Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211·SEITE 9


N


ike Wagner spricht über den
Mond. Das Publikum lacht.
Wie sollte es auch nicht? Der
Vortrag zur Eröffnungsmatinee
des Beethovenfestes in der Aula der Bon-
ner Universität ist darauf angelegt: „Und,
bedenken Sie“, sagt Nike Wagner, „Kleo-
patra hat damals denselben Mond an-
geschaut wie heute unsere Kanzlerin.“
Doch flicht sie in ihre gelehrte Rede auch
ernstere Bedenklichkeiten ein, etwa
wenn sie zum zweihundertsten Geburts-
tag von Clara Schumann gleichsam ein
Machtwort spricht: „Clara“ – sie sagt
wirklich nur „Clara“, als würde sie über
ein Kind reden – „hat unserepolitical cor-
rectness, unser Gendern von allem und je-
dem, unseren Feminismus nicht nötig.“
Ansonsten spricht sie eben über den
Mond, über Galileo Galilei und Johannes
Kepler, Friedrich Nietzsche und Jules
Verne, Matthias Claudius und Durs Grün-
bein. „Was diese Frau alles weiß!“, staunt
eine Sitznachbarin im Publikum. Und es
fällt gar nicht auf, dass Nike Wagner
wenig über Beethoven sagt, Ludwig van
Beethoven, den Komponisten jener Kla-
viersonate op. 27 Nr. 2, der Ludwig Rell-
stab den Namen „Mondscheinsonate“
gab, worauf Nike Wagner mit ihrem dies-
jährigen Motto „Mondschein“ anspielt.
Bei dem wenigen, das sie über Beetho-
vens Sonate sagt, beruft sie sich auf den
Pianisten András Schiff, der das Finale
„visionär“ genannt habe. Worin das
Visionäre aber liegen könnte, führt sie
nicht aus. Sie bemerkt nur die angeblich
ungewöhnliche Form des gesamten
Werks und behauptet: „Mit einem Ada-
gio beginnt man eigentlich keine Sona-
te.“ Dabei übersieht sie völlig, dass Beet-
hovens Lehrer Joseph Haydn mehrfach
seine Klaviersonaten mit einem lang-
samen Satz begann und mit einem schnel-
len schloss und dass auch Wolfgang
Amadeus Mozarts Violinsonate G-Dur
KV 379 mit einem ausgewachsenen Ada-
gio beginnt.
Die Musik vor 1800 habe die Nacht be-
nutzt für Serenaden und Liebeswerbun-
gen, die Musik nach 1800 hingegen habe
die Nacht zum Thema gemacht, sagt Nike
Wagner, und zwar „vorwiegend in Moll“.
Nun zeigt ein Blick auf die Nocturnes
von Frédéric Chopin, dass elf von 21 in
Dur stehen. Auch bei John Field, der die
Gattung des Nocturnes, des Nachtstücks
für Klavier, um 1810 erfunden hat, ste-
hen nur drei von achtzehn in Moll. Sogar
das Lied „Mondnacht“ von Robert Schu-
mann, dessen Eichendorff-Text Nike
Wagner zitiert, steht nicht in Moll, son-
dern in E-Dur: mit der Bass-Kadenz
E-H-E, die tonsymbolisch die Vermäh-
lung von Himmel und Erde im stillen
Kuss aufnimmt. Kennt Nike Wagner den
Unterschied zwischen Dur und Moll?
Weiß sie zwischen all den literatur-
geschichtlichen und naturwissenschaft-
lichen Exkursen auch etwas über das ge-
nuin Musikalische zu sagen? Nein. Denn
sogar dort, wo sie über Modest Mussorg-
ski oder Franz Liszt spricht, beschränkt
sie sich auf vertonte Texte oder biographi-
sche Anekdoten. Aus der Musik, aus dem
komponierten Werk und dessen An-
spruch entwickelt sie nichts.

