Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211·SEITE 11


Manchmal fragt man sich schon, ob es ei-
gentlich immer Familien- und Heimatge-
schichten sein müssen im deutschen Film.
Oder Geschichten vom Essen. Der erfolg-
reichste einheimische Spielfilm der letz-
ten Monate, Ed Herzogs Bayernkrimi „Le-
berkäsjunkie“, handelt von einem Dorf-
polizisten mit Cholesterinproblemen, fast
unmittelbar dahinter folgen die neuesten
„Immenhof“- und „Ostwind“-Sequels, in
denen es um familienbetriebene Reiterhö-
fe geht, und wer dann noch nicht begriffen
hat, dass die Verkindlichung der Wirklich-
keit die deutschen Kinokassen klingeln
lässt, muss mit „Checker Tobi“, „Benja-
min Blümchen“ und „Alfons Zitterbacke“
im Multiplex nachsitzen.
Hallo, möchte man da rufen, ist eigent-
lich noch jemand wach in den Fördergre-
mien und Regieseminaren? Wo sind die
Nonkonformisten, die aus dem wärmege-
dämmten Fachwerkhaus im Grünen in die
große, böse, unübersichtliche Welt da
draußen hinausschauen? Man darf jetzt
schon gespannt sein, wie die Deutsche
Filmakademie bei ihrer Preisgala im
nächsten Frühjahr die Kluft zwischen dem
Mut zum Risiko, den sie sich selbst litanei-
haft zuspricht, und der süßlichen Idyllik ih-
rer publikumsträchtigsten Produkte über-
brücken will. Jetzt, im Herbst 2019, hat je-
denfalls der Eskapismus die Nase vorn.
Michael Kliers Film „Idioten der Fami-
lie“ passt scheinbar in dieses Muster. Auch
er erzähltvon all den Kümmernissen, die
sich aus der Blutsverwandtschaft der Men-
schen ergeben, von Lügen und Loyalitä-
ten, Schicksalsschlägen und Heimlichkei-
ten, vom Weggehen und Zuhausesein;
und auch hier wird gemeinsam gegessen
und gestritten, an einem Tisch, der wie
ein großes Spielzeug aus der Kindheit üb-
rig geblieben ist. Aber damit enden auch
schon die Gemeinsamkeiten zwischen
Klier und dem deutschen Mainstream.
„Idioten der Familie“ ist erkennbar keine
High-Budget-Produktion, dieser Film hat
fast nichts gekostet, und das sieht man
ihm an, in einem guten Sinn. Die Kamera
von Patrick Orth bewegt sich mühelos auf
engstem Raum, die Darsteller agieren so
unverkrampft, wie man es selten bei deut-
schen Schauspielern erlebt, und die Regie
hält einen Abstand zur handelsüblichen
Erzählroutine, die in der heutigen Gemen-
gelage etwas Befreiendes hat.
Es geht um drei Brüder, Bruno, Tommie
und Frederik, die ihre beiden Schwestern


in ihrem gemeinsamen Elternhaus am
Stadtrand von Berlin besuchen. Denn He-
lena, die Ältere, will heiraten, und deshalb
muss Ginnie, die seit ihrer Geburt geistig
behindert ist, ins Heim. Ginnies letzter
Tag in Freiheit ist sorgfältig durchgeplant,
mit gemeinsamem Spaghettiessen am Mit-
tag und einem Ständchen aus Mahlers
„Lied von der Erde“ am Abend. Aber der
Plan geht selbstverständlich schief.
Um die Unordnung zu zeigen, die bei
dem Versuch entsteht, familiäre Ordnung
herzustellen, hat Klier eine einfache, aber
wirkungsvolle Strategie. Er wirft seine Fi-
guren nicht in einem großen Mischmasch
zusammen, sondern teilt ihr Tun in lauter
Zweierbegegnungen auf: Tommie und Fre-
derik, die Musiker, am Fenster, Bruno, der
Lehrer, und Helena, die Künstlerin, im
Gartenhaus, Helena und Ginnie im Bad,
Ginnie mit Frederik, Tommie oder Bruno
allein in ihrem Zimmer. Das Bild, das der
Film aus diesen Puzzleteilenzusammen-
fügt, ist das einer unfertigen, unerfüllten
Generation: Jeder hat irgend etwas ange-
fangen, aber keiner ist damit glücklich ge-
worden, alle sind immer noch auf dem
Weg zu sich selbst, dem Ich, von dem sie
einmal geträumt haben. Und Ginnie, die
nie „ich“ sagt, zahlt dafür den Preis.
„Idioten der Familie“ ist der seltene
Fall eines Ensemblefilms mit einer klar

