32 WIRTSCHAFT Samstag , 7. September 2019
«Frankowicze» wittern einen späten Triumph
Polen wartet gespannt auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs – gab es miss bräuchliche Prakt iken bei der Vergabe von Fremdwährungskrediten?
DOMINIK FELDGES
Die polnischen Inhaber von Hypothe-
ken in Schweizerfranken sind gut orga-
nisiert und voller Ärger. Die «Franko-
wicze», wie sie imLand an derWeichsel
genannt werden, haben sich in Interes-
sengruppen zusammengeschlossen und
stellen immer wieder öffentlichkeits-
wirksamForderungen an dieBanken
und diePolitik inPolen.FünfWochen
vor denParlamentswahlen gehen bei
diesemThema, dasTeile der polnischen
Bevölkerung seitJahren stark beschäf-
tigt, dieWogen ein weiteres Mal hoch.
Standard & Poor’swarnt
Ministerpräsident Mateusz Morawiecki
sah sich Mitte dieserWoche veranlasst,
die Gefahren wegen eines mit Spannung
erwarteten Urteils des EU-Gerichts-
hofes in Luxemburg gegenBanken in
Polen herunterzuspielen. Es drohekeine
ökonomische Krise, weil dieFinanzinsti-
tute«sehr solide» kapitalisiert seien.
Vertreter der Rating-Agentur Stan-
dard&Poor’s sowie diverseAnalytiker
von Investmenthäusern, die den polni-
schenBankensektor verfolgen,sehen
das anders und warnen vor möglichen
gewichtigenVerlusten für dieInstitute.
Unter Anlegern ist dasVertrauen
in dieBankbranchePolens schon län-
ger erodiert. Am schlimmsten hat es
die Aktien der Getin NobleBank er-
wischt,die nach jahrelangenKursverlus-
ten kaum noch einenWert besitzen. Die
Börsenkapitalisierung des Instituts, das
in den nullerJahren durch eine aggres-
sive Expansion im Geschäft mit Klein-
kunden fürFuroregesorgt hatte, ist auf
355 Mio. Zl. (knapp 90 Mio. Fr.) ge-
schrumpft – von Noblesse, wie es der
Firmenname suggeriert, keine Spur.
Laut einerAufstellung der Nachrich-
tenagentur Bloomberg hat das Unter-
nehmen, das gut 50 00 Mitarbeiter be-
schäftigt, von allenBanken inPolen
mit 24% den höchstenAnteil an Hypo-
theken inFremdwährungen in seinem
Kreditbuch. Beinahe gleich stark ist
dieBank Millennium mit einem An-
teil von 22% exponiert. Der Aktien-
kurs des Instituts, das zu 50,1% von
der grössten portugiesischen Univer-
salbank,Banco ComercialPortuguês,
kontrolliert wird, ist seit AnfangJahr
um 26% eingebrochen.
Das Gros der Hypotheken inFremd-
währungen ist inPolen ähnlich wie in
anderenLändern Ostmittel- und Süd-
os teuropas inFranken vergeben wor-
den. Sie erfreutensich vor gut einer
Dekade grosser Beliebtheit.Polnische
Hausbesitzer mussten 2008 auf Krediten
in ihrer Heimwährung imDurchschnitt
8,7% Zins bezahlen, was ungefähr dem
Doppelten derVerzinsungvon Hypo-
theken inFranken entsprach. 2010 ver-
billigte sich der durchschnittliche Zins-
satz vonFrankenkrediten für sie sogar
auf unter 3%.
Für die Hypothekarschuldner kam
als günstigerFaktor hinzu, dass der Zloty
2008 in Bezug auf denFranken ungefähr
doppelt so viel wert war wie heute.An-
gesichts der jüngsten Erstarkung des
Frankens fiel derWechselkurs jedoch
auf knapp 4 Zl. /Fr., nachdem er schon
2015 nach derAufhebung der Euro-
Kurs-Untergrenze durch die Schweize-
rische Nationalbank stark nachgegeben
hatte. Die «Frankowicze» sehensich
vor diesem Hintergrund erneut in eine
unangenehme Situation versetzt.Laut
Bloomberg haben noch immer rund
450000 polnische Haushalte Hypothe-
ken inFranken ausstehend – mit einem
Gesamtwert von 25 Mrd.Fr. Ihr Anteil
an den gesamtenAusleihungen der pol-
nischenBanken zugunsten von Privat-
haushalten ist in den vergangenenJah-
ren angesichts vonRückzahlungen indes
sukzessive gesunken. Er beträgt laut der
Bankenaufsicht desLandes zurzeit noch
14 bzw. 24% allein bei Hypotheken.
