Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

10 MEINUNG &DEBATTE Samstag, 7. September 2019


Zusammenwachsen zwischenOstundWest in Europa


Macht und Möglichkeiten –


Deutschlands Rolle in Osteuropa


Gastkommentar
von THOMASPAULSEN


«Wir Osteuropäer» – wenn führendePolitiker mit
diesenWorten ihreRede zur Zukunft beginnen,
wird deutlich, dass es 30Jahre nach dem Mauer-
fall und15 Jahre nach der Osterweiterung der EU
immer noch eine Grenze in Europa gibt, und die
verläuft immer noch entlang des EisernenVor-
hangs.Tatsächlich zeigen Umfragen, dass sich viele
Menschen in den östlichen Mitgliedstaaten der EU
von ihren westeuropäischenLandsleuten immer
noch nicht ernst genommen fühlen.Viele sind der
Meinung, dass ihre Interessen und Sichtweisen in
Berlin,Paris oder Brüssel nicht ausreichend be-
rücksichtigt werden.Von einer neuenForm des
Kolonialismus ist dieRede, wenn grosseTeile ein-
heimischer Branchen ausländischen Eigentümern
gehören.
Vorbehalte gibt es aber auch in den alten EU-
Mitgliedstaaten: Laut einer Umfrage derKörber-
Stiftung hält die Hälfte der Deutschen heute die
EU-Osterweiterung für einenFehler. So richtig
ist Europa offenbar immer noch nicht zusammen-
gewachsen.Trotz wirtschaftlichen Erfolgen, trotz
der Integration dieserLänder in EU und Nato
sind sich Ost- undWesteuropäer vielfach fremd ge-
blieben.FürDeutschland muss dieser Befund ein
Weckruf sein.Kein anderes europäischesLand hat
so ausgeprägte Interessen jenseits von Oder und
Neisse. Und kein anderesLand ist für die EU-Mit-
gliedstaaten in Ostmitteleuropaso wichtig wie die
Bundesrepublik.


Interessen und SoftPower


Deutschland und seine östliche Nachbarschaft sind
durch die gemeinsame Geschichte aufs Engste ver-
bunden. Über 300Jahre lang herrschteder Deut-
sche Orden über grosseGebiete entlang der Ostsee.
Durchdie deutsche Ostsiedlung, Auswanderungs-
bewegungen, Flüchtlingsströme und Grenzver-
schiebungen entstandendeutschsprachigeMin-
derheiten in fast allenTeilen Osteuropas. Deutsch-
lands SoftPower ist heute in Osteuropa daher
allenthalben spürbar. Nirgendwo ist die deutsche
Sprache so lebendig. Deutsche Botschaften befin-
den sich oft an den prominentesten Plätzenin den
jeweiligen Hauptstädten.
Deutschland trägt aber auch eine besondere his-
torische und moralischeVerantwortung gegenüber
den Menschen derRegion. Im ZweitenWeltkrieg
forderte derAngriffs- undVernichtungsfeldzug des
«DrittenReichs» Millionen Opfer in Osteuropa.
Und Deutschland ist ihnen zuDank verpflich-


tet, weil die deutscheWiedervereinigung ohne die
Polen, die mit ihremFreiheitswillen in den1980er
Jahren denkommunistischen Machthabern trotz-
ten, und ohne die Ungarn, die mit der Öffnungdes
Grenzzauns das erste Loch in den EisernenVor-
hang schnitten, kaum vorstellbar ist.
Am augenfälligsten ist die tiefeVerbindung
zwischen Deutschland und seinen osteuropäischen
Nachbarn in derWirtschaft. Nach demFall des
EisernenVorhangs investierten deutsche Unter-
nehmen Milliarden von Euro in derRegion und
schufen Millionen von Arbeitsplätzen. Heute ist
Deutschland der grösste Handelspartner praktisch
aller Staaten Ostmittel- und Südosteuropas. Der
deutsche Handel mit den Staaten derVisegrad-
Gruppe (Polen, Tschechien,Slowakei, Ungarn)
übertraf 2018 mit 293 Milliarden Euro den Handel
mit China um mehr als die Hälfte.
Auch die sicherheitspolitische Bedeutung Ost-
europas lässt sich von deutscherWarte aus kaum
überschätzen.Durch dieOsterweiterung wurde aus
demFrontstaat Deutschland an der Grenze zwi-
schen Nato undWarschauerPakt einLand in der
Mitte Europas, das nur noch vonFreunden und
Verbündeten umgeben ist. Nach dem Nato-Beitritt
de r neuen EU-Mitglieder ist die Bundesrepublik

gege n Konflikt und Instabilität im Osten Europas
abgeschirmt.
Wie kann Deutschland seiner besonderenVer-
antwortung und seinen Interessen in Osteuropa ge-
recht werden?

