14 SCHWEIZ Samstag, 7. September 2019
Ein dunkles Kapitel, ungenügend aufgearbeitet
Der Schlussbericht der Expertenkommiss ion zu Admini strativ-Versorgungen setzt sich zu wenig mit den Aussag en der Weggesperrten ause inander
URS HAFNER
Die Operation ist gelungen, das Expe-
riment aber gescheitert. Die Opera-
tion: das vomParlament installierte
Forschungsprojekt mit knapp vier-
zig Historikerinnen und Sozialwissen-
schaftern, die während der letzten fünf
Jahre für zehn MillionenFranken die
administrativeVersorgungspraxis der
Schweiz im 20.Jahrhundert untersucht
haben – die Unabhängige Experten-
kommission (UEK).
Das Experiment:Das ist der ein-
malige Umstand, dass die «Objekte»
derForschung,nämlich die Betrof-
fenen, involviert waren, nicht nur als
Interviewte und Zeitzeugen. Dank
ihrem Druck ist das Projekt entstan-
den, sie begleitetenes bis zum Schluss.
Professorinnen und Akademiker sind
auf Unterschichtsangehörige gestossen,
die in Gefängnissen und Arbeitserzie-
hungsanstalten einsitzen mussten, ohne
dass sie eine Straftat begangen hätten.
Gelungen ist die Operation, weil
der Band «OrganisierteWillkür» die
bereits publizierten neun Bücher prä-
gnant synthetisiert. Er ist es, der von
der UEK bleibt. DieseWoche wurde er
feierlichJustizministerin KarinKeller-
Sutter überreicht. Seine beidenAuto-
ren, der Historiker Urs Germann und
die Soziologin Lorraine Odier, zeich-
nen das – in den Umrissen bereits be-
kannte – beklemmende Bild einer
«saturierten Mittelstandsgesellschaft»,
die besonders nach dem ZweitenWelt-
krieg Lebensweisen ahndete, die nicht
ihrem Ideal folgten.
Die Kehrseite der erfolgreichen eid-
genössischenPatriarchalrepublik hiess
Konformitätszwang und Sexismus. Die
Detailsvariieren, wie die Ergebnisse
zeigen, je nach Kanton, doch im Ge-
samten war die beschauliche Schweiz
für randständigeWiderspenstigeein
höchst ungemütlicher Lebensraum.Die
Zahl von rund 60000 Bet roff enen für
das 20.Jahrhundert ist gemessen an den
po tenziellenOpfern nicht hoch,wie der
Band festhält, aber die Internierungs-
drohung war omnipräsent. Internatio-
nal war die Schweiz ein Sonderfall.
Wer unehelich schwanger wurde,
Renitenz an denTag legte,sich pros-
tituierte, alkoholkrank oder verarmt
war, konnte von den Behörden prä-
ventiv weggesperrt werden –aufgrund
einesWirrwarrs von kantonalen «Paral-
lel rechten ohneRechtsschutz».Ein ver-
urteilter Straftäter hatte einen Anwalt
und wusstewenigstens, wie lange er ein-
gesperrt blieb.
Nicht so die administrativ Ver-
sorgte: Sie war dem Gemeindepräsi-
denten ausgesetzt, der bestimmte, ob
die «Nacherziehung» zum «Schutz der
Gesellschaft» nun gefruchtet habe. Un-
nötig zu sagen, dass kaum jemand die
mit Demütigungen verbundene Ein-
sperrung unbeschadet überstand.
Freiheitsrechtemissachtet
Die administrativeVersorgung wurde
im 19.Jahrhundert zur Armutsbekämp-
fungeingerichtet. Sie sollte die Staats-
finanzen und die gesellschaftliche Ord-
nung vor «lasterhaften» Menschen, vor
allem vor Männern schützen. Unbe-
stritten war sie nie. Betroffene, Juris-
te n und Intellektuelle kritisierten das
Sonderrecht immer wieder, aber la nge
folgenlos.
Die Versorgungen waren nicht
widerrechtlich,kollidierten jedoch mit
denFreiheitsrechten derVerfassung
und den Menschenrechten,nachdem
diese1974 ratifiziert worden waren.
Allmählich nahm die Zahl derAdmi-
nistrativ-Versorgungen ab.Als wichtigs-
ten Grund nennen dieAutoren etwas
vage die «gesellschaftliche Liberalisie-
rung».Zunächst führte diese,wie sie
anmerken, sogar zu einerVerschärfung
der Praxis.
Anders als oft behauptet, hörte die
administrativeVersorgung1981 nicht
auf, als die Schweiz dieVersorgungs-
rechte abschaffte. Sie ging in den fürsor-
gerischenFreiheitsentzug über, dieser
2013 in die fürsorgerische Unterbrin-
gung. 2016 wurden von ärztlichen und
administrativen Stellen, wie dieAuto-
ren betonen, rund15 000 Zwangshos-
pi talisierungen durchgeführt. DieAus-
schaffungshaft für Asylbewerber heisst
Administrativhaft, und diese wird auch
für potenzielleTerroristen in Erwägung
gezogen.