erkennbaren Hauptrolle. Denn obwohl
Jördis Triebel als Helena und Florian Stet-
ter, Hanno Kofler und Kai Scheve als Brü-
der wie ein gutes Jazzquartett bei einer
Jam Session zusammen aufspielen, ist
dies die Geschichte von Lilith Stangen-
bergs Ginnie. Was Ginnie genau fehlt, er-
fährt man nie, aber Stangenberg schafft
es, ihre Figur genau so weit aus dem Rah-
men der Normalität zu rücken, dass sie
völlig real und zugleich nicht ganz von
dieser Welt ist. Ginnie scheint alles zu be-
greifen, was mit ihr passiert, ihr fehlen
nur die Worte, um es auszudrücken. Und
so schaut sie schweigend zu, wie ihr Le-
ben genau in dem Augenblick abgewi-
ckelt wird, in dem sie mit sechsundzwan-
zig Jahren endlich das erfährt, was man
Liebesglück nennt. Einmal sieht man sie
im Hochzeitskleid ihrer Schwester nachts
durch den Garten irren. Eigentlich ist sie
die Braut, die hier verheiratet werden
müsste.
Der Regisseur Michael Klier hat in vier-
zig Jahren nur sechs Spielfilme gedreht,
darunter Meisterwerke wie „Ostkreuz“
und „Überall ist es besser, wo wir nicht
sind“ und komplizierte Kammerspiele
wie „Farland“ und jetzt „Idioten der Fami-
lie“. Ein Außenseiter der Branche. Aber
es sind solche Außenseiter, denen wir es
verdanken, dass sich im deutschen Film
noch etwas bewegt. ANDREAS KILB

KLAGENFURT, im September


E


s wirkt, als habe sich ein jun-
ger Wald in ein Fußballstadi-
on verirrt. Bei diesem An-
blick kehrt, wenige Tage vor
der Eröffnung der Ausstel-
lung, bei einer Pressevor-
schau in den Reihen der Betrachter Ruhe
ein. Man hatte seine Vorstellungen von ei-
nem Wald im Stadion, hatte das wochen-
lang in den sozialen Medien zirkulieren-
de Bild vor Augen, aber der Anblick über-
rascht dann doch. Das Flutlicht schafft
Lichtspiele auf Weißtannen, dem Feld-,
Spitz- und Bergahorn, auf Eschen, Lär-
chen, Schwarz- und Rotföhren und vielen
anderen Baumarten – ein Mischwald, in-
stalliert vom renommierten Landschafts-
architekten Enzo Enea, wächst da mitten
im Klagenfurter Fußballstadion empor,
Bäume stehen dicht an dicht. Vögel zwit-
schern. Der Anblick ist rührend und un-
heimlich zugleich. Man hat den Eindruck



