtigeres zu
tun,als etwa den Leinenzwangfür Hunde
durchzusetzen, den das Berliner Grünan-
lagengesetz vorgibt. Die Politik der lan-
gen Leine verkaufte man als charmante
Berliner Eigenart. Auf Berlin.de warb die
Stadt bis vor Kurzem sogar noch: „Flotte
Hundebesitzer müssen nur selten fürch-
ten, von einem Beamten des Ordnungs-
amtes erwischt zu werden. Die Einwoh-
ner der Stadt haben das Umgehen von
‚Tretminen‘ längst verinnerlicht.“ Erst
nach Beschwerden von Bürgern und der
Androhung juristischer Schritte wurde
die Passage entfernt.
Nun, da die Stadt voll und voller wird,
wollen einige aus der jahrelang gelebten
Grauzone Park handfeste Ansprüche ab-
leiten. Die Petition „Leinen Los“ fordert
ein Timesharing-Modell für Hunde: eine
offizielleBefreiung vonder Leinenpflicht
in ausgewählten Berliner Parks zwischen
21 und 9 Uhr. In diesen Randzeiten soll
„unangeleintes Morgen- und Abend-
gassi“erlaubtwerden, ähnlich einerRege-
lung im New Yorker Central Park.
Dafür demonstrierten Hundehalter
vor Kurzem auch im Leise-Park in Prenz-
lauer Berg. Sie fühlen sich „kriminalisiert
und ausgegrenzt“, weil das Ordnungsamt
dort nach langer Toleranz unter dem Ein-
druck vermehrter Anwohnerbeschwer-
den durchgegriffen und Hunde des Parks
verwiesen hatte. Das Amt blieb hart: Der
frühere Friedhof sei ein „naturnaher
Spielplatz“, und dort seien Hunde gene-
rellverboten. EineZeitregelung seiohne-
hin nicht zu kontrollieren. Man verwies
auf Hundeauslaufgebiete. Allerdings gibt
esdavon in ganz Berlinnur 35 –für inzwi-
schen mehr als 100000 Hunde.
Andere Nutzungskonflikte treibt die
Politik selbstaktivvoran.Radfahrenetwa
ist in Parks prinzipiell verboten und nur
auf gekennzeichneten Wegen erlaubt.
Sanktioniert wird das jedoch kaum. Die-
ses Vakuum haben sich die Grünen in ih-
rem Kampf für den Ausbau des Radver-
kehrs zunutze gemacht: Sie haben Parks
zu potenziellen Verkehrsadern umgedeu-
tet. Nun wurden und werden meist as-
phaltierte Trassen durch den Park am
Gleisdreieck, den SchlossparkSchönhau-
sen, den Friedrichshain, den Treptower
Park oder den Mauerpark geschlagen.
Der Senat wiederhole damit die Fehler
der autogerechten Stadt und „vernichtet
sicheren und entspannten Stadt- und
Grünraum“, kritisiert der Fußgängerver-
band „Fuss e.V.“. Er zeichnet das Schre-
ckensszenario einer schleichenden Um-
wandlung der Parks in Schnellstraßen.
Am Gleisdreieck trichtern Eltern ihren
Kindern bereits ein, den Radspuren nicht
zu nahe zu kommen, die die Liegewiesen
durchschneiden. Im Park am Weißen See
wollten die Bezirks-Grünen das Radeln
generell erlauben – das Veto der anderen
Parteien stoppte den Plan.
Auch den Mangel an Sportplätzen und
-hallen will Berlin in den Parks bekämp-
fen. Immer mehr kommerzielle wie freie
Sportgruppen verabreden sich dort
schon zum Laufen, Ballspielen oder
Yoga. Der Senat fördert dabei nicht nur
das Programm „Sport im Park“ mit kos-
tenfreien Angeboten in mehrals 30Grün-
anlagen. Ab dem nächsten Jahr sollen un-
ter dem Motto „Berlin bewegt sich“ sämt-
liche Bezirke in ihren Grünanlagen stan-
dardmäßig Trimm-dich-Pfade, Fitnes-
sparcours, Laufstrecken und Freiflächen
für Kursangebote einrichten.