Mondscheingeflüster
Man hätte in diesem Vortrag ja erwägen
können, warum der Titel „Mondschein-
sonate“ sich durchgesetzt hat, warum er
für die Zeitgenossen solch eine musikali-
sche Evidenz besessen haben muss. Viel-
leicht, weil Beethovens Anfang auf den
nächtlichen Trauerschock nach der Er-
mordung des Komturs in Mozarts „Don
Giovanni“ reagiert. Man hätte betrach-
ten können, wie dieser Anfangssatz –
langsames Tempo, Triolenbegleitung –
tatsächlich wesentliche Mittel des Noc-
turnes bei Field und dem jungen Chopin
sowie deren Zeitgenossen Feliks Dob-
rzyński vorwegnimmt. Aber Chopin
kommt im Programm des Beethovenfes-
tes nur am Rande (und ohne die beiden
direkt auf Beethoven bezogenen Noc-
turnes op. 27) vor und Field gar nicht,
obwohl Beethoven – Originalton: „Alles
Scheißdreck außer Field“ – seinen iri-
schen Kollegen in höchstem Maße ge-
schätzt hat. Man hätte im Vortrag wie im
Programm durch die Musikgeschichte
nachverfolgen können, wie der durch
Beethoven in diesem Opus 27 Nr. 2 defi-
nierte Topos der Tonarten cis-Moll und
Des-Dur sich für das Mondlicht etabliert
hat: eben in Chopins Nocturnes op. 27 in
cis-Moll und Des-Dur, in Claude Debus-

sys „Clair de lune“ (Des-Dur), in der
„Mondscheinmusik“, mit der Richard
Strauss noch 1942 die letzte Szene von
„Capriccio“ in Des-Dur einleitet. Noch in
Alfred Schnittkes Konzert für Klavier,
Streicher und Pauken wie in Dmitri
Schostakowitschs Bratschensonate wird
der Anfang der „Mondscheinsonate“ als
Topos der Trauer aufgegriffen.
All das kommt, bis auf Debussy, in
Bonn nicht vor. Stattdessen spricht Nike
Wagner viel über ihren Ururgroßvater
Franz Liszt, dessen Werk sie schon beim
Kunstfest Weimar gepflegt hatte und der
nun beim Beethovenfest – „Laboratori-
um Liszt“ – eine gewichtige Rolle spielt.
Unter den vielen Liedern von Schumann,
Brahms, Liszt und Hector Berlioz fehlt
Beethovens „Abendlied unter gestirntem
Himmel“ (übrigens auch in E-Dur) im
Programm ebenso wie „An die Hoff-
nung“, wo das lyrische Ich „von der Mit-
ternacht umschauert sich auf versunkene
Urnen stützt“. Wie ernst wird also Beet-
hoven genommen beim Beethovenfest,
dessen Motto „Mondschein“ lautet, wo-
von Nike Wagner behauptet, es sei ein
„programmatisch fruchtbares Gelände“?