Obschon gewisse Schuldner schmerz-
lich feststellen müssen, dass dasVolu-
men ihrer Hypothek inzwischen den
Wert der Immobilie übersteigt, sind nur
wenige mit Zahlungen imVerzug. Dies
hängt damit zusammen, dass sich die
polnischeWirtschaft bis anhin ausge-
sprochenrobust entwickelt hat und sich
die Arbeitslosigkeit aufrekordtiefem
Niveau bewegt.Weil die meistenHypo-
theken inFranken für selbstbewohnte
Immobilien in Anspruch genommen
worden sind, unternehmen die Haus-
besitzer zudem alles, um ihre Schuld zu
bedienen.Banken inPolen haben sich
jüngst denn auch kaum veranlasst ge-
sehen, zusätzlicheRückstellungen für
notleidende Kredite im Hypothekar-
bereich zu bilden.
Riesiger Schaden befürchtet
Ganz anders mutet das Bedrohungs-
szenario für die Finanzinstitute mit
Blick auf die vielen Gerichtsklagen an,
welche die «Frankowicze» angestrengt
haben. Insgesamt sind inPolen rund
8000 Fälle hängig. Sollte der Europäi-
sche Gerichtshof in seinem noch diesen
Herbst erwarteten Urteil zum Schluss
kommen, dass unzulässigeVerkaufs-
praktiken angewendet sowie inVerträ-
gen mit Kreditnehmern missbräuch-
liche Klauseln eingebaut worden seien,
hätte das weitreichendeKonsequenzen.
Die polnischeBankenvereinigung be-
zifferte den möglichen Gesamtschaden
eines negativen Urteils für den Sektor
auf 60Mrd. Zl. Dies entspräche unge-
fährdem, wasBanken inPolen in vier
Jahren gesamthaft an Gewinn erwirt-
schaften.Für die Inhaber derFranken-
kredite hingegen wäre es ein grosser
Tr iumph in ihrem jahrelangenFeldzug
gegen dieFinanzinstitute.
Vom Leimkocher zum Medtech-Experten
Die Familienfirma Geistlich hat sich in ihrer 168-jährigen Geschichte immer wieder neu erfunden
GIORGIOV. MÜLLER,WOLHUSEN
In168 Jahren kann viel passieren:Aus der
Lymhütte im heutigen Zürcher Quartier
Riesbach, in der ab1851 Heinrich Geist-
lich und Heinrich GlättliTierknochen
und -häute zu Leim verarbeiteten, ist ein
Herstellerregenerativer Biomaterialien
geworden, der im Dentalbereich markt-
führend ist und rund600 Mitarbeiter
zählt. In all denJahren sind zwei Dinge
jedoch geblieben: Noch immer sind tieri-
sche Knochen ein wichtiger Bestandteil
der Produkte von Geistlich Pharma, und
dieFirma gehört nach wie vor zu 100%
derFamilie Geistlich. 18 Jahre nach der
Gründung verlegte die aus Deutschland
zugezogeneFamilie die Produktion nach
Schlieren, wo sie sich einbürgern liess und
wo die Nachkommen zumTeil auch heute
noch leben, so auch Andreas Geistlich.
Zur kürzlichen Einweihung eines neuen
Produktionsgebäudes ist der 57-jährige
Zürcher nachWolhusen gefahren.
In fünfterGeneration
Der Präsident der Ed. Geistlich Söhne
AGist seit gut zehnJahren auchVe r-
waltungsratspräsidentder GeistlichHol-
ding, überdie 50Familienmitglieder die
geschäftlichen Aktivitätenkontrollieren.