Der Rest des Buchs, knapp ein Drit-
tel, fällt in dieVerantwortung der neun
Mitglieder der Expertenkommission –
Professoren, Historikerinnen,Juristen,
einePädagogin, ein Psychiater. Dieser
Teil besteht aus «Empfehlungen» und
vierzehnTexten von Betroffenen. Er
zeugtvom gescheiterten Experiment:
vomFehlen der offenenAuseinander-
setzung mit den Betroff enen.
Auf dem Feld der Politik
Die Empfehlungen laufen auf einen
Katalog hinaus, der für die Betroffenen
mehr Geld, unter anderem inForm von
Gratis-GA undRenten, undKulturani-
mationenfordert. In derTatist der pro
Person ausbezahlte«Solidaritätsbei-
trag» von 25000 Franken bescheiden.
Aber für solche Empfehlungen braucht
es keine wissenschaftlichen Experten,
dafür gibt es dasFeld derPolitik.
Wenn schon,dann wären von einer
UEK etwa Überlegungen zum Institut
«bundesrätlicheAuftragsforschung» –
welches sind dieVor- und Nachteile,
wirdWissen durch das Behördensiegel
aufgewertet? – oder zu denFreiheits-
einschränkungen in der Gegenwart zu
erwarten, beispielsweise zum Arbeits-
zwang fürAusgesteuerte. DenBall,
den ihr die beiden zugezogenenAuto-
ren zuspielen, lässt dieKommission ins
Aus rollen.
Zu erwarten wären fernerReflexio-
nen zum Experiment,also zurKoope-
ration mit den organisierten Betroffe-
nen und deren Erwartungen.Wie lief
sie ab?Interessant und sicher nicht ein-
fach. Dochkein Wort zu einem Inter-
essenkonflikt. Vielmehr lässt dieKom-
mission sich akklamieren, dass es fast
schon peinlich wirkt: AlleAutorinnen
und Autoren der «Zeitzeugenexte» lo-
ben sie für ihreArbeit.Verfasst wurden
die Texte vor über einemJahr, als der
Syntheseteil noch nicht vorlag. Inhalt-
lich widerspricht er den meistenTexten.
Denn diese vergleichen die Schweiz
mit dem «DrittenReich», formulieren
Verschwörungstheorien und Sühne-
phantasien. Die staatlicheKommission
hat also zumSchreiben vonTexten er-
muntert, welche die Behörden bashen,
namentlich dasPersonal des Bundes-
amts fürJustiz. So verständlich dieWut
und das Misstrauen mancherAutoren
sind – man hätte dieTexte nicht ein-
fach unkommentiert abdrucken, son-
dern darüber diskutieren sollen.
Unterschiede verwischt
Trotz derRede von der «gleichenAugen-
höhe» fehlte offenbar der Mut,denAuto-
ren zu sagen, dass ihreAnsichten wissen-
schaftlich gesehen unhaltbar oder doch
problematisch sind.Stattdessen empfiehlt
die Kommission «Gegenuntersuchungen»
zu ihrem «Expertenwissen». Sie delegiti-
miert es. Die Opfer, heisst es, müssten wie-
der die Deutungshoheit über ihre Ge-
schichteerlangen. Das istein wichtiger
Punkt:KeinWissen ist je vollständig, jedes
ist perspektivisch – doch das gilt eben auch
für das der Betroffenen.
Es fehlte auch der Mut klarzustel-
len, dass manche unter den Betroffe-
nen weder administrativ versorgt wur-
den noch im engen Sinn Opfer fürsor-
gerischer Zwangsmassnahmen sind.
Deshalb dominiert in der Öffentlich-
keit dieWahrnehmung, dass die UEK
gleichermassen das Schicksal von admi-
nistrativ Versorgten,«Verdingkindern»
und Heimkindern untersucht habe.
Der Unterschied zwischen der admi-
nistrativrechtlichen Internierung eines
Erwachsenen in eine «Korrektions-
anstalt» und der vormundschaftsrecht-
lichen Heimplatzierung eines von sei-
nen Eltern misshandeltenKleinkinds
wird verwischt.
Das mag dem, der sich dann im
Heim einsam und vomVormund im
Stichgelassen fühlte,egal sein.Aber für
die Forschung ist die Differenz wich-
tig. Darauf zu insistieren, heisst nicht,
em pathiefrei zu sein. Empathie in die-
sem Kontext heisst: Grenzen nicht ver-
wischen, sondern benennen, damit sie
erkennbar werden.
Organisierte Willkür. Administrative Ver-
sorgungen in der Schweiz 1920 –1 98 1.
Schlussbericht(Veröffentlichungen der Unab-
hängigen ExpertenkommissionAdministrative
Versorgungen–Bd. 10 a). Zürich, Chronos;
Neuenburg,Alphil; Bellinzona,Casagrande
2019. 389S., Fr. 38.–, PDFkostenlos.
«Er triebsichimLand herum»–ein Dokument hält einenFall von administrativer Versorgung fest. ANTHONY ANEX/ KEYSTONE
Vielmehr lässt
die Kommission
sich akklamieren,
dass es fast schon
peinlich wirkt.
Man hätte dieTexte
nicht einfach
unkommentiert
abdrucken,
sondern darüber
diskutieren sollen.
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