Im Ton vergriffen
Zur Eröffnung spielt die Philharmonia Zü-
rich Beethovens sechste Symphonie, die
„Pastorale“, im World Conference Cen-
ter. Wie der Dirigent Jukka-Pekka Saraste
die Körperlichkeit des Tanzes gleich am
Beginn mit der feinen Artikulation der
Sprache versöhnt, wie er Natur als etwas
Menschliches begreift, das von Kultur gar
nicht zu lösen ist, das hat in seiner Sanft-
heit etwas Bezwingendes und Sympathi-
sches. Dem Festivalmotto ist es eher
locker assoziativ verbunden. Vom Mond-
schein ist in der „Pastorale“ nichts zu hö-
ren und in der Partitur nicht die Rede.
Und das wäre auch nicht weiter bemer-
kenswert, wenn sich Nike Wagner nicht
immerfort unter Verweis auf die „Tiefe“
ihrer Programme auf das „dramaturgi-
sche Denken“ in ihrer Planung berufen
würde, um zu rechtfertigen, dass die Kar-
tenverkäufe, die Auslastungszahlen und
der Eigenerwirtschaftungsanteil des Beet-
hovenfestes unter ihrer Intendanz fort-
während gesunken sind.
Von der heftigen Diskussion um ihre
Arbeit zerrieben, hatte sich Nike Wagner
Anfang Juli in einem Interview mit dem
Bayerischen Rundfunk im Ton vergriffen:
„Der Bonner will es gern altmodisch, ro-
mantisch, kuschelig schön haben, wenn
er in ein Klassikkonzert geht. Der Bonner
will Starrummel, Big Names, Main-
stream-Programme. Es fehlt mir die Auf-
geschlossenheit, eine Neugier, eine Öff-
nung nach vorne. So nett die Rheinländer
im Allgemeinen sind: Auch Bonn muss
im 21. Jahrhundert ankommen.“ Sie hat
sich mittlerweile im „General-Anzeiger“
entschuldigt, aber die verbale Entglei-
sung ließ zutage treten, wie Nike Wagner
denkt und wie sie schon beim Kunstfest
in Weimar dachte. Sie hat über das Publi-
kum so feste Vorurteile wie über Dur und
Moll in den Nachtstücken der Romantik.
„Auslastungszahlen sind für mich nicht
der totale Beweis höchster Qualität“, ließ
Nike Wagner den „General-Anzeiger“
wissen. Wie kommt es dann aber, dass
das Mozartfest in Würzburg, wo es mit Un-
suk Chin eine zeitgenössische Residenz-
komponistin gab, dieses Jahr eine Auslas-
tung von 93 Prozent erreicht hat, wohin-
gegen das Beethovenfest bei siebzig Pro-
zent liegt? Wie kommt es, dass die Bach-
woche in Ansbach, wo es neue Auftrags-
werke gab, dazu Musik von Jörg Wid-
mann und Mark Andre, auf einen Eigen-
erwirtschaftungsanteil um die 75 Prozent
kommt, das Beethovenfest aber nicht ein-
mal siebzehn Prozent erreicht? Könnte es
nicht eher damit zu tun haben, dass man
in Würzburg und Ansbach aus einem
emphatischen Verhältnis zu Mozart und
Bach ein kluges, liebevolles Programm
entwickelt? Stattdessen versucht Nike
Wagner, eine „Beethoven-Monokultur“
zu vermeiden: durch modernes Tanzthea-
ter und Stücke wie Giselher Klebes „Ver-
änderung“ der „Mondscheinsonate“ in
eine Sonate für Horn und Klavier, die
Beethoven zur Eröffnungsmatinee „nicht
pur“ präsentiert, sondern, wie Nike Wag-
ner anmerkt, „nach Art des Hauses“ in
einer „modernen Übermalung“ – als wäre
„Beethoven pur“ viel zu trivial.
In Bonn hat nun die Akademie für
Alte Musik Berlin ohne Dirigenten, nur
vom Konzertmeister Bernhard Forck ge-
leitet, die erste und zweite Symphonie von
Beethoven gespielt – und zwar meister-
haft. Ganz aus der Spieltradition des acht-
zehnten Jahrhunderts kommend, holt das
Ensemble die Musik aus der Monumentali-
tät zurück in eine atmende, feingliedrige
Intimität. Der Bläserklang hat eine Ver-
letzlichkeit, jeder Streicherton eine Bieg-
samkeit wie ein graziler Körper aus Mus-
keln und Sehnen. Beethoven berührt. Und
dieses wunderbare Konzert ist Auftakt zu
einem eigenen Beethoven-Zyklus. Die
Akademie für Alte Musik Berlin wird ihn
noch öfter spielen, ein fertiges Pro-
gramm, eingekauft vom Beethovenfest
Bonn. Nike Wagner kommt damit all je-
nen entgegen, denen es bislang zu wenig
Beethoven beim Beethovenfest gab. Man
könnte auch sagen: Sie lässt sich zu Beet-
hoven herab. JAN BRACHMANN

