Der Tagesspiegel - 07.09.2019

(John Hannent) #1

KATJA DEMIRCI MEINT


„Fahrräder gehören nicht ins Wohnzimmer!“


Küchen, Flure, Büros:


alles Parkplätze.


Für Fahrräder, die zu fein


für Höfe und Laternen sind.


Für Radbesitzer,


die Angeber sind


Mittlerweile bin ich darauf vorbereitet.
Besuch kommt immer seltener allein,
sondern in Begleitung einer leichtge-
wichtigen Schönheit aus Karbon, die am
besten – es macht doch keine Umstände,
oder? – im Flur, der Küche, dem Wohn-
zimmerunserer Wohnung abgestellt wer-
den darf. Erst dachte ich: Oh, Schloss
fürs Fahrrad vergessen, klar, bring mit
hoch das Ding. Dann begann ich, überall
Rennräder und Mountainbikes zu entde-
cken. An Wohnzimmerwänden oder von
Wohnungsdecken hängend, auf Fotos in
Einrichtungsmagazinen und bei Insta-
gram, in Fluren und Büros.
Ein Rad ist etwa 180 Zentimeter lang.
Es ist hoch. Es hat Pedale, an denen man
hängen bleiben und sich verletzen kann.
Es ist im Weg! Aber das seht ihr nicht, ihr
Velomaniacs. Die Frau eines Kollegen,
die ihr neues Rad im Flur der Wohnung
parkt, ermahnt ihn bisweilen, es nicht zu
zerkratzen. Ihr seid verrückt!
In meiner Welt ist ein Fahrrad ein Ge-
brauchsgegenstand und ein Sportgerät.
In eurer ist es auch ein Prestigeobjekt.
Ein lässig an die Schrankwand gelehntes
Rennrad wirkt wie ein zufällig auf dem
Tisch liegen gelassener Schlüssel für ei-
nen Lamborghini. Nur noch toller, weil
umweltfreundlich.
Passt, dass ein laut Internet gern ge-
kaufter Rad-Wandhalter (mit LED-Be-
leuchtung) „The Show Off“ heißt.
Kosten: 259,23 Euro.

Ihr Wohnzimmer- und Büroparker
habt längst eine Zweiklassengesell-
schaft etabliert, in der ihr zu fein seid
für die Fahrradständer im Hof, für die
Laternenmaste auf dem Bürgersteig.
Die sind uns vorbehalten, mit unseren
vom Berliner Kopfsteinpflaster platt ge-
fahrenen Hollandrädern, um die es eh
nicht schade ist. Eure Reifen sind dage-
gen gestählt und sauber wie geleckt.
Vermutlich tragt ihr die Dinger drau-
ßen sowieso herum, anstatt euch drauf-
zusetzen. Sind ja so kostbar.
Auch mein Fahrrad hat schon Nächte
neben mir geschlafen. Kurz nachdem

ich es zum Geburtstag geschenkt be-
kommen hatte – in der Grundschule.
Aber sind wir 28-Zoll-Fahrer nicht alt
genug, unsere Herzen nicht mehr so
sehr an einen Gegenstand zu hängen?
Nein, sagt meine beste Freundin, die
ihr blaues Rennrad hinter ihrem
Schreibtisch im Büro parkt. Ganz abge-
sehen davon, dass so ein Rad locker
ein Monatsnettogehalt kosten kann, der
Wert also mitnichten nur emotional ist.
Natürlich ist ein Parkplatz in der Teekü-
che der optimale Diebstahlschutz. Alle
17 Minuten wird in Berlin ein Rad
geklaut, rund 30000 pro Jahr. Auch
mir wurde schon eines gestohlen –
nicht mal von der Straße weg, sondern
aus dem Fahrradkeller. Es war abge-
schlossen, genauso wie die Kellertür.
Vermutlich wäre das nicht geschehen,
hätte es im Wohnzimmer an der Wand
gehangen.
Fahrraddiebe sind fies, das Schicksal
noch fieser. Es mangelt an sicheren
Abstellplätzen, Berlin braucht mehr
Fahrradbügel, vielleicht die ein oder
andere Fahrradgarage. Aber ein Rad
überall mit hinzuschleppen, kann auch
nicht die Lösung sein.
Vor allem jetzt, wenn der Herbst
kommt und mit ihm der Regen. Ein
Hund kann sich vor der Eingangstür
noch eben schütteln – ein Rad tropft
stumm vor sich hin. Bitte nicht auf
meinen Teppich.