Der Geistlich-Chef, der an derETH Bio-
chemie studiert hat, an der Uni Zürich
doktorierte und mit Blick auf dieKon-
zernführung ein Nachdiplomstudium in
Betriebswirtschaft absolvierte, gehört zur
fünften Generation der Unternehmer-
familie.Und die sechstesteht schon be-
reit. Noch sei es aber zu früh, um zu sagen,
ob jemandsich füreine operative Tätig-
keit eignen würde, sagtAndreas Geistlich,
der zusammen mit seinem Bruder Mar-
tin und einem Cousin die Interessen der
Familie imVerwaltungsrat wahrnimmt.
So unterschiedlich die Produkte ge-
worden sind, so wenig hat sich anderur-
sprünglichenTechnologie,derVerarbei-
tung tierischer Materialien, verändert.
2006 wurde die industrielle Knochenver-
arbeitung zwar eingestellt. 2005 trennte
sich dieFirma vom Geschäft mit essbarer
Kollagenfolie, und seit 2002 wurde auch
keine Speisegelatine mehr hergestellt.
Doch noch heute braucht es Knochen,
um die hochwertigen Schwämme und
Kollagenmembranen zu fertigen, die als
Ersatzmaterial in der Orthopädie, der
Zahnmedizin oder zur Regeneration
von Knorpeldefekten verwendet werden.
Hingegen stammen die Knochen nicht
mehr aus benachbarten Schlachthöfen,
sondern aus einemLand, in dem dieTier-
seuche BSE (Rinderwahn) nie aufgetre-
ten ist.Das Unternehmen verfolgt dabei
einenvoll integrierten Ansatz: «Von der
Beschaffung der Knochen alsAusgangs-
material bis hin zur Schulung von Zahn-
ärztenbei der Anwendungkommt alles
aus einer Hand»,sobeschreibt Andreas
Geistlich das Geschäftsmodell.
Industrielle Überbleibsel
Regenerative Biomaterialien sind heute
das Hauptgeschäft, weshalb der Zu-
satz «Pharma» imFirmennamen eigent-
lich unzutreffend ist – und auf derVer-
packung auch nicht erscheint. Die tra-
ditionellen Arzneimittel (Katheterrei-
niger,Narbensalbe, Vitaminpräparate)
der Geistlich Pharma lieferten nach wie
vor Deckungsbeiträge, weshalb man an
ihnen festhalte. Das letzte Überbleibsel
aus der industriellen Zeit derFirma, die
Delta ZofingenAG,habe sich im Markt
für industrielleVerbrauchsgüter gut posi-
tioniert und wachse erfreulich. Es bestehe
alsokein Grund, sich von ihr zu trennen.
DieVerlagerung des einstigen Indus-
trieunternehmens zur Medizintechnik-
firma istdasVerdienst vonPeter Geistlich,
dem Onkel von Andreas. Er warPatron,
Verwaltungsratspräsident und Geschäfts-
leiterinPersonalunion gewesen. Seit sei-
nemTod 20 14 hat sich dieFamilie aus
dem operativen Geschäft zurückgezo-
gen.Tr otzdem sei es für dieFirma ein
grosserVorteil, eineFamilie im Hinter-
grund zu haben. So sei es gelungen, den
familiären Charakter in die Belegschaft
zu tragen, was bei derRekrutierung helfe.
«DieFamilie sichert dieWissenschaftlich-
keit ab, und sie ist auch bereit, dafür zu
bezahlen», sagt Andreas Geistlich.Rund
10% des Umsatzes investiert das Unter-
nehmeninForschung und Entwicklung.
Ein anderer Besitzer wäre sparsamer und
mehr an der Optimierung des Gewinns
interessiert, vermutet Andreas Geistlich.
Wie hoch dieVerkäufe sind,verrät
er nicht, lediglich, dass sie im hohen ein-
stelligen bis tiefen zweistelligen Prozent-
bereich zulegen würden. «In Sachen Zah-
len sind wir ein verschwiegenesFamilien-
unternehmen.» Bisher habe dieFirma
alle Investitionen aus dem Cashflow zah-
lenkönnen.Vor den Sommerferien sei die
Mittelfristplanung erstellt worden:Auch
siekönne aus den eigenen Mitteln finan-
ziert werden, meint Andreas Geistlich.
