Samstag, 7. September 2019 MEDIEN 9
IN MEDIAS RAS
Für Journalisten
gibt es kein
Doppelleben
Rainer Stadler· Geheim ist immer gut
- auf demMarktplatz der Öffentlich
keit.Am Donnerstag machte die«Welt
woche» einen Geheimplan zurTitel
geschichte. Demnach fordert dieSVP
in einem noch nicht verabschiedeten
Papier die Abschaffung des Asylstatus.
Davon habe bisher nur eine Handvoll
aus derParteiführungKenntnisgeh abt,
heisst es. Nun wissen es alle. DerAbsen
der macht die Enthüllung speziell, denn
der Chefredaktor des Blatts zählte als
Parteimitglied kaum zurFraktion der
Ahnungslosen. Entsprechend gleicht
die PublikationeinemVersuchsballon.
Das Papier ist noch nicht offiziell,aber
es lässt sich damit testen,wie die Öffent
lich keit auf den angekündigten Angriff
auf ein bisher weitgehend unbestrittenes
Recht reagiert.Bis anhin praktisch nicht.
Keine Empörung.
Im Hinblick auf denWahlkampf
also einRohrkrepierer?Kommt drauf
an. Es hängt von den Nachrichten ab.
Die noch kurzen News von steigenden
Flüchtlingszahlen in der Ägäis und dem
Regierungswechsel in Italien, der eine
Aufweichung der harten Migrations
politik des abgetretenen Innenminis
ters inAussicht stellt, sind vielleicht
Vorboten für eineRückkehr desThe
mas in die grosse Medienarena.Je mehr
Bilder von Migranten an den Grenzen
von Südeuropa, desto eherkommt der
Tabubruch auf die Agenda.
Mit Geheimnissen operiert dieSVP
auch in ihrer neuesten Wahlkampf
aktion, der fünfteiligen Krimikomödie,
die amFreitag nach einem nett inszenier
ten Countdown um 11 Uhr im Internet
Premiere hatte. Mysteriös bleibt selbst
der Filmregisseur – weil man ihn gegen
Repressalien der Kulturszene schützen
wolle, wie es in einemVorausbericht der
«Aargauer Zeitung» hiess.Inder ersten
Folge treffen sich Exponenten derPartei
in einem Bunker, um einen Geheimplan
zur Aufdeckung eines Geheimplans der
SP durchzuführen. Es überrascht nicht,
wer dieRolle des Bosses einnimmt:
Christoph Blocher.
Politiker müssen zwar ebenfalls über
darstellerische Fähigkeiten verfügen,
doch mutet es kurios an, wenn sie in fik
tiven Handlungen mehroder weniger
sich selber spielen, teilweise augenzwin
kernd. Wer über die schauspielerische
Unb eholfenheit hinwegsieht, mag das
amüsant finden. Es ist indessen zweifel
haft, dass man so Glaubwürdigkeit ge
winnt und das Interesse in Kreisen, wel
che derPolitik fernstehen, dafür weckt,
was derSVP politisch am Herzen liegt:
die Bewahrung der Schweiz vor einem
Rahmenabkommen mit der EU. Die
ersteFolge desFilms hinterlässt viel
mehr den Eindruck, dass der Klamauk
das Thema verdrängt.
Politiker undJournalisten operie
ren berufshalber in der Öffentlichkeit.
In dieser Sphäre ist es schwierig, gleich
zeitig verschiedeneRollen zu spielen.
Entsprechend schillernd wirkt derAuf
trag , den Blocher imFilm anRoger
Köppel erteilt: Bisher hätten die ande
ren das ganzeJahr überFakeNews ver
breitet. Nun müsse dasKöppel tun mit
dem Ziel,den Geheimplan derSVP ge
heim zu halten. Ein politischerJourna
list soll mitFakeNews operieren?Da
läuft man unweigerlich Gefahr, dass das
Vorgespielte aufsreale politpublizisti
sche Profil abfärbt. EineFaustregel im
Journalismus lautet: Ironie erkennt nur
eine Minderheit des Publikums.
Liebhabern des kleinen Skandals sei
eine kleine Episode empfohlen.Als die
SVPVerschwörer darüber beraten, wer
den von Blocher im «roten Buch» fest
gehaltenen Geheimplan verlässlich be
schützenkönnte, meintThomas Matter:
Sicherkein Tessiner. Hoppla.
Nah am Pulsder Zeit zu sein, ist fürJournalistenzentral. Wersichaber nur nachseinenKunden richtet,denktzuk urzfristig. GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Mehr Mut gegenüber der Macht des Lesers
Wer sich jedem Shitstorm beugt, hat schlechte Karten im Markt
RENÉ ZEYER
Früher wurde der schimpfende Leser,
der mitKündigung des Abonnements
drohte, zur Kenntnis genommen, sein
Widerspruch als Erziehungsaufgabe ge
sehen.Dashat sich geändert. Der Leser
wird gehätschelt. Denn er hat nicht nur
mehr Macht als früher, er nützt sie auch,
dank den sozialen Plattformen im Inter
net, ungeniert aus.