Mehr Berlin! Mitarbeit: Sidney Gennies, Maris Hubschmid, Lars Spannagel, Torsten Hampel, Anke Dessin (Gestaltung), Fanpost: mehrberlin@tagessp

iegel.de

Meine erste schwere Depression hatte
ich im Alter von 26 Jahren – damals gab
es einige Kommentare, die mich sehr ge-
kränkt haben. Meine Gedanken haben
sich in einer Spirale bewegt: Ich schaffe
das alles eh nicht, ich bin nichts wert, ich
komme aus diesen schwarzen Tiefen nie
wieder raus. Ich war hohl, leer – eine ab-
solute Verzweiflung. Dabei leitete ich
doch eine Pension mit Restaurant, war
sonst immer voller Energie und total
strukturiert! Deswegen war es für mein
Umfeld auch so schwer zu begreifen, wa-
rumich plötzlich nicht malmehr aus dem
Bett kam und kaum in der Lage war, mich
selbst zu versorgen.


Ich habe lange gebraucht, um meine
Krankheit kennenzulernen und zu akzep-
tieren. Ganz fürchterlich für mich waren
in dieser Zeit die vielen Ratschläge, die
mir aufgenötigt wurden. Die haben mich
richtig verletzt und aggressiv gemacht!
Während meiner depressiven Phasen
fühle ich mich wie ein Käfer, der auf den
Rücken gedreht wurde und sich nicht al-
leine auf die Füße stellen kann. In dieser
Situation ist schon die gut gemeinte Auf-
forderung, mal wieder zum Sport zu ge-
hen, eine echte Nötigung.


Für mich war immer das Gefühl ganz
wichtig: Ich entscheide! Ich bekomme et-
wasangebotenundkanndieseskleineAn-
gebot annehmen. Eine Freundin hat mich
zum Beispiel gefragt: „Ich gehe jetzt eine
Pizza essen. Hast du Lust, mich zu beglei-
ten?“ Damit konnte ich etwas anfangen,
dashatgeholfen,meineLethargiezuüber-
winden.Freundehabenbeimirauchange-
rufen,immerwieder,obwohlichnichtran-
gegangen bin. Diese Empathie, die Für-
sorge: Wenn man eine große emotionale
Qual hat, ist es enorm wichtig, zu wissen,
dass es noch jemanden gibt, der für einen
da ist. Das hat mich im Leben gehalten.


SONNABEND, 7. SEPTEMBER 2019|WWW.TAGESSPIEGEL.DE

DARÜBERreden


D


amals, als wir schlaksige Jugendliche mit
langen Haaren und bunten Klamotten
waren. gingen wir feiern, in Prenzlauer
Berg, in Mitte. Zu einer Zeit, als es noch
Keller mit Punkkonzerten und Techno-Partys auf
Dachböden gab. Berlin war unsere Spielwiese,
auf der wir frei und sorgenlos spielen konnten.
Bis zu dem Punkt, an dem wir unweigerlich
nach Hause mussten, raus nach Weißensee, nach
Karow und Buch. Und zwar mit dem Nachtbus,
N8, so hieß die Linie damals. Startpunkt Hacke-
scher Markt, Ende S-Bahnhof Buch. Alle 30 Minu-
ten fuhr er, immer 29 und 59. Dann regte sich
langsam die Angst, die wir bis dahin gut verdrängt
hatten. Wir lachten nervös, wir spekulierten,
wie es wohl diesmal werden würden. Wir waren
sofort stocknüchtern.
Der Bus fuhr durch die Nacht, durch Mitte,
durch Prenzlauer Berg, rein nach Weißensee. Wir
holtenBücherraus,große,hinterdenenwirunsver-
stecken konnten. Ich hatte manchmal sogar einen
Atlas dabei. Wir wollten nur die Fahrt überstehen,
ohneauf dieFresse zukriegen oder Schlimmeres.
Dann hielt der Bus noch einmal. Rote Ampel.
Immer hielt er an dieser Ecke noch einmal, wie
um uns auf die Folter zu spannen, kurz hinter dem
alten Wasserturm, gleich hinter den Kleingärten,
bog dann nach links und dann nach rechts. Da war


sie: die Haltestelle. Und fast immer warteten sie
dort schon. Nazis. Faschos. Glatzköpfe. So, wie sie
damals ausgesehen haben. Bomberjacke,Springer-
stiefel, weiße Schnürsenkel. Große Kerle, breite
Schultern, manchmal waren auch ein paar Frauen
dabei. Gleich gegenüber lag der „Heinersdorfer
Krug“, ihre Stammkneipe. Und all die Nazis muss-
ten ja dann auch nach Hause, so wie wir.
Sie zeigten den Hitlergruß, sie brüllten
„Sieg Heil!“ und sie sangen „Eine U-Bahn bis nach
Auschwitz“. Besonders schlimm war es um den