Es war nicht schwer, Robert Franks Haus
zu finden. Eine alte Fischerkate direkt an
der Küste, nahe dem Hafen. Die Adresse
steht an Stelle eines Titels unter fast allen
Fotografien, die er dort aufgenommen
hat, vom Haus, vom Garten, vom Blick
aufs Meer: Mabou, Nova Scotia. Das ge-
nügt. Der Ort ist klein, und der Telegrafen-
mast, der auf etlichen seiner Fotografien
in den Himmel ragt, steht heraus wie ein
Hinweispfosten: Hier ist es!
Doch weil an diesem Tag die Sonne
schien, erinnerte nichts an Frank oder sei-
ne Bilder. Die Bucht, der Mast, das Gatter


  • alles war da, doch unter dem hellblau lä-
    chelnden Firmament wirkte die Szenerie
    wie ein Idyll. Die Pappeln keineswegs rup-
    pig, sondern dezent gesetzte Bäumlein im
    Dienste der Komposition. Und die Wei-
    den trauerten nicht, sondern wiegten sich
    sanft im Wind. Neben dem Holzhaus wa-
    ren akkurat die Brennholzscheite aufge-
    stapelt. Nicht einmal der Küchenherd, der
    zwischen kniehohen Gräsern vor sich hin
    rostete, störte das Bild der Gefälligkeit.
    Wie anders sieht das Grundstück auf
    Franks Schwarzweißfotografien aus: Da
    ist es eine zerzauste Landschaft, über die
    der Sturm Schlieren von Schnee vor sich
    hertreibt, als tanzten die Geister. Dämo-
    nisch auch der Telegrafenmast, der zum
    Kreuz im Nebel wird, reflektiert in einem
    Spiegel, auf den Frank wie mit Blut in un-
    gelenker Schrift „Sick of Good Bys“ ge-
    schmiert hat. Eine Fotosequenz zeigt ei-
    nen großen Bilderrahmen im Garten,
    mal hier, mal dort aufgestellt, ohne dass
    er je etwas Besonderes hervorheben wür-
    de. Einfach nur ein leerer Rahmen, als
    wollte Frank das Wesen der Bilder selbst
    in Frage stellen. Auf der vermutlich einzi-
    gen gefällig arrangierten Aufnahme, die
    auf dem Grundstück entstanden ist, flat-
    tert ein Stück Papier an der Wäscheleine,
    darauf das Wort „Words“. Erbaulich ist
    auch das nicht.
    Robert Frank ist eine Legende. Sein
    Buch „Die Amerikaner“, 1958 zum ersten
    Mal erschienen, ist ein Meilenstein der Fo-
    tografiegeschichte. Vermutlich ist es das
    beste Fotobuch, das je veröffentlicht wur-
    de. Bis heute steht dieser Bildband, der
    gleichermaßen radikal die Ästhetik der Fo-
    tografie wie den Blick auf Amerika verän-
    dert hat, synonym für Frank, als handele
    es sich bei ihm um ein One-Hit-Wonder –
    und verstellte zeitlebens die Sicht auf das
    restliche Œuvre. Dabei ist es nur ein Mosa-
    iksteinchen in einem allerdings fast durch-
    weg von Tristesse geprägten Werk. Im
    Rückblick erscheint es, als seien alle Bil-
    der Franks ebenso wie die Dutzenden von