  • und diesen Vergleich liest man dieser
    Tage oft – als stehe man einem vom Aus-
    sterben bedrohten Tier gegenüber, das
    nun aus sicherer Entfernung betrachtet
    werden darf.
    Die Rede ist von einer „Intervention“
    des Künstlers und Joseph-Beuys-Schülers
    Klaus Littmann, der einen Wald beste-
    hend aus 299 Bäumen in das Wörthersee-
    Stadion pflanzen ließ und damit viele
    Menschen in Kärnten erzürnt. Als Vorla-
    ge für die Installation „For Forest“ diente
    dem Schweizer Kunstvermittler eine
    Zeichnung mit dem Titel „Die ungebro-
    chene Anziehungskraft der Natur“
    (1970/71) des österreichischen Künstlers
    Max Peintner. Es erinnert aber auch an
    das Projekt „7000 Eichen“ seines Lehrers
    Beuys zur Documenta 7 im Jahr 1982.
    Littmanns Projekt schlägt seit Mona-
    ten hohe politische Wellen im Land Kärn-
    ten. Mit der Eröffnung der Ausstellung
    am vergangenen Sonntag erreichte es
    auch internationales Aufsehen. Die Wahl
    des Austragungsorts für seinen seit drei-
    ßig Jahren gehegten Traum – die Zeich-
    nung Peintners zum Leben zu erwecken –
    war einem Zufall geschuldet und sollte
    für Littmann kein Heimspiel werden. Die
    politische Tragweite seines Vorhabens
    hätte er kaum erahnen können. Der
    Schweizer hatte lediglich gehört, dass es
    sich bei diesem Fußballstadion um einen
    selten ausgelasteten „Zankapfel“ handelt,
    erzählt er im Gespräch mit dieser Zei-
    tung.
    Doch wie kam es dazu? Der Konflikt
    um das Stadion reicht in eine Zeit, als die
    Freiheitlichen Kärntens (FPK), Landes-
    gruppe der Freiheitlichen Partei Öster-
    reichs (FPÖ), das Land regierten. 2007
    wurde das besagte Stadion als einer von
    vielen Austragungsorten für die Fußball-
    Europameisterschaft 2008 mit Österreich
    und der Schweiz als Gastgeber um das
    Dreifache ausgebaut. Mittlerweile bietet
    es Platz für über 30 000 Zuschauer. Zu die-
    sem Zeitpunkt war Jörg Haider bereits
    seit 1999 Landeshauptmann Kärntens,
    seine Amtszeit endete mit seinem Tod im
    Oktober 2008. Das Stadion ist nicht zu-
    letzt Mahnmal für den populistischen
    Größenwahn des Politikers. Der Umbau


kostete die Stadt Klagenfurt und das Land
Kärnten 100 Millionen Euro Steuergel-
der. Haider prägte die politische Kultur
Kärntens wie kein anderer. Auch nach sei-
nem Tod genießt die FPÖ hier viel Zu-
spruch und ist zweitstärkste Kraft hinter
den Sozialdemokraten (SPÖ), die das
Land in einer Koalition mit dem Junior-
partner, der Österreichischen Volkspartei
(ÖVP), regieren.
Littmanns Kunstintervention kommt
den Rechtspopulisten gerade recht. Das
Narrativ ist wie so oft sehr simpel: „Die
da oben verschwenden euer Geld für un-
nötige Kunst. Ein Schweizer pflanzt ei-
nen Wald in unser Fußballstadion und be-
setzt damit den Spielplatz unserer Hei-
matvereine.“ Auch in Kärnten ist der Fuß-

ball heilig. Die andere Wahrheit ist, dass
in Österreich am 29. September National-
ratswahlen sind. In Klagenfurt begrüßt
ein überdimensionales Wahlplakat der
FPÖ ankommende Gäste.
„Die Kritik geht nicht gegen mich“,
sagt Littmann, „sondern gegen die sozial-
demokatische Regierung.“ Zu keinem
Zeitpunkt sei es in dieser Debatte um das
Projekt selbst gegangen oder um die Sinn-

haftigkeit dessen. Er sieht sich als Opfer
der Kärntner Provinzpolitik, alles sei klei-
ner politischer „Hickhack“, sagt er. In Kla-
genfurt sei er von einem über den Wald
wütenden Passanten gar körperlich ange-
griffen worden.
Im Klagenfurter Stadtsenat hat die
FPÖ als Einzige gegen das Projekt ge-
stimmt. Das macht sie zum Helden beim
durch den Wald überrumpelten Bürger.

Doch ganz richtig ist die Erzählung der
FPÖ nicht. Denn es gab eine Bedingung
zur Verwirklichung dieses Projekts: Es
durfte kein Cent Steuergeld eingesetzt
werden. Keine Hürde für Littmann, der
bereits weltweit Kunstprojekte initiiert
hat und in Projektfinanzierungen erprobt
ist. Binnen kürzester Zeit hatte er das
Geld für die Umsetzung zusammen. Es
kommt nicht aus dem armen Kärnten,
das zudem auch über das kleinste Kultur-
budget in Österreich verfügt, es kommt
aus der Schweiz. Littmann nennt es das
„alte Geld“, Und dieses scheint besonders
in Basel, wo sich die meisten seiner Mäze-
ne befinden, reichlich vorhanden zu sein.
Diskretion ist ihm dabei sehr wichtig, die
Finanzierung des Projekts ist für den Au-