Selbst des Nachts kommen viele Grün-
flächen nicht mehr zur Ruhe. Ausschwei-
fende Partys gibt es nicht mehr nur im
Mauerpark. Im Bürgerpark und dem
Schlosspark Schönhausen sind Anwoh-
ner von Gegröle und Musik aus Blue-
tooth-Lautsprechern genauso genervt.
Pankows BezirksstadtratVollradKuhnre-
gistriert vermehrt Vandalismus „vor al-
lemabends undnachts oft durchalkoholi-
sierte Jugendliche“.
Auch der Star-Platz, eine Baulücke mit
Bäumen im Helmholtzkiez, hat sich zum
Treff für Jugendliche entwickelt. Doch ab
22 Uhr werden sie regelmäßig durch die
alarmierte Polizei vertrieben. Meist zie-
hen sie dann in den Ernst-Thälmann-Park
weiter, um halbwegs ungestört feiern zu
können. „Wohin sollen wir denn sonst?“,
fragtder17-jährigeJohannLange.EinePo-
lizeihauptkommissarin,dieinderJugend-
arbeit tätig ist, hat darauf keine Antwort:
„Berlinhatesverpasst,Jugendclubsinzen-
tralen Lagen zu sichern. Nun ist fast alles
verschwunden – den Jugendlichen blei-
beneigentlich nurnoch die Parks.“
Die Wiese als Feierlocation steht in al-
len Altersgruppen hoch im Kurs. Im Be-
zirksamt Neukölln hat man beobachtet,
dass der Trend in Richtung „große und
sehr große Gruppen“ geht. „Teilweise
werden große Familien-Grillfeste in
Grünanlagen gefeiert.“ Weil Parks „keine
Eventflächen“ seien und das Grün eine
Chance haben soll, sich zu erholen, hat
Pankow dort in diesem Jahr als erster Be-
zirk größere Feste und Veranstaltungen
prinzipiell untersagt. Die Bezirksverord-
netenfordern zwarper Beschluss,zumin-
destFeste„mitnichtkommerziellem Cha-
rakter“ wieder zu erlauben – die gehörten
als„Ausdruck des gemeinschaftlichen Zu-
sammenlebens“zueiner„adäquatenNut-
zung“ der Parks. Doch Stadtrat Kuhn
sieht sein Grünflächenamt mit der Gast-
geberrolle überfordert. Als neuesten
Trend beklagt er, „sich Take-away-Essen
direkt in den Park zu bestellen“ – und
Rest und Verpackungen dort zu lassen.
Dabei leiden die Berliner selbst unter
dem Müll. Laut der jüngsten Statistik der
Deutschen Gartenamtsleiterkonferenz
liegt Berlin bei der „Zufriedenheit mit
den Grünanlagen“ deutlich unter dem
Bundesschnitt. Lediglich 46 Prozent der
befragten Berliner bewerten die Sauber-
keit als „gut“, 28 Prozent geben die bei-
den schlechtmöglichsten Noten.
Der Hauptgrund dafür: In den Sparjah-
renwarendieGrünflächenämterinBerlin
am stärksten betroffen. Im Schnitt muss-
ten zwei Drittel der Mitarbeiter gehen.
DaswirktsichaufsGrünaus.Esmussnun
vorallempflegeleichtsein.Alles,wasZeit
undGeldkostet–Hecken,Büsche,Bäume
–istnichtmehrgefragt.Stattkontinuierli-
cher Zuwendung erhalten verbliebene
Bäume immer öfter einen sogenannten
„Pflegeschnitt“: Sie werden radikal ge-
stutztodergleichganzgefällt,ehesieum-
fallen. Der Trend geht zum Sparpark: Ein
bisschen Wiese, ein paar robuste Metall-
bänke,fertig.
Für die Grünpflege erhalten die Be-
zirke vom Senat eine jährliche Mittelzu-
weisung, diesich nach der Größeder Flä-
chenrichtet. In derInnenstadtgibt es we-
gen der stärkeren Nutzung mehr. Doch
das Geld reiche einfach nicht, rechnet
Clara Herrmann vor. Die Grünen-Politi-
kerin istStadträtinfürUmweltundFinan-
zen in Friedrichshain-Kreuzberg. Die
Pflege der Grünanlagen wird getrennt
von deren Verwaltung bilanziert. Unter
letzteres fallenausschließlich die bezirkli-
chen Personal- und Reinigungskosten.
