EinGericht in Istanbul hat die Provinzvor-
sitzende der größten Oppositionspartei
CHP unter anderemwegen Terrorpropa-
ganda und Präsidentenbeleidigungzu
mehr als neun Jahren und acht Mona-
ten Haftverurteilt. Sprecher der CHP
und Medien berichteten, Canan Kaftan-
cioglu wolle Berufung einlegen. Kaftan-
cioglu ist als CHP-Chefin von Istanbul
eine einflussreiche Unterstützerin ihres
Parteikollegen Ekrem Imamoglu, der
EndeJuni zum Istanbuler Bürgermeister
gewählt worden war. Die CHP warf der
AKP vor, Kaftancioglu für das Wahlergeb-
nis bestrafen zu wollen. dpa
Berlin- Boris Johnson befindet sich be-
reits im Wahlkampfmodus. Allerdings
hat derbritische Premierministerein Pro-
blem: Der Wahltermin ist bislang unbe-
kannt. Die oppositionelle Labour-Partei
hat inzwischen angekündigt, dass sie sich
nicht am kommenden Montag auf eine
Abstimmung über eine Neuwahl einlas-
sen will. Auch der Unterhausabgeord-
nete Ian Blackford von der schottischen
SNP erklärte: „Wir bestimmen das Ti-
ming, nicht Boris Johnson.“
Damit esNeuwahlen gibt,müssen zwei
Drittel der Unterhausabgeordneten zu-
stimmen. Bereits am
vergangenen Mitt-
woch hatte der neue
Premierminister
diese Mehrheit ver-
fehlt. Zwar will sich
auch die Opposition
den von Johnson mit
allerMachtgeforder-
ten Neuwahlen
nicht verweigern,
aber sie fasst dafür
einen Zeitpunkt
nach dem 31.Oktober ins Auge. Johnson
hingegen möchte die Wahl bereits am 15.
Oktober abhalten.
Am Donnerstag war der Premierminis-
ter in Morley in der Nähe von Leeds un-
terwegs.Doch der verkappte Wahlkampf-
termin ging für den Premierminister
ziemlich nach hinten los. Ein Passant
sprach Johnson an und forderte ihn auf,
ernsthaftin Brüssel mit derEuropäischen
Union zu verhandeln, anstatt durchs
Land zu reisen. „Sie spielen Spielchen,
das ganze Land weiß es“, erklärte der
Mann dem ausnahmsweise sprachlosen
Premierminister.
Der Experte Nicolai von Ondarza von
der Stiftung Wissenschaft und Politik
(SWP) hält es für theoretisch denkbar,
dassJohnsondasAnti-Chaos-Gesetz, wel-
chesamvergangenenMittwochim Unter-
haus beschlossen worden war, im Falle
eines Wahlsieges am 15. Oktober wieder
kassieren könnte.„Jedes Gesetz kannwie-
der von einem anderen Gesetz rückgän-
giggemacht werden“, sagte von Ondarza.
Die Voraussetzung sei dabei, dass John-
son im neuen Parlament über die nötige
Mehrheit verfüge und die revidierte Ge-
setzgebung erneut das Unterhaus und
das Oberhaus durchlaufe. Von Ondarza
tippt darauf, dass es im November zu
Neuwahlen kommt – wenn das
Anti-Chaos-Gesetz gegriffen hat.
Das Gesetz sieht eine dreimonatige
Verschiebungder Brexit-Frist bisEndeJa-
nuar für den Fall vor, dass Johnson sich
mit der EU beim Gipfel am 17. und 18.
Oktober nicht auf eine mögliche Neufas-
sung des Austrittsvertrages einigen kann.
Laut dem Gesetz gegen einen
No-Deal-Brexit, welches am Freitag vom
Oberhausbeschlossenwurde,mussJohn-
son dann bei der EU um eine Verlänge-
rung bitten.
Genaudies Szenario istallerdingsange-
sichts der markigen Ansagen Johnsons
schwer vorstellbar. Der Premierminister
hat erklärt, er wolle lieber „tot in einem
Graben“liegen, alseine weitere Verschie-
bung des Brexit über den 31. Oktober hi-
naus zuzulassen. In jedem Fall könnte
Johnson Ende Oktober ohne eine Eini-
gung mit den verbleibenden 27 EU-Staa-
ten in eine unbequeme Situation kom-
men.
Diesen Umstand will die Labour-Partei
mit ihrer Strategie, die offenbar auf einen
späteren Wahltermin zielt, ausnutzen.
Nach gegenwärtigem Stand liegt die La-
bour-Partei in Umfragen rund neun Pro-
zentpunkte hinter den regierenden To-
ries zurück. Dies könnte sich ändern,
falls der Premierminister Ende Oktober
in den Augen seiner Anhänger mit leeren
Händen dastehen sollte.