  1. April rum. Wenn wir Glück hatten, gingen sie
    nach hinten weiter und bemerkten uns nicht.
    Wenn wir Pech hatten, wollte gleich eine ganze
    Rotte mitfahren.
    Wir schauten so unbeteiligt wie möglich aus
    dem Fenster. Sprüche gab’s. Auf die Lippe auch
    manchmal. Gelegentlich wurden wir aus dem Bus
    gestoßen. Und einmal jagte mir ein Trupp beim
    Aussteigen hinterher, die Straße rauf, bis ich
    schneller über den elterlichen Gartenzaun ge-
    sprungen war als sie. Zum Glück kam gleich der
    Hund angerannt.
    Wenn ich heute an dieser Haltestelle vorbei-
    komme, muss ich an die Machtlosigkeit denken,
    die ich damals verspürte.
    Die Bushaltestelle heißt immer noch:
    Heinersdorf Kirche. Karl Grünberg


5

BEAT STREET


KLAUSENERPLATZ
Ein Scheinwerfer steht auf dem Bürger-
steig und taucht die dunkle Charlottenbur-
ger Straßenecke in rötliches Licht. Sie-
ben junge Männer, schräg von unten ange-
leuchtet, stehen vor einer morschen, graf-
fitibesprühten Fassade, rappen und gesti-
kulieren für einenKameramann, der sie
umkreist. Der Beat ist nur leise zu hören,
die Rapper flüstern fast, bei den Balko-
nen ringsum kommen nur Wortfetzen an.
„Ich ficke deinen Kopf“, raunt einer der
Männer, „ihr versteht mich nicht“ ein an-
derer. Der Refrain endet mit „Komm’ aus
Kiez. Klausenerplatz. Wir ham Hunger. Ihr
seid satt“. Ein Passant geht vorbei, auf
seinen fragenden Blick sagt einer aus der
Crew: „Is’n Projekt für die Schule“, seine
Kumpel lachen. Ein Polizeiauto rollt die
Straße entlang und stoppt, ein Rapper
steckt seinen Kopf ins Beifahrerfenster,
nach einem kurzen Gespräch fährt der
Streifenwagen weiter. Aber so richtig in
Gang kommt der Videodreh nicht, immer
wieder bricht der Kameramann ab. Dann
sagt er: „Ich hol’ noch ’nen Scheinwerfer,
bin in ’ner Dreiviertelstunde wieder da,
gehtwas essen oder so.“ Die Rapper zie-
hen 50 Meter weiter zum Dönerladen, ma-
chen es sich auf den Stühlen draußen ge-
mütlich.An die Straßenecke kehren sie
nicht zurück, für heute Abend sind sie
doch satt. Lars Spannagel

Worte können verletzen – oder helfen.
An dieser Stelle berichten Menschen,
wie sie angesprochen werden möchten.
Ilse Coordes, 61, leidet unter Depressionen

Station:
Heinersdorf Kirche
Linien:
Tram M2, Bus 158, N58,
X54
Nachbarhaltestelle:
Romain-Rolland-Str.
/Straße 16
Fahrzeit
bis Alexanderplatz:
21 Minuten
ohne Umsteigen

DIE STATION MEINES LEBENS


HEINERSDORF KIRCHE


MINUTENSTADT


„Ich bin für dich da.


Auch wenn


ich nicht verstehe,


wie du dich fühlst.“


VON NAOMI FEARN


Foto: Kai-Uwe Heinrich

Fotos: Kitty Kleist-Heinrich, Mike Wolff

„Du solltest mal wieder


rausgehen, die Sonne


scheint so schön!“


NOCH MEHR


HaltestellederAngst


„Du bist doch nur faul,


steh einfach mal auf!“

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