Die betrugen in Herrmanns Bezirk 2018
rund 2,7 Millionen Euro – und obwohl
das schon jetzt nicht reicht, erhält Herr-
mann nächstes Jahr nur noch 2,1 Millio-
nen Euro. „Unverantwortlich“, klagt sie.
Alle Bezirke zusammen sollen im kom-
menden Jahr nur noch 37 Millionen Euro
für Parkreinigung und Personal bekom-
men. Macht gerade einmal sechs Cent
pro Quadratmeter Grünfläche, wie Oli-
ver Schruoffeneger errechnet hat, der
grüne Umweltstadtrat von Charlotten-
burg-Wilmersdorf. In New York kostet al-
lein der Unterhalt des Central Parks 37
Millionen Euro.
Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD)
hat zwar die BSR angeheuert, um die Be-
zirke zu entlasten. Sie reinigt mittler-
weile 46 Parks in Berlin. Und würde
gerne sämtliche Parks der Stadt säu-
bern – braucht dafür nach ihrer Rech-
nung jedoch das Dreifache der Bezirke:
130 Millionen Euro pro Jahr.
Die Zusatzkosten für die BSR will Kol-
latz ausgerechnet auf die Bezirke abwäl-
zen. Sie sollen nächstes Jahr drei Millio-
nen Euro dazugeben. So hätten sie aber
noch weniger für die Pflege übrig, klagt
ClaraHerrmann – „dasführtzu einerwei-
teren Verschlechterung des Stadtgrüns“.
Auch Moritz von der Lippe fordert das
Ende der „extremen Unterausstattung
der Grünflächenämter“. Er forscht an der
TU Berlin zu Ökosystemkunde und sagt:
„Die Stadt muss sich fragen, ob ihr das
Grün nicht mehr wert ist.“
Aus purer Not heraus entstehen inzwi-
schen Bündnisse zwischen Ämtern und
Bürgern zur Rettung des Grüns. Vorbild
ist in diesem Fall tatsächlich New
York: Ein Großteil der Kosten für den
Central Park wird mit privaten Spenden
gedeckt. In vielen Berliner Parks haben
sich Initiativen gegründet, die Beete pfle-
gen, Schäden ausbessern, sogar Sitz-
bänke aufstellen. Als Pankow und Mitte
kürzlich Touristen zum Aufräumen in
den Mauerpark baten, kamen 80 Leute
aus aller Welt – genau so viele, wie dem
Grünflächenamt Pankow nach eigener
Rechnung Mitarbeiter fehlen.
Nur langsam wächst inderBerliner Po-
litik die Erkenntnis, dass Grünflächen
nicht nur Kosten, sondern auch Nutzen
mit sich bringen. Wer sie sichert, kann
bei Wählern in allen Kiezen punkten.
Stadtentwicklungssenatorin Katrin
Lompscher nimmt dafür ständiges Unge-
mach mit Berlins Regierendem Bürger-
meister Michael Müller in Kauf, dessen
Mantra „Bauen, Bauen, Bauen“ bleibt.
Das macht ihn bei denen, die bereits eine
Wohnunghaben,nicht unbedingt populä-
rer. Wer will schon ein neues Viertel vor
der Haustür, wenn er einen Park haben
könnte? Umweltstaatssekretär Tidow
sagt, das Motto müsse heißen: „Bauen
und dabei die Lebensqualität sichern.“
Was genau diese Lebensqualität aus-
macht, muss angesichts der veränderten
Gesamtlageersteinmal neu definiertwer-
den. Gras kaufen und gleich loskiffen im
Görli oder in der Hasenheide? Drohnen
fliegen lassen auf dem Tempelhofer Feld?
Trommelpartys abhalten im Mauerpark?
Die Berliner Entwicklung zum Erlebnis-
park widerspricht der eigentlichen Be-
stimmung der Naherholung.
Gerade „Alltäglichkeit und Unaufge-
regtheit“ seien die spezifischen Eigen-
schaften des Stadtparks, die es zu erhal-
ten gelte, befindet die Wissenschaftlerin
Heidi Kaspar vom Geographischen Insti-
tut der Universität Zürich ineiner Stu-
die. Natürlich sei der Park per se ein Ort
der Aushandlung von Nutzungskonflik-
ten. Es geht permanent um Macht, An-
sprüche, Hierarchien. Wo darf wer was
tun und warum?