Johnson beharrt indes nach wie vor da-
rauf, den EU-Austrittsvertrag zu ändern
und die Garantieklausel für Nordirland
zu kippen. Mit diesem „Backstop“ soll si-
chergestellt werden, dass durch den Bre-
xit keine harte Grenze zwischen dem
zum Vereinigten Königreich gehörenden
Nordirland und der Republik Irland ent-
steht. Im Fall eines ungeregelten Brexit
am 31. Oktober bestünde allerdings die
Gefahr,dassinder früherenBürgerkriegs-
region im Norden der irischen Insel wie-
derSchlagbäume aufgestellt werden müs-
sen.
Inzwischen ist der irische Regierungs-
chefLeo Varadkar dabei,Vorsorgefür die-
ses Worst-Case-Szenario zu treffen. Va-
radkar erklärte am Donnerstagabend,
dassimFalleinesNo-Deal-Brexitdie Zoll-
kontrollen „so weit wie möglich“ abseits
der Grenze zwischen Nordirland und der
Republik Irland in Häfen, an Flughäfen
und in Unternehmen stattfinden sollten.
Die Details würden gegenwärtig gemein-
sam mit der EU-Kommission ausgearbei-
tet, sagte der Regierungschef weiter.
Grenznahe Kontrollen seien nach seinen
Worten allerdings für Lebendvieh und ei-
nige Waren nötig.
Falls Großbritannien am 31.Oktober
tatsächlich ohne Austrittsvertrag ausstei-
gen sollte, wäre Irland als EU-Mitglied
für den Schutz eines Teils der Außen-
grenze des europäischen Binnenmarktes
zuständig. Varadkar malte vor den Zuhö-
rern der Britisch-Irischen Handelskam-
mer auch aus, was dies für Reisende be-
deutenwürde.Passagiereaus Großbritan-
nien müssten dann anders als bisher am
Flughafennach ihrer Ankunft inIrlandei-
nen entsprechenden Ausgang wählen,
wenn sie etwas zu verzollen hätten, er-
klärte er.
Vor Gericht erlitten die Gegner eines
No-Deal-Brexit indes in London einen
Rückschlag. Der High Court wies eine
Klage gegen die von Johnson verfügte
fünfwöchige Zwangspausedes Unterhau-
ses ab, die in der kommenden Woche be-
ginnt. Über die Klage der Aktivistin Gina
Miller soll nun ab dem 17. September vor
dem höchsten Gericht, dem Supreme
Court, weiterverhandelt werden.
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Istanbul- Der türkische Präsident Re-
cep Tayyip Erdogan fordert für sein
Land das Recht auf Atomwaffen, um im
Konzert der Großmächte mitspielen zu
können. Er akzeptiere nicht, dass an-
dere Länder Atomwaffen besäßen, der
Türkei aber solche Waffen verbieten
wollten, sagte Erdogan jetzt in einer
Rede. Eine Umsetzung der Forderung
wäre für Ankara sehr schwierig. Der
Ruf nach Atomwaffen passt aber zum
Selbstverständnis der Türkei als eigen-
ständige Regionalmacht, die trotz der
Mitgliedschaft in Bündnissen wie der
Nato eigene Ziele verfolgt.
Seit Jahren betrachtet die Türkei das
israelische Atomwaffenprogramm und
auch die nuklearen Ambitionen des
Nachbarn Iran mit Misstrauen. Israel
sei wegen seiner Atomwaffen in der
Lage, jedem in der Region Angst einzu-
jagen, sagte Erdogan. Aus Sicht des tür-
kischen Präsidenten ist der Besitz von
Atomwaffen gleichbedeutend mit politi-
scher Macht: „Alle entwickelten Länder
der Welt“ verfügten über solche Waf-
fen, betonte Erdogan. Die Aussage
stimmt allerdings nicht. So haben 14
der 20 führenden Wirtschaftsmächte
der Welt in der G-20-Gruppe keine
Atomwaffen. Solche Fakten sind für Er-
dogan unwichtig. Er beklagte, die der-
zeitigen Atommächte wollten der Tür-
kei verbieten, Raketen mit atomaren
Sprengköpfen zu beschaffen.
Erdogan betonte den Anspruch seines
Landes, rüstungs- und sicherheitspoli-
tisch unabhängig von Allianzen zu han-
deln. Er sprach den Streit mit den USA
und anderen Nato-Staaten über die Be-
schaffung des russischen Flugabwehrsys-
temsS-400anundsagte,dieTürkeisuche
sichihrePartnerselbstaus.„Bishersaßen
wirmitdenUSAamTisch,jetztsitzenwir
mitRusslandzusammen,undmorgenset-
zen wir uns vielleicht mit China hin“,
sagte er. Für die Türkei wäre die Beschaf-
fung vonAtomwaffenjedoch sehrschwie-
rig. Das Land hat keine eigene Atomtech-
nik; russische Firmen bauen derzeit an
derMittelmeerküste dasersteAtomkraft-
werk der Türkei. Zudem hat sich die Tür-
keiininternationalenVerträgenzumVer-
zichtauf Atomwaffen verpflichtet.Siehat
sowohl den Atomwaffensperrvertrag als
auch das Abkommen zum Verbot von
Atomwaffentests unterzeichnet.