ßenstehenden völlig intransparent, wo-
mit sich Littmann wiederum angreifbar
macht. Man weiß lediglich, dass einen
Großteil des Geldes die in Basel sitzende
Fondation Beyeler gestiftet hat. Der
Schweizer Galerist Ernst Beyeler hatte zu
Lebzeiten selbst eine Stiftung zum Schut-
ze des Waldes eingerichtet.
Angesichts der Unsummen, die dieses
Mammutprojekt gekostet haben muss,
hat man zum Teil Verständnis für den ver-
ärgerten Bürger. Das Ausmaß ist gerade
zu unvernünftig, und selbst im Namen
des Naturschutzes und vor dem Hinter-
grund weltweit abbrennender Wälder
fragt man sich, ob so viel Geld nicht nach-
haltiger investiert hätte werden können.
Die Tribünen des Fußballstadions des
Zweitligisten SK Austria Klagenfurt sind
selten voll. Lediglich der Wolfsberger AC,
ein anderer Kärntner Verein, der das Wör-
thersee-Stadion ebenfalls nutzt, hätte es
nun gebraucht. Der Club hat sich überra-
schend für die Europaliga qualifiziert und
muss nach Graz in ein angemessenes Sta-
dion ausweichen. Ansonsten habe zuletzt
Robbie Williams mit einem Konzert die
Tribünen füllen können.
Nach der EM 2008 wurde gar überlegt,
ob man das Stadion nicht in die ursprüng-
liche Dimension zurückbaut. Nur ein wei-
terer irrsinniger Fall von Infrastruktur-
schaffung im Wahn eines internationalen
Sportevents. Doch dazu kam es nicht.
Man einigte sich darauf, das Stadion
als eine Art Mehrzweckhalle zu nutzen,
erklärt Klagenfurts Bürgermeisterin Ma-
ria-Luise Mathiaschitz (SPÖ) während ei-
ner international besetzten Pressekonfe-
renz wenige Tage vor der Eröffnung der
Ausstellung. Erst durch sie wurde „The
Forest“ möglich. Jahrelang betrieb Litt-
man Lobbyarbeit für seine Idee, bei Mat-
hiaschitz fand er ein offenes Ohr.
„Es ist ein Aufschrei der Kunst, in Zei-
ten, in denen die grüne Lunge brennt“,
sagte die Bürgermeisterin während der
Pressekonferenz und betonte mehrmals,
Steuergelder seien nicht angerührt wor-
den. Angesichts der zahlreichen Konflikt-
linien war diese Pressekonferenz ein einzi-
ges Defensivspiel seitens der Künstler, In-
vestoren und Politiker. Bevor es zu Fragen
von Journalisten kam, wurde die Presse-
konferenz abgewürgt und die Abdeckun-
gen an den Fenstern abgehängt, so dass
sich die Konferenz in Sekunden auflöste
und alles auf die Tribünen strömte, um
den Wald zu begutachten.
Littmanns Projekt wird in diesen Tagen
stark politisiert, man kann es als Antwort
auf gerodete und brennende Wälder welt-
weit verstehen – insbesondere die rege Be-
richterstattung über den Amazonas-Re-
genwald schafft diese Assoziation. Doch
auch der ausgewählte Ort tut sein Übriges.
Heißt es nicht immer bildlich: Jede Minu-
te wird ein Waldstück von der Größe eines
Fußballfeldes gerodet? Er selbst betont:
„Es ist und bleibt ein Kunstprojekt.“ Hier
wird er vom Zeichner des ursprünglichen
Bildes Max Peintner, unterbrochen.
„Nein“, sagt der mit Nachdruck, „es ist ein
politisches Projekt.“ NORA SEFA
For Forest – Die ungebrochene Anziehungskraft
der Natur.Im Wörthersee-Stadion, Klagenfurt; bis
zum 27. Oktober bei freiem Eintritt. Der Katalog
kostet 16.90 Euro.