Doch genau deswegen darf die öffentli-
che Hand diesen wertvollen Raum nicht
einfach dem freien Spiel der Gewalten
überlassen. Nicht allein die Planung und
Gestaltung, auch die Unterhaltung und
Regulierung von Parkanlagen sei eine
„gesellschaftlich ungemein verantwor-
tungsvolle und komplexe Aufgabe“,
schlussfolgert Kaspar. Wer alles laufen
lasse, schließe automatisch bestimmte
Nutzergruppen aus – wie Frauen und
Kinder, die sich dann abends dort nicht
mehr sicher fühlen.
Erstmalig lässt Berlin in diesem Som-
mer junge Männer in grünen Westen pa-
trouillieren, als sogenannte Parkläufer.In
„besonders belasteten Parks“ in zehn
Bezirken sollen sie Besucher freundlich
auf Fehlverhalten hinweisen. Vier Millio-
nen Euro stellt der Senat den Bezirken
dafür bis Ende des Jahres zur Verfü-
gung.
In Mitte haben die Parkläufer allein
zwischendem 1. Juli und dem 20. August
mehr als 2000 Menschen auf Fehlverhal-
ten hingewiesen, teilt das Bezirksamt
mit. Spitzenreiter mit mehr 1600 Fällen:
unangeleinte Hunde. Es folgen Drogen
(rund 100 Fälle) und illegales Grillen
(90). Ein grundsätzliches Problem aber
bleibt: Befugnisse zur Sanktionierung
wie das Ordnungsamt haben die Parkläu-
fer nicht.
Die landeseigene Firma Grün Berlin
wagt sich deswegen zaghaft an ein Berli-
ner Tabu. Sie verweist auf die Vorzüge
nachts abschließbarer Parks. Das von ihr
betreute Tempelhofer Feld kann nach 22
Uhr nur noch durch Drehkreuze verlas-
sen, nicht aber mehr betreten werden.
Lässt sich so Vandalismus und Drogen-
handel der Riegel vorschieben?
In Paris wird die überwiegende Mehr-
heit der Parks nachts geschlossen, in den
wenigen, die neuerdings offen bleiben,
patrouilliert Sicherheitspersonal. Auch
in New York, Rom und London werden
die meisten Grünanlagen nachts zuge-
sperrt. Pankows linker Bezirksbürger-
meister Sören Benn hält davon nichts:
„Gerade wegen der wegfallenden Frei-
räume muss es möglich sein, dass man
noch abends im Park knutschen kann.“
Wenn das Grün aber so wichtig ist,
wenn es Jung wie Alt und unterschiedli-
che Kulturen zusammenbringt, wenn es
die Gesundheit erhöht, wie zahlreiche
Studien belegen – warum tut Berlin dann
nicht mehr dafür? Das fragt sich auch der
Niederländer MartinAarts. Erhat Rotter-
dam als Chef der Stadtentwicklung zu in-
ternationalem Ruhm verholfen – und ist
Verfechter einer verdichteten, aber grü-
nen Stadt.
Unlängst zog Aarts für einige Monate
nach Berlin, und recht schnell fiel ihm
auf: „Berliner Parks sind ziemlich abge-
nutzt und nicht sehr gepflegt.“ Noch
mehr erstaunte ihn, dass sich daran kaum
ein Verantwortlicher zu stören schien.
„DasWort,schick‘ hatin Berlineine nega-
tive Bedeutung. Das habe ich schnell ge-
lernt.“ Das Handeln oder vielmehr
Nicht-Handeln in Politik und Verwaltung
istseiner Vermutung nach von einer diffu-
sen „Angst vor der Gentrifizierung“ be-
stimmt. Davon sei auch die Parkfrage be-
troffen: „Man hofft, wenn alles nicht so
schickist, kommen die Investorennicht.“
Aarts hält das für Blödsinn. Für ihn
sind intakte Parks ein wichtiger Indikator
für eine funktionierende Stadt. Wenn der
Verfall in Berlin weiter voranschreite,
„verleitetdas schließlichauch dieBewoh-
ner dazu, sich nicht um ihre Umgebung
zu kümmern“. Aarts widerspricht auch
dem Selbstbild Berlins als besonders
grüne Stadt. Zumindest in der City gebe
es „viel zu viele Steine, Autos und Beton
und zu wenig Pflanzen“.
