Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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14 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR. 36 8. SEPTEMBER 2019


mmer häufiger stimmen die Menschen Elegien
an über den Zustand Großbritanniens. Zerstört
ist das Image einer von breitem Konsens getrage-
nen demokratischen Kultur, vorbei ist es mit
dem Ansehen britischer Politik als dem kompro-
missdurchtränkten Nonplusultra diplomatischer
Weisheit. Vielleicht haben wir nicht genau hingese-
hen, wie brüchig es unter der polierten Oberfläche des
Vereinigten Königreichs zuletzt geworden war, wie zu-
nehmend schwierig sich beispielsweise der Zusam-
menhalt in dem Vier-Völker-Gemeinwesen, bestehend
aus England, Schottland, Wales und Nordirland, ge-
staltet. Die „Devolution“, die Gründung selbstregie-
render Parlamente in Edinburgh, Cardiff und Belfast
vor 20 Jahren sollte dem unitären Reich ein unge-
wohntes regionales Element hinzufügen, gedacht, die
auseinanderstrebenden Identitäten im Zaum zu hal-
ten durch Teilautonomie.

VON THOMAS KIELINGER

Die friedliche Absicht prallt an der Realität ab: In
Schottland wächst der Dissens mit der Zentrale in
London. Die europäische Frage spaltet die erhoffte
Übereinkunft. Der Brexit, den die Schotten 2016 mit
Zweidrittelmehrheit ablehnten, steigert den Ruf nach
Unabhängigkeit vom Rest der Insel. In Nordirland da-
gegen liegt seit über zwei Jahren das Regionalparla-
ment am Boden, niedergestreckt durch sektiererische
Streitigkeiten zwischen Protestanten und Katholiken;
Westminster hat wieder die Zügel in die Hand nehmen
müssen, in Belfast schläft die „Devolution“ den Schlaf
der Unhaltbarkeit angesichts eines tief in der Vergan-
genheit wurzelnden religiösen Konflikts.
Eine zentrifugale Drift. Demokratie, die als eini-
gendes Band nicht funktioniert. Funktioniert sie we-
nigstens in Westminster, dem Musterknaben aufge-
klärter, weltzugewandter Politik? Die zurückliegende
Woche hat uns etwas anderes vorgeführt: einen Auf-
stand des Parlaments gegen die Regierung, die
Downing Street, einen Verfassungskonflikt, der einen
politischen Bürgerkrieg streift. Infelix Britannia, dei-
ne Tradition wankt.
Aber wer sich in die Geschichte Großbritanniens
vertieft, weiß, dass dies durchaus keine Ausnahme ist.
England war im 17. Jahrhundert das europäische Land,
das als erstes den Absolutismus abschaffte, das Got-
tesgnadentum, einhundert Jahre vor der Französi-
schen Revolution. Aber dem ging ein blutiger Kampf
um alles oder nichts voraus – „do or die“, wie Premier-
minister Johnson den Konflikt um den „No Deal“-Bre-
xit heute umschreibt. König Karl I. verlor im Bürger-

krieg mit den Parlamentariern 1649 seinen Kopf. Ein
Schicksal, das Boris Johnson nicht mehr blüht, aber
verloren steht er allemal auf dem Kampfplatz, nieder-
gerungen von der parlamentarischen Mehrheit, ein
Premierminister, der die ersten drei Abstimmungen
seiner Amtszeit glatt verloren hat. Ob er sich halten
kann, steht in den Sternen, die Unterhauswahl, die
nicht mehr lange auf sich warten lassen wird, mag es
beantworten. Sieht so ein Mann aus, dem der Ruf vo-
rauseilt, er könne siegen?
An der Frage der Demokratie und was mit ihr ge-
meint ist, scheiden sich die Geister. Robert Tombs, der
gefeierte Historiker der englischen Geschichte, ein
glühender Anhänger des Austritts aus der EU, macht
den „populären Willen“ der Mehrheit, die beim Refe-
rendum 2016 knapp für den Brexit stimmte, zum Kern
seiner Überlegungen. Tombs beharrt auf dem Grund-
satz, das Parlament besitze keine Legitimität, eine
Mehrheitsentscheidung zu überstimmen. Das ist die
strittige Frage. Laut dieser Interpretation ist die re-
präsentative Demokratie in Gestalt der Abgeordneten,
der Vertreter ihres jeweiligen Wahlkreises, nichts an-
deres als der Erfüllungsdiener dessen, was die Wähler
diesen auftragen. So argumentieren alle Brexit-Befür-
worter, sie halten das Unterhaus für weisungsgebun-
den an die vor drei Jahren gefällte Entscheidung.
Wem ist der Abgeordnete verpflichtet? Einem Plebis-
zit, dessen Ausgang er möglicherweise gar nicht teilt?
Oder der Überzeugung, was seinem Wahlkreis nottut,
unter Berufung auf sein Gewissen? Wie genau lautet
sein Mandat? Auf die Spitze wird dieser Konflikt getrie-
ben, wenn die Regierung an den EU-Austritt sogar die
Möglichkeit knüpft, es ohne einen Vertrag mit Brüssel
zu tun, also als „No Deal“. Dann fühlt sich das Unter-
haus gänzlich an den Rand gedrängt und jeder Mitspra-
che beraubt. Der Aufstand folgt.

GEWOHNHEITSRECHTDie britische Verfassung ist
ungeschrieben, sie setzt sich zusammen aus der Tradi-
tion, aus Konventionen, aus dem Common Law, dem
Gewohnheitsrecht, und aus Präzedenzfällen, die Par-
lament und/oder Gerichte schufen und schaffen. Was
aber geschieht, wenn sich ein Streitfall wie die Frage
des „No Deal“-Brexit nicht unter Berufung auf irgend-
welche Tradition oder Präzedenzfälle lösen lässt?
Dann konstatiert der Speaker des Unterhauses – heute
John Bercow – eine Novität, genehmigt eine Notde-
batte um die umstrittene Frage bis hin zu dem Punkt,
an dem das Parlament sein eigenes Gesetz postuliert
und über das Recht der Exekutive triumphiert.
Das ist in den Augen der Johnson-Regierung das ei-
gentliche Skandalon: In dem Augenblick, wo der Spea-

Infelix Britannia,nfelix Britannia,


deine Traditioneine Tradition


wankt


Premierminister Boris Johnson wagt in diesen Tagen den


Machtkampf mit dem Parlament. Es tobt ein


Verfassungskonflikt, unter dem Tradition und Anstand


leiden. Wie steht es um die britische Demokratie?


2.9.


„Ich will keine Neuwahl“Ich will keine Neuwahl“Ich will keine Neuwahl“, sagt, sagt
JJJohnsonohnsonam Montag und warnt,
dass er sich dazu gezwungen sehen
könnte, Neuwahlen auszurufen,
sollten die Parlamentarier seinen
Brexit-Kurs ausbremsen

28.8.


Brief an die QueenPremier John-
son bittet die Königin um eine
ZZZwangspause des Parlwangspause des Parlaments bis
zum 14. Oktober. Er wollte die Par-
lamentarier nach nur vier Tagen
wieder nach Hause schicken


I


3.9.


TTTory Philip Leeory Philip LeeDer Abgeordnete
wechselt zu den Liberaldemokra-
ten. So verliert Johnson die Mehr-
heit. Das Unterhaus votiert mehr-
heitlich für eine Änderung der
TTTagesordnung, um über eine No-agesordnung, um über eine No-
Deal-Blockade zu debattieren und
abzustimmen

AFP

/HANDOUT

GETTY IMAGES

/LEON NEAL

DPA

/ROGER HARRIS
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