Filmen, die er gedreht hat, nur einem einzi-
gen Thema gewidmet: dem Tod, dem
Scheitern und der Kälte, die zwischen den
Menschen herrscht.
Robert Frank kam 1924 als Sohn eines
Deutschen in der Schweiz zur Welt, muss-
te dort um die Staatsbürgerschaft kämp-
fen, die ihm Sicherheit bieten sollte vor
der Verfolgung als Jude, so wie er später in
Amerika neuerlich um die Staatsbürger-
schaft rang. Schon in der Schweiz hatte er
bei einigen Fotografen assistiert, bevor er
nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach
Amerika auswanderte. Rasch erhielt er
Aufträge von prominenten Zeitschriften
und Magazinen, lieferte Mode, Werbung
und Reisereportagen. Und doch widersetz-
te er sich ein ums andere Mal den Wün-
schen seiner Auftraggeber, galt als schwie-
rig, und fand erst in der Freundschaft mit
Walker Evans und Edward Steichen, den
beiden großen Fotokünstlern jener Zeit,
Bestätigung für seine rauhe, eigensinnige
Bildsprache. Letztlich ihrer Patenschaft
verdankte er ein Stipendium der Guggen-
heim Stiftung, das es ihm ermöglichte,
mehr als ein Jahr lang an seinem Ameri-
ka-Projekt zu arbeiten. Und Peggy Gug-
genheim gab einen gebrauchten Ford
obendrauf, einen Straßenkreuzer von der
Größe eines Schiffs, der Frank und seiner
Familie das Jahr über nicht nur Vehikel,
sondern oft genug auch Wohnung war,
während sie kreuz und quer durch die Ver-
einigten Staaten fuhren.
Sein Ziel, so hatte Frank in seiner Be-
werbung an die Guggenheim Stiftung ge-
schrieben, sei es, „einen Querschnitt
durch die amerikanische Bevölkerung zu
zeigen“ und „diese bestimmte Zivilisati-
on“ festzuhalten, die sich in Amerika ent-
wickelt habe und von dort aus ausbreite.
Ihm schwebte nicht weniger als ein Blick
in die Seele der Nation vor. Mit zurück von
der Reise brachte er 687 belichtete Filme,
etwa 25 000 Aufnahmen. Aber in dem
Buch, das 1958 in Frankreich erschien,
weil sich dafür kein amerikanischer Verle-
ger fand, kondensierte er seinen kriti-
schen, beißenden Blick in nur 83 Bilder.
Momentaufnahmen aus Großstädten
wechseln darin ab mit Szenen der Provinz,
Porträts folgen auf Stillleben folgen auf Ar-
chitekturfotografien folgen auf Interieurs
von Bars, Restaurants und Friseursalons.
Hier ein endlos leerer Highway, dort eine
maßlos überfüllte Cafeteria und einmal
die verlegen-traurig schauende Fahrstuhl-
führerin in irgendeinem Hochhaus in Flo-
rida. Und immer wieder Musikboxen in ei-
nem Eck, die ihr Versprechen des Vergnü-
gens nicht einlösen können. All das sorg-

fältig arrangiert und in Reihe gebracht
zum Bildroman einer Reise in die Hölle.
Die Sprengkraft seiner Arbeit war au-
genblicklich zu erkennen. Dabei präsen-
tierte Frank den amerikanischen Alltag
mit solch stilloser Beiläufigkeit, dass sich
die Ablehnung zunächst auf vermeintlich
technische Unzulänglichkeiten stützen
konnte: auf die angeschnittenen Personen
und abgeschnittenen Köpfe, die Unschär-
fen und falschen Belichtungen, das grobe
Korn und die bisweilen verkanteten Bild-
horizonte. Aber seine Entdeckung unter-
wegs ließ sich nicht wegreden: Die Tris-
tesse, die allerorten wie Mehltau auf dem
Leben lag. Die Rezensionen in den Verei-
nigten Staaten waren vernichtend. Frank
wurde als perverser Lügner bezeichnet,
der sich an dem Elend weide, das er mit
seinen Fotos überhaupt erst geschaffen
habe. Robert Frank fühlte sich zutiefst
missverstanden. „Eine Meinung zu haben
bedeutet oft, kritisch zu sein“, verteidigte
er seinen Ansatz. „Kritik kann allerdings
auch auf Liebe beruhen.“ Mehr als alles
andere verbirgt sich hinter den Bildern
eine bittere Enttäuschung.
Mit diesem Buch hielt Frank einer Ge-
sellschaft deren eigene Fratze vor Augen;
mit dem biographisch gefärbten späteren
Werk hingegen, das von Scheidung er-
zählt und vom Wahnsinn und Tod der Kin-
der, vergrub er sich immer tiefer in die ei-
genen Wunden. Ein ganzes Werk kann
hier als Trauerarbeit gelesen werden. Und
dennoch hatte vermutlich kein Fotograf je
mehr Einfluss auf die folgende Generati-
on als Robert Frank: Als 1967 im MoMA
mit „New Documents“ Diane Arbus, Lee
Friedlander und Garry Winogrand zu
Ruhm kamen, schimmert er als deren Vor-
bild hinter allen Aufnahmen hindurch.
Da freilich hatte Frank sich längst für
den Großteil des Jahres in das alte Fischer-
haus an der Küste Nova Scotias zurückge-
zogen. Man wird das guten Gewissens als
Flucht vor dem Ruhm bezeichnen dürfen,
an dem ihm nicht gelegen war. Vielleicht
war es auch eine Verweigerung gegenüber
der Welt. Robert Frank war nicht zu Hau-
se, damals, an dem sonnigen Spätsommer-
nachtmittag vor genau zehn Jahren. Aber
in dieser Weltabgeschiedenheit hat er
jetzt seine letzten Monate verbracht, viel-
leicht unter den Pappeln, die er selbst ge-
pflanzt haben soll, auf der wackeligen
Bank, gebastelt aus Treibholz und Stei-
nen. Der Blick auf die Küste und die spie-
gelglatte See, die dort unten blaugrün in
der Sonne glitzern kann, vermittelte et-
was Versöhnliches. Am vorigen Montag
ist Robert Frank im Alter von 94 Jahren
gestorben. FREDDY LANGER