Der Berliner Richtwert für die „ausrei-
chende Versorgung von wohnortnahen
Grünanlagen“ ist sechs Quadratmeter
pro Einwohner. Die sollen in fünf bis
zehn Gehminuten erreicht werden kön-
nen, also innerhalb von 500 Metern.
Doch das ist eben bloß ein unverbindli-
cher Richtwert, der tatsächlich fast nur
am Stadtrand erreicht wird. „Besonders
schlecht stellt sich die Situation in den
Innenstadtbereichen mit gründerzeitli-
cherBebauungdar“, bilanziert die Senats-
verwaltung für Stadtentwicklung und
Wohnen. In Tempelhof-Schöneberg sind
gleich 39 Prozent der Menschen über-
hauptnicht mit wohnortnahemGrünver-
sorgt, es folgen Charlottenburg-Wilmers-
dorf (37 Prozent) und Neukölln (34).
„Gravierende Freiraumdefizite“ gibt es
auchin Wedding, Prenzlauer Berg, Fried-
richshain und Kreuzberg.
Die „Charta Berliner Stadtgrün“ soll
das ändern. Sie will ein „Leitplan“ sein,
um„das Stadtgrün auch in einem wach-
senden Berlin zu schützen, zu stärken
und weiter zu entwickeln“ – so die voll-
mundige Ankündigung des Senats. Den
aktuellsten Entwurf der Charta stellte
Umweltstaatssekretär Tidow im Mai vor.
Darin finden sich nicht nur Dach-, Innen-
hof- und Fassaden-Begrünungspro-
gramme. Modellweise sollen auch Schul-
höfe als Frei- und Grünräume geöffnet
und nicht genutzte Friedhöfe ganz umge-
wandelt werden. Um die Konflikte in den
Bestandsparks zu entschärfen, schlägt
der Entwurf zusätzliche Parkläufer vor.
Doch die Charta bleibt insgesamt ein
Wunschzettel, konkrete Projekte oder
Zahlen gibt es kaum. Unter dem Motto
„Straßenraum als Freiraum“ plädiert das
Papier immerhin vorsichtig dafür,zusätz-
lichen Grünraum zu schaffen, wo heute
Autos fahren und parken. Das soll in drei
Pilotprojekten getestet werden.
Der Stadtplaner Aarts hält das für eine
gute Idee: „Berlin hat so breite Straßen,
diese Riesenräume könnte man anders
nutzen.“ Einer Studie der TU München
zufolge kühlen Grünstreifen mit Bäumen
die Luft der Umgebung im Sommer zu-
dem um bis zu zwei Grad ab. Aarts regt
deshalb an, manche Straßen längs zu hal-
bieren und auf der einen Seite Grünstrei-
fen anzulegen – kleine Miniparks quasi.
Auch um die aber muss sich am Ende
irgendwer kümmern. Der wichtigste Pas-
sus des Charta-Entwurfs ist deshalb die
geforderte Erhöhung der Ressourcen in
denGrünflächenämtern: „AlsSofortmaß-
nahmebis2021 um30 Prozent,anschlie-
ßend schrittweise entsprechend des er-
mittelten Bedarfs“. Zusätzlich sollen
Grünanlagen „umfassend saniert“ wer-
den – und zwar genau 100 von 2500.
— Mitarbeit: Martin Einsiedler
Die Stadt
wirbt damit,
grün zu sein.
Ein Experte
widerspricht
Es geht
um Macht.
Wer darf
wo was
warum?
Von Laura Hofmann
und Christian Hönicke
Fotos: Hoch Zwei Stock/Angerer/Imago (2), F. Anthea Schaap/Imago, Britta Pedersen/picture alliance/dpa, Paul Zinken/picture alliance/dpa, Stefan Zeitz/Imago, Imago Sportfotodienst; Montage: Martin Büder
Berlin besitzt einen Schatz:
2500 Parks und Grünflächen.
Doch die sind vielerorts
vollgemüllt, überstrapaziert, vernachlässigt.
Viel zu lange hat sich keiner darum gekümmert.
Dabei sind sie mehr als Schmuck –
in einer Stadt wachsender Ungleichheit
MB 2 DER TAGESSPIEGEL MEHR BERLIN NR. 23 938 / SONNABEND, 7. SEPTEMBER 2019 MB 3