Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

Samsta g, 7. September 2019 LITERATUR UND KUNST 43


Die Welt ist gut, schön und wahr


Die Waldorfschule feiert ihren hundertsten Geburtstag. Eine kritische Betrachtung .Von Peter Reichel


Am 7. September 1919 eröffneten
Rudolf Steiner undseinanthroposo-
phischerAuftraggeber, der industrielle
Mäzen und Direktor derWaldorf-Asto-
ria-Zigarettenfabrik, Emil Molt, auf
der Uhlandshöhe in Stuttgart die erste
nach dieserFabrik benannteFreieWal-
dorfschule– für die Kinder der Arbei-
ter (191) und Angestellten (65) des
Unternehmens. Wenige Wochen zu-
vor hatte derReichspräsidentFriedrich
Ebert (SPD) dieVerfassung derWeima-
rer Republik in Kraft gesetzt.Während
aber die erste deutscheRepublik schon
nach vierzehnJahren scheiterte, war die
erste private Betriebs- undReformge-
samtschule Deutschlands sehr viel er-
folgreicher und langlebiger. So umstrit-
ten sie bis heute geblieben ist, so erfolg-
reich ist sie. «Waldorf weltweit» heisst
ihr Slogan inzwischen. Mit mehr als
1100 Schulen, über 2000 Kindergärten
in fast 70Ländern,Tendenz steigend,
dazu Lehrerseminare, Heilpädagogische
Schulen, die meisten davon in Deutsch-
land, kann man sie als die grösste freie
Schulbewegung der Erde bezeichnen.
Daranist mit einer kritischen Gratula-
tion zu erinnern.
Als einheitliche, koedukative, laizisti-
sche und selbstverwalt ete Bildungs- und
Ausbildungseinrichtung mit einer sehr
besonderen und zunächst noch weit-
hin unbekannten, anthroposophischen
Pädagogik wurde sie bald das Alterna-
tivmodell für ein integriertkognitives,
künstlerisches und praktisches schu-
lisches Lernen.Keine Paukerei,keine
Züchtigung, nichtreine Stoffvermittlung,
Leistungskontrolle undAuslese charak-
terisieren diesePädagogik. Ganzheit-
liche, musisch-humane Erziehung ist ihr
Credo.Menschenbildung durch indivi-
dualisierendeFormung und Bildung des
Kindes zueinem ebenso selbstbewuss-
ten wie selbständigen jungen Erwachse-
nen vielerFähigkeiten und Eigenschaf-
ten. Sie hat ihre ideelle Grundlage im
Entwicklungskonzept der Anthroposo-
phie, SteinersreligiöserWeltanschau-
ungslehre. Und provoziert immer wie-


der kritischeFragen, bisweilen auch
heftigeKontroversen. Ob man ihr nun
Rassismus vorwirft, den «Freunden der
ErziehungskunstRudolf Steinerse. V.»
Eurozentrismus attestiert,wenn diese
die globaleVerbreitung derWaldorf-
pädagogik fröhlich als «überkulturell-
menschheitlich» feiern, oder hinter den
Ma uern ihrer Schulgebäude Brutstätten
von Masernepidemien argwöhnt.