Dank der gutenRentabilität kann sich
das Unternehmen auch denBau eines
modernen Produktionsgebäudes samt
Reinräumen leisten, das im Endausbau
22 Mio. Fr. gekostet haben wird. Zu zwei
Dritteln sei es schon ausgelastet. MitBlick
auf den ganzen Standort hätte es jedoch
ausreichend Produktionskapazitäten für
die nächsten zehnJahre,meinte Martin
Geistlich anlässlich der Einweihung des
in zweiJahren erstellten Gebäudes.
Seit 1899 im Kanton Luzern
Das zwischen demBahnhof und dem
Fluss Emme liegendeFirmengelände ist
seit1899 Hauptstandort.Damals wurde
eine Bein- und Knopfwarenfabrik ge-
kauft, die aus Knochen Leim undDün-
ger herstellte und von der gutenregio-
nalenVerfügbarkeit der Grundstoffe
profitierte. In den alten Gebäuden, wo
früher Gelatine und andereindustrielle
Produkte hergestellt wurden,sind heute
Labors,die Qualitätskontrolle und die
Forschung untergebracht, weshalb das
FirmengeländeeinemPatchwork gleicht.
InWolhusen («unsere Käserei») arbeiten
200 Leute; im luzernischenRoot («unser
Bienenhaus»), wo die klinische For-
schung,das Marketing und die IT unter-
gebracht sind, weitere 100. Dierestlichen
300 Personen sind imAusland tätig. Die-
sesJahr kam inJapan die zwölfteTochter-
gesellschaft hinzu.Für den Hauptstand-
ort werde zurzeit ein Masterplan erarbei-
tet, sagt der Geistlich-Chef, «wir haben
genug Platz inWolhusen». Wovor fünf
Jahren noch eine alteWalzmühle stand, ist
nun grüneWiese. Nur das dazugehörende
Kleinwasserkraftwerk ist noch inBetrieb
und liefert Stromfür die Produktion.
Die Leichtigkeitder Produkte hat den
Vorteil, dass sie vollumfänglich inWol-
husen hergestellt werdenkönnen. Doch
die strikterenVorschriften in der Medizin-
technik erfordern vermehrt eineTr ennung
derProduktionslinien,denn bei derVerar-
beitung von tierischen Materialien besteht
stetsKontaminationsgefahr. Deshalb wird
zum BeispielderKollagen-Vliesstoff vor
Ort hergestellt.Auch dieRegistrierung
der Produkte und die Schulung der Ärzte
deckt Geistlich ab,«das macht niemand
anders so umfassend wie wir».
Mit sichtlichem Bedauern stellt der
Geistlich-Cheffest, dass dieHersteller
von Zahnimplantaten zuKonkurrenten
geworden sind, weil sie vermehrtFirmen
übernehmen, die Biomaterialien herstel-
len.Früher seien die Bereiche getrennt
gewesen, nun gehe derTr end bei den Im-
plantatefirmen in RichtungBauchladen.
Wirkliche Sorgen bereiten ihm jedoch die
regulatorischen Änderungen in der Bran-
che («Es ist fast nicht auszuhalten»). Die
Entwicklung und die Zulassung neuer
Produkte würden teurer und nähmen
mehr Zeit in Anspruch.Auch das hän-
gigeRahmenabkommen mit der EU, das
für Schweizer Medizintechnikfirmen bald
technische Handelshemmnisse verursa-
chen dürfte, liegt Andreas Geistlich auf
dem Magen. Sie selbst hätten es im Griff.
Ginge es hart auf hart,könnten die in der
Schweiz hergestellten Produkte über eine
Tochtergesellschaft in der EU importiert
werden. Diese Option hätten die kleinen
Schweizer Medizintechnikfirmen nicht.
Die Firma bleibt zu 100Prozent in Familienbesitz:Verwaltungsratspräsident Andreas Geistlich. KARIN HOFER / NZZ
QUELLE: BLOOMBERG NZZ Visuals/efl.
Franken wirdfür Polen teurer
Zl./Fr.
2,5
3,0
3,5
4,0
4,5
- 2009 6. 9. 2019