Bausteine einer Osteuropapolitik


Deutschland muss ein klares Be kenntnis zur Sicher-
heit seiner östlichen Nachbarn abgeben und dieses
durcheigenemilitärischeFähigkeiten untermauern.
Mit der Stationierung von Bundeswehrsoldaten in
Litauen trägt Deutschland dazu bei, die baltischen
Staaten,aber auchPolen innerhalb der Nato gegen-
über ihrem grossen russischen Nachbarn rückzu-
versichern. Dennoch bleibt das Bild zwiespältig.
In Umfragen offenbart die deutsche Bevölkerung
immer wieder ihrenWankelmut, wenn es um die
Bereitschaft geht,Verbündete gegenAggression zu
verteidigen.Die weitverbreitete Skepsis gegenüber
dem 2-Prozent-Ziel der Nato wird inWarschau
oder Tallinn genauso sorgsamregistriert wie die Be-
richte über die unvollständige Einsatzbereitschaft
der Bundeswehr. Viele Verbündete in Osteuropa
verlassensich daher lieber auf die Beistandsgaran-
tie der USA. Die Stärkung der eigenenVerteidi-
gungsfähigkeit wäre daher einer der wichtigsten
Beiträge, die Deutschland zum Zusammenwach-
sen und zum Zusammenhalt der EU leistenkönnte.
Auch in der Energiepolitik muss Deutschland
dafür sorgen, dass dieLänder in Osteuropa nicht
unter Druck geraten. So verständlich derWunsch
der Bundesrepublik nach einer sicheren – sprich
direkten –Versorgung mit russischem Gas ist, so
gross muss dasVerständnis in Berlin auch für die
Sorgen seiner europäischen Nachbarn sein. Ein von
deutscher Seitegem achtesVersprechen, dass die
Ukraine auch in ZukunftTransitland für Gasliefe-
rungen nach Deutschland sein werde, darf kein Fei-
genblatt für denBau der Nordstream-Pipeline sein,
das schnell wieder inVergessenheitgerät , sobald
das Gas durch die Ostsee fliesst.
In den Beziehungen zuRussland sind Stand-
festigkeit und strategische Geduld das Gebot der
Stunde. Dass die EU in derRusslandpolitik nach
der Annexion der Krim durch Moskau weitgehend
Geschlossenheit gezeigt hat und auchJahre spä-
ter an den Sanktionen festhält,ist nicht zuletzt der
konsequenten deutschen Haltung geschuldet. Eine
Verständigung mit Moskau über dieKöpfe der ost-
europäischenVerbündeten hinweg verbietet sich
aus historischen und strategischen Gründen. Die
in Moskau immer noch herumgeisterndeVorstel-
lung, Russland und Deutschlandkönnten sich doch
arrangieren und als Grossmächte gemeinsam die

Politik in Europa organisieren,ist mit Deutschlands
fester Einbindung in EU und Nato undenkbar. So-
lan ge Moskau an seinerPolitik festhält,auf dem
Gebiet der ehemaligen Sowjetunion die Prinzipien
territorialer Integrität und staatlicher Selbstbestim-
mung nureingeschränkt zu akzeptieren, bleibt da-
her nur wenig Spielraum für eineWiederbelebung
der deutsch-russischen Beziehungen.
Deutschland muss sich intensiver mit den stra-
tegischenKonsequenzen der chinesischen Seiden-
strassen-Initiative in Osteuropa befassen. Dass
der Einfluss der neuenWeltmacht China auch in
Osteuropa zunimmt, ist eine natürliche und un-
vermeidliche Entwicklung. Wenn sich Peking mit
dem 17+1-Format einForum für politische Mitspra-
che bei den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas
organisiert, wenn die Abhängigkeit gerade kleine-
rer EU-Mitgliedsstaaten in Osteuropa von China
zunimmt und damit auch der politische Einfluss
Chinas steigt, kann das Deutschland nicht gleich-
gültig sein.Ganz abgesehen davon,dass dieFormu-
li erung einer gemeinsamen EU-Chinapolitik dann
noch schwieriger würde als bisher. Es ist einegute
Sache, wenn China zur wirtschaftlichen Entwick-
lung in derRegion beiträgt.Wenn der chinesische
Einfluss aber als Spaltpilz in der EU wirkt, ist das
nicht in deutschem Interesse.
Berlin darf erkennbare demokratische Defizite
oderFehlentwicklungen in Osteuropa nicht igno-
rieren.Wenn Werte undRechte, die denKern der
EU ausmachen, verletzt oder beeinträchtigt wer-
den, beispielsweise im Umgang mit NGO,Medien,
demJustizsystem oder derKorruptionsbekämp-
fung, muss das hohen Stellenwert auf der europa-
politischen Prioritätenliste Berlins bekommen.Auf
welcheWeise solcheThemen zumal in der Öffent-
lichkeit besprochen werden, steht auf einem ande-
ren Blatt.Das bleibt einBalanceakt, weil Deutsch-
land als Macht in der Mitte Europas ein überragen-
des Interesse am Zusammenhalt der EU hat und
sich mehr als andere imVerhältnis zu Osteuropa
um Ausgleich bemühen muss.
Richard von Weizsäcker hat die Osterweiterung
der EU einmal als einen der «glücklichstenTage in
der deutschen Geschichte» bezeichnet.Damit die-
ses Glück anhält, muss sich Deutschland ganz be-
sonders für das Zusammenwachsen zwischen Ost
und West in Europa engagieren. Denn erst wenn
Politiker ihreReden nicht mit«Wir Osteuropäer»,
sondern mit«Wir Europäer» beginnen, ist der
EiserneVorhang in Europa endgültig Geschichte.

Thomas Paulsenist Mitglied des Vorstands der Körber-
Stiftung. Bis Ende 2014 war er Leiter des Bereich s Interna-
tionale Polit ik.

Wie kann Deutschland seiner


besonderenVerantwortung


und seinen Interessen


in Osteuropa gerecht werden


in einer Zeit, in der die


Aufmerksamkeit von Politik


und Öffentlichkeit


immer wieder nach Süden


(Migration) und nachWesten


(Trump) gelenkt wird?


KARIKATURDER WOCHE


PETER GUT
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