In der Ukraine redet man in diesen Ta-
gen über die Heimkehr der von Russland
festgehaltenen Seeleute und politischen
Gefangenen. Alle haben etwas über sie
gesagt – die Politiker, die es für ihre
Pflicht halten, auf eine so öffentlichkeits-
wirksame Sache zu reagieren, Journalis-
ten, die in der Geschichte eine Insider-In-
formation zu finden versuchen, bekann-
te Blogger und gewöhnliche Nutzer der
sozialen Netzwerke. Das Ereignis erwies
sich tatsächlich als wichtig – sowohl für
die Machthaber, die versuchen, durch
die Heimführung ihrer Bürger viele ge-
sellschaftliche Fragen auszublenden, als
auch für diejenigen, die diesen Machtha-
bern gegenüber skeptisch sind.
Für die Ukraine wurde der Austausch
symptomatisch, weil er zeigte, dass trotz
harter politischer Gegensätze und einem
allgemeinen Unwillen zum Kompromiss
die Ukrainer doch eine Gesellschaft
sind, die Begriffe von gegenseitiger Un-
terstützung und Solidarität verbindet.
Die Ukraine hat ihre Bürger wirklich wie
Helden begrüßt, was besonders mit der
Art kontrastierte, mit der Moskau seine
35 Leute empfing. In jüngster Zeit war
dies fast das einzige Ereignis, das die Ge-
sellschaft nicht spaltete, sondern einte.
Selbst der Widerstand gegen die Ag-
gression Russlands wurde nicht zu solch
einem einenden Faktor der Solidarität.
Sogar der phänomenale Wahlsieg von
Wolodymyr Selenskyj und seiner Partei
zunächst bei den Präsidentschafts-, dann
bei den Parlamentswahlen, ein Sieg, der
aussah wie eine Demonstration von Ein-
heit der ukrainischen Gesellschaft – bei
den Parlamentswahlen gewann die Par-
tei Selenskyjs in allen Regionen außer
im Donbass und in Lemberg, was bisher
keiner einzigen politischen Kraft im
Land gelang – ist in Wirklichkeit eine Il-
lusion. Denn die Ukrainer stimmten oft
weniger für die neue Macht als viel mehr
gegen die alte. Jeder Schritt der neuen
Machthaber wird misstrauisch verfolgt.
Und die Machthaber geben oft zu Skep-
sis Anlass.
Man braucht bloß an den ersten Ver-
such des Gefangenenaustausches zu erin-
nern, der eine Woche vor dem zweiten
scheiterte. Damals lösten plumpe Erklä-
rungsversuche von Vertretern der Mann-
schaft des Präsidenten eine heftige Wel-
le von Kritik an Selenskyj aus und an sei-
ner Methode, Außenpolitik zu betreiben.

Es war klar, dass die Heimführung der
ukrainischen Seeleute, die von Russland
im vergangenen Jahr gefangen genom-
men wurden, und der politischen Gefan-
genen, die viele Ukrainer mit der russi-
schen Aggression assoziieren, für die
neuen Machthaber oberste Priorität hat-
te. Selenskyj, dessen Wahlkampagne auf
eine Totalkritik von Petro Poroschenko
baute und ständig die Unmöglichkeit her-
vorhob, dass die alte Präsidentenmann-
schaft ihre Bürger aus russischen Gefäng-
nissen würde heimholen können, mach-
te das Versprechen, die gefangenen
Ukrainer heimzuholen, zu einer Haupt-
wahlaussage. Auch vielen Ukrainern,
die nicht prorussisch eingestellt waren,
erschien es offensichtlich, dass der
Kreml und Poroschenko sich über nichts
würden einigen können, und dass Poro-
schenko in diesem Spiel keine Trumpf-
karte im Ärmel hatte. Während Selen-
skyj seine Wähler überzeugen konnte,
dass er es schaffen würde, mit Moskau
ein Abkommen zu erzielen, Gefangene
heimzuführen, Territorien zurückzuho-
len und den Krieg zu beenden. Wie er
das machen würde, blieb unklar.
Also musste Selenskyj jetzt zu seinem
Wort stehen. Die Frage des Gefangenen-
austausches stand seit seinem Amtsan-
tritt auf der Tagesordnung. Dass der Aus-
tausch 35 zu 35 tatsächlich stattfand, ist
für die neue Macht ein starkes Argument
zu ihren Gunsten. Der positive Impuls
der Ereignisse, die Heimführung der Leu-
te aus der Gefangenschaft, erwies sich
als so stark, dass Nachfragen etwa nach
den Details dieser Operation bei den
meisten Entrüstung hervorrufen.
Wenn man die Interessen des Staates
und des Menschen einander entgegen-
hält, dann geben die Ukrainer dem
„menschlichen Faktor“ den Vorzug. Sie
sind bereit, den Wert des Lebens ihrer
Mitbürger über die politischen Interes-
sen zu stellen. Die Frage nach den wah-
ren Kosten dieses Austausches, seinen
möglichen Folgen, nach der Zweckmä-
ßigkeit der Auslieferung von Wladimir
Zemach, einem Verdächtigen im Fall der
abgeschossenen malaysischen Boeing-
Maschine, überhaupt nach der Gleich-
wertigkeit dieses Austauschs, wurde so
zweitrangig. Für die Ukrainer wurde die
menschliche Freude über Verwandte
und Nahestehende, zu denen ihre Väter,
Brüder und Söhne zurückkehrten, zur