In der Schweiz macht Printwerbung
mittlerweile weniger als eine Milliarde
Franken amWerbekuchen aus,Tendenz
weitersinkend. Steil nach obengeht da
für die OnlineWerbung mit über 2 Mil
liardenFranken.Aber da schneiden sich
die b eiden Giganten Google undFace
book mit fast 80 Prozent den grössten
Teil der Einnahmen ab. Umso wichtiger
wird daher der zahlende Leser.
Vielen Lesern gelüstet es in einer un
üb ersichtlichen, multipolarenWelt nach
Orientierung, nach klarer Kante. Und
dafür am besten geeignet ist immer
noch die Unterteilung derWelt in Gut
und Böse.Trump:Wie er mit jedem
Tweet beweist, eindeutig böse. Bol
sonaro: Schuld am Sterben des Ama
zonaswaldes. Dass seinVorgänger Lula
bis jetzt den ungebrochenenRekordan
Waldbränden und Brandrodung hält,
das stört bei klarer Kante nur, ebenso
wie dieTatsache stört,dass Evo Morales
in Bolivien die Brandschatzung seines
Teils des Amazonasgebietes sogar zum
Regierungsprogramm gemacht hat,um
die anstehendenWahlen zu gewinnen.
DerChef kriechtzu Kreuze
Typisch deutsch war die vor genau
einemJahr aufbrandende Debatte, ob es
in Chemnitznac h der Ermordung eines
DeutschKubanersdurch Asylsuchende
zu Hetzjagden auf fremdländisch aus
sehendePersonen gekommen sei oder
nicht. Die erbitterte Debattekostete
dann sogar den Präsidenten desVerfas
sungsschutzes seinAmt,weil er dieAus
sagekraft eines Handyvideosbezwei
felte, das eine solche Hetzjagd belegen
sollte. Der «Spiegel»KolumnistJakob
Augstein verstieg sich sogar zur Behaup
tung, es handle sich umPogrome.
Als dann einrechtsliberales Maga
zin dieAutorin desVideos ausfindig
machte, die eidesstattlich versicherte,
dass das weder einPogrom noch eine
Hetzjagd nochAusdruck vonrassisti
scher Fremdenfeindlichkeit gewesen
sei – und dass ihr berühmterAusspruch
«Hase, du bleibst hier» ihrem Mann ge
golten habe, der nicht auf einenPöbler
losgehen solle, der einenTeilnehmer
am Trauermarsch mit Bier übergossen
habe –, wurde dies,wenn überhaupt, als
klitzekleine Meldung abgehandelt.
Das deutscheWochenblatt des un
aufgeregten Nachdenkens, «Die Zeit»,
wagte es vor einemJahr,das jedenSom
mer aktuelleThema der Flüchtlings
rett ung im Mittelmeer mit einem Pro
und Contra abzuhandeln. Dies geschah
durch zweiAutorinnen, die sich beide
unaufgeregt zu dieserTragödie äusser
ten, wobei die Skeptikerin,nicht nurauf
grund eigener Erfahrungen auf einem
solchenRettungsschiff, zur Schlussfol
gerung kam, dassRetter das Problem
ve rgrössern würden und nachweisbar
«Teil des Geschäftsmodells der Schlep
per» geworden seien.
Das erschien unter demTitel «Oder
soll man es lassen?» – und löste einen
Shitstormund einenSturmder Entrüs
tung aus. Der kritischenAutorin wurde
unterstellt,sie nehme das Ertrinken von
Flüchtlingen billigend in Kauf. Heri
bert Prantl,damals in der Chefredak
tion der «Süddeutschen Zeitung», em
pörtesich,alleine mit einem solchen
Pro und Contra werde «die Menschen
würde verletzt». EineRedaktionskolle
gin von der «SZ» formulierte rustikaler:
«Ihr habt doch den Arsch offen.» Ähn
lich keifte eine «Spiegel»Kolumnistin,
nachdem auch die «Bild»Zeitungdie
Mission derRettungsschiffe infrage ge
stellt hatte: «Die ‹Bild› ist ein hetzender
Haufen Aasgeier, aber heute macht die
‹Zeit› einfach dasselbe.»
Auch hier wurde zunächst digital der
Titel geändert, eine Woche später kroch
die Chefredaktion der «Zeit» zu Kreuze.
Nachdem – natürlich – immer häufiger
mit Abbestellung des Abonnements ge
droht worden war. Sie entschuldigte sich
ausdrücklich für denTitel, bedankte
sich bei der «hellwachen» Leserschaft
und räumte «Fehler» ein. Niemand
vertrete in der «Zeit» dieAuffassung,
dass man «Menschen ertrinken lassen
sollte».Das gelte natürlich auchfür die
ContraAutorin.Aber: «Dass ein ande
rer Eindruck entstehenkonnte, tut uns
von Herzen leid.» Die kritischeJourna
listin und denTitel mit bösartiger Ab
sicht missverstehen, das war allerdings
die einzige Möglichkeit, wie ein solcher
Eindruck hätte entstehenkönnen.