Ein «sanftes»Imperium


Die Anthroposophie dementiert die
Grenze zwischen Empirie und Meta-
ph ysik. Sie steht imWiderspruch zu
Aufklärung,kritischer Rationalität
und wissenschaftlicher Intersubjektivi-
tät; Grundlagen der modernen, säku-
larisiertenWelt. Christliche Mysterien,
kultischeWeihehandlungen und Medi-
tation, der Glaube ankosmische Evo-
lution undReinkarnation führen nicht
zu einem kritischenWeltverstehen. Un-
zeitgemäss und antiaufklärerisch er-
scheinen Steiners geistidealistischeWis-
senschaftsfeindlichkeit, seine vielen
Ad-hoc-Behauptungen, spekulativen
Verallgemeinerungen, seine nebulöse
Begrifflichkeit und seinereligiös-pathe-
tische Sprache.
Diese fremdartig-esoterischeWelt-
anschauung glaubt, dasWesentliche der
Welt im wesenhaft Geistigen der mate-
riellen, sei es natürlichen, sei es sozia-
len Wirklichkeit erkennen beziehungs-
weise «erschauen» zukönnen.Verliert
aber im schulischen Alltagmeist nur in
den flüchtigen Augenblicken kreativer
Selbstvergessenheit den Boden unter
den Füssen.
DasVerhältnis zum Nationalsozialis-
mus blieb ambivalent. Manche Anthro-
posophen passten sich an und arbeite-
ten mit im NS-Staat, aber dieser blieb
geg enüber dem esoterischen Individua-
lismus misstrauisch und ablehnend. Die
Stuttgarter und die Dresdner Schule
wurden geschlossen, andere lösten sich
selbst auf. Dass sich die SS für die bio-
logisch-dynamischeLandwirtschaft und

der spirituell orientierteRudolf Hess für
die Anthroposophie interessierten, hat
ihr mehr geschadet als genützt.
Der zweiteAufstieg der Anthropo-
sophischen Gesellschaft war zunächst
überschattet durchRechtskonflikte zwi-
schen den wiedergegründetenVereinen
und Gesellschaften.Aber die Expansion
und Ausdifferenzierung einer nun welt-
umspannendenWeltanschauungsbewe-
gung verliefrasant.Trotz – oder wegen


  • Unterdrückung undVerbot durch die
    NS-Diktatur, Weltkrieg undTeilung,
    trotz Führungs- und Richtungsstreit,Ab-
    spaltungenund Neugründungen–Kon-
    flikte, die fürWeltanschauungsgemein-
    schaften unvermeidlich sind –, bestehen
    heute weltweit über 10000 anthropo-


sophische Gesellschaften, Produktions-
stätten inLandwirtschaft, Lebensmit-
telindustrie und Pharmazie, Kliniken,
Heilstätten, kulturelle Einrichtungen,
Schulen und Kindergärten. So ist, was
als religiöse Erweckungsphilosophie be-
gann,von SteinersSchülern umeine an-
gewandte Anthroposophie ergänzt wor-
den. Dem Propheten und Prediger sind
die Priester, Pädagogen und Produzen-
ten gefolgt,in grosser Zahl und über-
aus erfolgreich. Und sie haben aus einer
alternativen Lebensweltphilosophie
dem Selbstverständnis nach ein «sanf-
tes» Imperium gemacht.
Nicht zuletzt deshalb, weil für die
anthroposophische Anleitung der päd-
agogischen Praxis ein ebenso plausi-
bles wie populäres Konzept zurVer-

fügung steht: die Dreigliedrigkeit des
Menschen.In anthroposophischer Spra-
che: sein Leib (Wollen,Tun), sein Geist
(Denken) und seine Seele (Fühlen),also
das Zusammenwirken vonkörperlicher
Motorik, psycho-physischerKognition
(Wahrnehmung, Denken, Sprache) und
Empfindung (Fühlen, Gefühl). Die im
Sinne Steiners unbedingt gleichberech-
tigteFörderung dieser drei Befähigun-
gen führt dazu, dass die künstlerisch-
handwerklichenFächer im Unterrichts-
programm einen grossenRaum einneh-
men, vor allem in den ersten beiden
Entwicklungsstufen des Kindes.