Der Einstieg in ein Atomwaffenpro-
grammkönntederwirtschaftlichohnehin
angeschlagenen Türkei harte Sanktionen
des Westens einbringen. Anders als bei
den S-400 wird sich die Türkei in der
Atomwaffenfrage auch nicht unbedingt
auf Russland verlassen können. Moskau
dürfte kein Interesse daran haben, dass
der südliche Nachbar Türkei zur Atom-
machtwird.ZumindestzumTeilmaghin-
terErdogans Überlegungendie Sorge ste-
hen, dass die Türkei bei einem nuklearen
WettrüstenimNahenOsteninsHintertref-
fengeratenkönnte.Eristnichtdereinzige
Regierungspolitiker in der Region, der
übereineatomareBewaffnungseinesLan-
des nachdenkt. Saudi-Arabien will sich
dieseWaffenzulegen,fallsderRivaleIran
vomWestennichtanderEntwicklungder
Bombe gehindert werden kann. Erdogan
sagte nicht, wie er Atomwaffen beschaf-
fenwill,betonteaber:„Derzeittreibenwir
unsere Arbeiten voran.“ Als möglicher
Partner wird in Medienberichten vor al-
lemPakistangenannt. Susanne Güsten
Teheran- Die Bundesregierung hat die
Ankündigung des Iran kritisiert, weiter
vonseinenVerpflichtungenausdeminter-
nationalen Atomabkommen abzurücken.
Dies sei „nicht das richtige Signal“, sagte
ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am
FreitaginBerlin.ErriefdieFührunginTe-
heran dazu auf, „die Lage nicht weiter zu
verschärfen“. Deutschland setze sich da-
für ein, dass das Abkommen zum irani-
schen Atomprogramm Bestand habe. Die
iranischeRegierungerfülleihreVerpflich-
tungen derzeit ausdrücklich nicht. Es sei
aber noch nicht zu spät für den Iran, die
eingeleiteten Schritte wieder zurückzu-
nehmen.
Außenminister Mohammed Dschawad
SarifhattezuvorderEU-Außenbeauftrag-
tenFedericaMogheriniineinemBriefmit-
geteilt, dass der Iran sämtliche Beschrän-
kungen für Forschungs- und Entwick-
lungsaktivitäten aufgehoben habe. Ge-
mäß dem 2015 geschlossenen Atomab-
kommendarfderIranlediglichinbegrenz-
tem Maße Forschung und Entwicklung in
derUrananreicherungbetreiben.DasAb-
kommenstehtaufderKippe,seitUS-Präsi-
dent Donald Trump es im vergangenen
Jahreinseitigaufgekündigteundanschlie-
ßend nach und nach Sanktionen gegen
denIran verschärfte.
Die USA sehen inzwischen aber wach-
sendeChancenfürbilateraleVerhandlun-
gen mit dem Iran. „Es scheint in gewisser
Weise, dass der Iran sich auf einen Punkt
zubewegt, an dem wir Gespräche führen
könnten“, sagte Ver-
teidigungsminister
Mark Esper bei ei-
nem Besuch in Lon-
don. Trump hatte
beim G-7-Gipfel er-
klärt,erseiunterUm-
ständen zu einer Be-
gegnungmitdemira-
nischen Präsidenten
Hassan Ruhani be-
reit, und am Mitt-
woch nicht ausge-
schlossen,ihnamRandederbevorstehen-
den Vollversammlung der UN in New
Yorkzutreffen.Ruhanihattezuletztbilate-
rale Gespräche mit den USA abgelehnt.
Gesprächeseienerstdannmöglich,wenn
dieSanktionenaufgehoben würden.
Die europäischen Vertragsstaaten
Deutschland,FrankreichundGroßbritan-
nienbemühensichumeinenErhaltdesAb-
kommens. Sie haben dem Iran zugesagt,
seine Öl- und Bankenbranche vor den
neuen US-Sanktionen zu schützen. Der
Iran sieht dieses Versprechen jedoch bis-
lang nicht eingelöst und hat deshalb be-
reits eine Reihe von Verpflichtungen aus
demAbkommen ausgesetzt. dpa
HAFT FÜR POLITIKERIN D
Aufrüstung.Erdogan will nicht ins Hinter-
treffen geraten. Foto: Adem Altan/AFP
Deutschland
warnt vor
einer
Zuspitzung
der
Situation
Angst vor dem No-Deal.An der Grenze zwischen Irland und Nordirland wird ein Aufflammen der Konflikte befürchtet. Foto: Tsp/Georg Ismar
Opposition treibt Johnson in die Enge
Der Regierungschef will
schnelle Neuwahlen.
Doch die Labour-Partei
macht dabei
nicht mit
Irlands
Premier
Varadkar
trifft
Vorsorge für
No-Deal
6 DER TAGESSPIEGEL POLITIK NR. 23 938 / SONNABEND, 7. SEPTEMBER 2019
Erdogan
will
Atomwaffen
Als Technologielieferant
käme Pakistan infrage
Iran
provoziert
Europa
Teheran startet
nukleare Forschung neu
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