Gehen wir etwas näher. EineRepor
terin der «Republik» ging für dasPor
trät einesPolitikers mit ihm auf Bei
zentour. Daraus entstand eine schöne
Exp edition in dieWirklichkeit. Aller
dings: Die Person desPorträtierten war
für viele sensible «Republik»Verleger
eine unerträglicheBelä stigung in ihrer
Filterblase. «Echt dröge» ist, neben
lobendenKommentaren, noch zurück
haltend. Es prasselten Kritikund Dro
hungen mit Abbestellungen auf die
«Republik» ein.Viele Leser begrüss
ten dasVerhalten desBarkeepers in
der RothausBar an der ZürcherLang
strasse, wo der Abend enden sollte.
Peinlicher Rauswurf
Denn hier, wo auch die «Republik» ihre
Redaktion hat, wurdeSVPNationalrat
Alfred Heer unter Inanspruchnahme
des Hausrechts auf die Strasse gestellt.
Fürchterlich peinlich für die «Repu
blik»Reporterin, aber typisch für ihre
modernen Leser.Wenn sie in ihrem
Organ einen sogenanntenFaktencheck
lesen , der derSVPNationalrätin Mar
tulloBlocher auf «3 Seiten 30 Lügen»
vorwirft, dann ist ihnen die «Republik»
ihr Geld wert. Dass diese 30Lügen nur
durch kräftiges Biegen derWirklichkeit
herausgekitzelt wurden, was soll’s.
Warum istdiese Entwicklung fatal?
Ganz einfach, weil damit nicht nur die
«Zeit» Anlass zur Befürchtung gibt,
dass es ihr im Zweifelsfall nicht mehr
um eine möglichst wahrhaftigeBe
schreibung derRealität geht, wobei Be
richtund Kommentar getrennt bleiben.
Vielmehr geht es um die Bedienung
der Klientel,die lieber unablässig ihre
Vorurteile und Urteile bestätigt sehen
möchte,inder Gesinnungsglocke unter
Luftabschluss. Statt sich den rauen
Wind derWirklichkeit um die Nase we
hen zu lassen.Aber das müsste manerst
einmal aushalten.
Absurd an all diesenFilterblasen –
auch im deutschen, im schweizerdeut
schen Sprachraum – ist,dass die in ihnen
Gefangenen meinen, wenn manWorte
verändere, wenn manWorte verbiete,
wenn man angeblich hinterWorten ste
hende Haltungen denunziere, wenn
man wie bei Orwell bestimmteWorte
einfach ausradiere, dannsei ein Er
folg, ein Fortschritt erzielt worden.Also
wenn man jemanden alsRassisten be
schimpfe, dann gehe der in sich und be
reue. Wenn manrassistischeAusdrücke
stigmatisiere oder gleich verbiete, dann
verschwindeRassismus.Wenn man über
einen politischen Exponenten nicht be
richte,dann verschwinde der, zusammen
mit seinen Ansichten.
Organe, die nur ihre zahlende Klien
tel bedienen wollen, ihr nicht zumuten,
dieWirklichkeit in all ihrerWidersprüch
lichkeit und Buntheit darzubieten,statt
dessen die Berichterstattung nicht nur
passend in denRahmen der Publika
tion einfügen, sondern auch passend
machen, was nicht in dasWeltbild der
Leserschaft passt,sind früher oder spä
ter zum Untergang verurteilt. In ihnen
leb en, um die Metapher vonFriedrich
Dürrenmatt anzuwenden, Sprachgefan
gene und fühlen sich frei, während sie
sich selbst und die erlaubteVerwendung
der Sprache bewachen.
Schonmorgenwoanders
Wo sich nicht mit moralgeschwän
gertenTotschlagargumenten das kri
tische Denken verbieten lässt, auch
Widerstand in der Leserschaft aus
gehalten wird, wennPositionen nicht
um des Krawalls, sondern des Er
kenntnisgewinns willen publiziert wer
den, solcheMedien haben Zukunft.
Und sind sich des Neids der Haltungs
Medien sicher. Denn diese können
nicht verhindern, dass «Das Ende der
Welt», das der «Spiegel» nach derWahl
Trumps verkündete, auch für den Leser
erkennbardoch noch auf sich war
ten, sich auch weder herbei noch weg
schreiben lässt.
Für solche mutigen Medien im bes
ten Sinne derAufklärung, die auch ein
mal etwas aushalten, finden sich zah
lende Leser – denn sie schwanken nicht
im Wind, und Erkenntnisgewinn istein
gutes Businessmodell. Für Haltungs
Medien, die bloss ihre Blase bedienen,
kann dieLuft hingegen schnell dünn
werden – dieselben Leute, die heute
für ihre Inhalte bezahlen, sind vielleicht
schon morgen woanders unterwegs.