Hauptsache. Wahrscheinlich charakteri-
siert das uns Ukrainer als herzliche, mit-
fühlende Nation. Es charakterisiert aber
auch die neuen ukrainischen Machtha-
ber, die auf vielerlei Weise an Emotio-
nen appellieren und keine Antworten
auf unbequeme Fragen geben.
Etwa die Frage nach den ukrainischen
Bürgern, die in russischen Gefängnissen
geblieben sind. Oder nach ukrainischen
Kriegsgefangenen in den Händen der Se-
paratisten. Russland verliert kein Wort
über ihre Rückführung, weil es davon
ausgeht, mit den Ereignissen im Don-
bass nichts zu tun zu haben. Vielleicht
will Wladimir Putin den Austausch als
Argument für die Aufhebung der Sank-
tionen instrumentalisieren. Es fragt sich
auch, wie die Auslieferung eines wichti-
gen Zeugen der Flugzeugkatastrophe
sich auf die westlichen Partner der Ukrai-
ne auswirkt. Und ob der Austausch nicht
ein Sieg des russischen Präsidenten ist,
der uns wieder einmal daran erinnerte,
dass er es ist, der über Krieg und Frieden
entscheidet.
Selenskyj hat erklärt, der Gefangenen-
austausch sei der Anfang vom Ende des
Krieges. Deswegen verlangen nun man-
che, man dürfe den Präsidenten nicht be-
hindern. Andere rechnen mit dem
Schlimmsten und glauben, dass mit dem
Abzug ukrainischer Militärposten natio-
nale Interessen preisgegeben werden,
dass ukrainische Siedlungen sich wieder
in „Grauzonen“ verwandeln. Jeder Tele-
fonanruf des ukrainischen Präsidenten
im Kreml löst großes Misstrauen aus.
Als er versprach, den Krieg zu been-
den und die besetzten Territorien zurück-
zugewinnen, musste es Selenskyj klar
sein, dass er um unpopuläre Maßnah-
men und problematische Entscheidun-
gen nicht herumkommen würde. Es ist
die Frage, was er anzubieten hat, und ob
und unter welchen Bedingungen der rus-
sische Präsident ihm entgegenkommen
wird. Vorerst freuen sich die Ukrainer
über die Heimkehr der Kriegsgefange-
nen. Die Behörden versprechen, ihnen
mit Wohnraum und Rehabilitierung zu
helfen. Oleg Senzow hat eine Facebook-
Seite angelegt. Das Leben geht weiter.
Aber der Krieg auch.
Aus dem Russischen übersetzt vonKerstin Holm.
Serhij Zhadan,ukrainischer Schriftsteller und
Dichter, lebt in Charkiw. Auf Deutsch erschien
von ihm zuletzt der Roman „Internat“.

Ginnie oder Die letzte Flucht


Michael Kliers Film „Idioten der Familie“ erzählt von einer unerfüllten Generation


299 Baumfreunde sollt ihr sein


Natur-Gastspiel in der Fußballarena: Ein surrealer Mischwald besetzt das Wörthersee-Stadion in Klagenfurt. Foto EPA

Der Sieg des emotionalen Faktors


Wie die Ukraine über den Gefangenenaustausch diskutiert / Von Serhij Zhadan


Die wahre Braut: Judith Stangenberg in „Idioten der Familie“ Foto dpa

Eine Wald-Installation im Klagenfurter


Wörthersee-Stadion sorgt für Aufregung in


der Kärntner Provinz.

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