Drei Wachstumsphasen


Steiner folgtin s einerPädagogik der
«verborgenen Natur»; er unterschei-
det dreiWachstumsphasen mit jeweils
charakteristischen Metamorphosen: zu-
nächst das ersteJahrsiebt, in dem das
Kind seine elementare «Erdenreife»
im Spiel durch Nachahmung vonVor-
bildern entwickelt.Das Vertrauen in
seine Umwelt soll durchFreude an ihr
gestärkt werden. Der Leitbegriff heisst:
«DieWelt ist gut.»
Das zweiteJahrsiebt ist die Zeit, in
der das Kind seine«Schulreife» entfal-
tet und dasVerhältnis von Klassenleh-
rer und Schüler durch «Autorität und
Nachfolge» bestimmt wird. Die künstle-
risch-bildhaftenFähigkeiten bei derAn-
eignung von Erzählstoffen aus derWelt-
li teratur, die elementarenKulturtechni-
ken, dieFörderung von Musikalität und
Temperamentserziehung des einzelnen
Kindes, freies Sprechen, Malen, Plasti-
zieren, Singen, Musizieren undTheater-
spiel prägen diese Phase. Sie steht unter
dem Leitbegriff: «DieWelt ist schön.»
In der dritten und letztenkörper-
lich-geistigen Entwicklungsphase, die
«Geschlechtsreife» ist erreicht, tritt die
kognitive und subjektiveWeltaneignung
ins Zentrum. Fachliches Spezialwissen,
propädeutischeKompetenzen, Urteils-
fähigkeit müssen erworben und in der
diskursiven Auflösung vonKontrover-

sen erprobt werden. Denn der Leit-
begriff heisst nun: «DieWelt ist wahr.»
Das vorgeblich universale Erzie-
hungskonzept stösst allerdings ausser-
halb des euroatlantischenRaums immer
wieder an seine kulturellen Grenzen.
Aus dem nationalchinesischenTaiwan
wurde vorJahrenberichtet (Kung-Pei
Tang 2010), dass der gesellschaftliche
Protest gegen das aufkognitive Leis-
tungen verengte staatliche Bildungs-
system der Waldorfreformpädagogik
grossenAuftrieb gab.Zugleich musste
sie dazu herhalten, die taiwanisch-na-
tionale Identität zu stärken. Inwieweit
das imWege von kultureller Anpassung
und Übertragung der eurozentrischen
Weltdeutung Steiners überhaupt gelin-
gen kann, ist hier nicht zu klären, aber
doch zu fragen.
«DieWelt istgut, schön und wahr»,
lautet der Lehr- und fundamentale Leit-
satz derWaldorfpädagogik.Man möchte
ihr dabei allerdings wünschen, dass sie
ihre Verantwortung für die ihr anver-
trauten Kinder und jungen Erwachse-
nen in zweifacher Hinsicht offen und
(selbst-)kritisch wahrnimmt: zum einen
gegenüber der modernenWelt, die sich
mit der vierten (digitalen) industriellen
Revolution im 21.Jahrhundert sorasant
verändert und in ihren natürlichen
Grundlagen wahrscheinlich auch weiter
zerstört – und zum anderen gegenüber
ihrer eigenen, zeitgebundenen Her-
kunftswelt der esoterischen Anthropo-
sophie und der von dieser inspirierten
Lebensreformbewegung. Bleibt diese
Anstrengung aus, wird die Kluft zwi-
schen beidenwachsen, die alternativ-
progressive Kraft der Bewegung erlah-
men und diese denAnschluss an die äus-
sere Weltveränderung verlieren. Zum
Schaden für beide.

Peter Reichelist emeritierter Professo r für
historische Grundlagen der Politik an der Uni-
versität Hamburg. Jüngst ersc hien von ihm in
der DTV-Verlagsanstalt das Buch «Der tragi-
scheKanzler. Hermann Müller und die SPD in
der Weimarer Rep ublik».

Nicht nur Stoffvermitteln:Die von Rudolf Steiner geprägteWaldorfpädagogik ist auchWeltanschauungslehre. MARTIN DIVISEK / EPA


Die Anthroposophie
steht imWiderspruch
zu Aufklärung,
kritischer Rationalität
und wissenschaftlicher
Intersubjektivität.
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