Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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24 FORUM WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019


November 1989Blick auf die erste offiziell genehmigte Kundgebung der DDR-Oppositionsgruppe Neues Forum

DPA PA/ THOMAS WATTENBERG

uRecht wurden in
diesem Jahr gewich-
tige Reden zu 70
Jahren Grundgesetz
gehalten. Das Bon-
ner Provisorium, das nach dem
Zweiten Weltkrieg unter An-
leitung und Aufsicht der Alliier-
ten zustande kam, hat sich mit
etlichen Änderungen als Fun-
dament des demokratischen
Rechtsstaates bewährt. Anläss-
lich seiner Inkraftsetzung
durch den Parlamentarischen
Rat hatte der Staatsrechtler
Carlo Schmid, einer der pro-
filierten Väter des Grundgeset-
zes, noch betont, dass man
damit nicht die Verfassung
Deutschlands, sondern die
innere Ordnung für ein Staats-
fragment geschaffen habe.
Mittlerweile sei es das liebste
Buch der Deutschen, titelte
kürzlich in überschwänglicher
Freude eine Wochenzeitung.
Inwieweit diese Behauptung
stimmt, das Grundgesetz wirk-
lich gelesen und verinnerlicht
wurde, bleibt fraglich. Anfang
der 1960er-Jahre bescheinigten
ausländische Beobachter der
jungen Bundesrepublik, ihre
Bürger seien noch nicht in der
Demokratie angekommen.
Wirtschaftswunder und Wohl-
stand haben das allmählich
verändert und gezeigt, dass die
Demokratie schwerlich auf dem
Boden von Armut gedeiht. Auch
das Aufbegehren der Nach-
kriegsgeneration trug dazu bei,
dass die verbrieften Grund-
werte verteidigt und mit fri-
schem Leben erfüllt wurden.
Doch während die West-68er
eine Revolution wollten und
Reformen erreichten, wollten
die Ost-89er Reformen und
lösten eine Revolution aus. Eine
Revolution, die vom Ruf „Wir
sind das Volk“, vom Anspruch
auf direkte Demokratie und
Selbstermächtigung getragen
war. Eine Forderung des Souve-
räns, die sich seit der geschei-
terten bürgerlichen Revolution
von 1848/49 bis zur Friedlichen
Revolution von 1989 durch die
deutsche Geschichte zieht.
Ferdinand Freiligrath hat
diesen Aufschrei des Bürger-
muts gegen die Obrigkeit 1848
beschwörend in seinen Liedtext
von „Trotz alledem“ aufgenom-
men. Er prägte den Sound die-
ser Revolution, auch wenn die
darauf basierende Paulskirchen-
verfassung keine Realisierung-
schance hatte. Erst die nächste
Revolution von 1918 und die in
ihrer Folge entstandene Weima-
rer Verfassung griffen diesen
Anspruch wieder auf. Sie galt
lange Zeit als Negativfolie für
das Grundgesetz und Argument

für die Ablehnung von plebis-
zitären Elementen. Heute weiß
man: Die Weimarer Republik ist
nicht an ihrer Verfassung ge-
scheitert. Sie wurde von oben
deformiert und von unten abge-
wählt. Dieser verfassungsstaat-
lichen Demokratie fehlten die
Demokraten. Wenn die freiheit-
liche Ordnung über kein ver-
bindendes Ethos verfügt, es
keinen Gemeinsinn ihrer Bür-
gerinnen und Bürger gibt,
kann keine noch so gute Ver-
fassung das Versagen der
Demokratie und ihre Selbst-
zerstörung verhindern.
Deswegen sollten wir
wachsam sein und die oft
beklagte Kluft zwischen Ver-
fassungsrecht und Verfas-
sungswirklichkeit schließen.
Zwar sagt das Grundgesetz,

dass alle Macht vom Volk aus-
geht, doch hält sich der Witz,
dass niemand weiß, wie sie dahin
zurückkommt. Die Parteien, die
eigentlich nur an der politischen
Willensbildung des Volkes mit-
wirken sollen, zeigten bisher
kein Interesse daran, ihre Domi-
nanz aufzugeben. Doch laut
Grundgesetz übt das Volk die
Staatsgewalt durch Wahlen und
Abstimmungen aus. An Wahlen

mangelt es bekanntlich nicht.
Aber eine Volksabstimmung auf
nationaler Ebene hat es noch nie
gegeben. Dabei bot sich mit der
deutschen Vereinigung die ideale
Gelegenheit dazu. Eine solche
Abstimmung hätte mehr über
die demokratische Reife der
Deutschen und ihre Zusammen-
gehörigkeit ausgesagt als alle
Beteuerungen der Unumkehr-
barkeit ihres nach 1945 einge-
schlagenen Weges. Heute erle-
ben wir, wie der Ruf „Wir sind
das Volk“, der gegen die SED-
Diktatur gerichtet war, eine
fatale Umdeutung erfährt und
von der Neuen Rechten als na-
tionalistischer Abwehrreflex
gegen Einwanderung miss-
braucht wird. Woraus dann ab-
surde Vorwürfe wie „Volksver-
räter“ und Verschwörungstheo-

ächstes Geschäft:
Dating. Facebook
will künftig Men-
schen verkuppeln. Die Idee
ist naheliegend. Der Kon-
zern kennt nach Jahren, in
denen er seine Kunden, teils
gegen geltendes Recht, auf
alle Fälle aber gegen jeden
Anstand ausspioniert hat,
zahllose Details der Nutzer.

VON JOHANNES BOIE

Auch solche, die die Men-
schen nie bewusst mit der
Firma geteilt haben. Auf der
Basis dieser Daten möchte
Facebook nun feststellen,
welche Personen besonders
gut zueinanderpassen – und
sie dann verbinden.
Das Vorhaben ist ge-
waltig. Es ist gewaltig, weil
es, wenn es funktioniert, die
Frage nach unserem freien
Willen im höchst privaten
Lebensbereich neu stellt.
Der Algorithmus hat auf
Basis von Daten, die viele
Jahre über dich gesammelt
wurden, diesen Partner für
dich berechnet – warum das
Glück noch suchen, wenn es
einem von der Technik
serviert wird? Funktioniert
die Idee dagegen nicht, ist
Facebook noch ein Stück
weiter ins Innerste der
Menschen vorgedrungen, in
ihre Wünsche, Hoffnungen,
Ziele – ohne dass sie etwas
davon hätten. Aber sicher
mit dem Ergebnis, dass
neue Daten an Werbekun-
den verkauft werden kön-
nen. Das war schon immer
Facebooks primäres Ge-
schäftsmodell.
Facebook geht damit
erneut und ohne zu Zögern
eine Idee an, deren Im-
plikation auf einzelne Men-
schen und die Gesellschaft
als solche kaum zu über-
blicken ist. Dagegen spricht
grundsätzlich nichts – wir
leben glücklicherweise in
einem Zeitalter, in dem
Technologie der Mensch-
heit maßgebliche Sprünge
ermöglicht. Wenn nicht
Facebook schon bei zahlrei-
chen anderen grundlegen-
den Fragen bewiesen hätte,
dass es zwar viel will, aber
wenig kann.

KKKostenosten


der Liebe


FACEBOOK

Verpasste


Chancen


IMPRESSUM

Das Erbe der Friedlichen Revolution hätte in eine neue


Verfassung einfließen müssen. Dass dies versäumt wurde,


zeitigt fatale Spätfolgen, meint Werner Schulz


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