Der Leipziger Thomanerchor hat erst-
mals in seiner mehr als achthundert-
jährigen Geschichte ein Mädchen zum
Vorsingen eingeladen. Die Stadt Leip-
zig als Trägerin des traditionellen Kna-
benchors bestätigte die Einladung,
nachdem die Bewerbung Angaben zu-
folge abgelehnt worden war. Mit der
Einladung zum Vorsingen sei aller-
dings keine grundsätzliche Entschei-
dung zur Zulassung von Mädchen ge-
troffen worden, teilte ein Sprecher
mit. Es sei die künstlerische Entschei-
dung des Kantors, ob das Mädchen
mitsingen dürfe. Seine Stimme müsse
dem Klangbild des Chors entspre-
chen. Die Satzung schließt die Aufnah-
me von Mädchen eigentlich aus. Mit ei-
nem Widerspruchsbescheid hob die
kommunale Kulturbehörde die Ableh-
nung nun auf. Der Thomaskantor
habe entschieden, das Mädchen auf-
grund des jüngsten Berliner Urteils
einzuladen (F.A.Z. vom 18. August).
Eine Mutter hatte dort auf die Aufnah-
me ihrer Tochter im Domchor bestan-
den. Das zustände Gericht hatte das
abgelehnt. F.A.Z.

Zu Beethoven fällt


ihr nicht viel ein


I


hre Ruhe im Shitstorm bewahrten
nur die Waffenhändler der Firma
Ruag, des staatlichen Rüstungskon-
zerns der Schweiz. In der Mail, die wir
vorgestern von zwei Absendern – der
„RUAG Group“ und „Anwir Acheros“


  • zugeschickt bekamen, wurde ange-
    kündigt, dass die eidgenössische Waf-
    fenschmiede zukünftig keine Munition
    mehr herstelle und sich auf die Umwelt-
    technologie konzentrieren werde. Man
    habe erkannt, dass die Waffen-
    produktion zu einem Reputationsrisiko
    geworden sei. „Mit der Neupositionie-
    rung“, wird Konzernchef Urs Breitmei-
    er zitiert, „hat unser Unternehmen nun
    die große Chance, eine Führungsrolle
    beim ökologischen Umbau der Schwei-
    zer Wirtschaft zu spielen.“ Ja, auch das
    wurde ihm noch in den Mund gelegt:
    dass man Löschflugzeuge zur Bekämp-
    fung der Brände im Amazonas-Gebiet
    herstellen werde. Kurzfristig sei dazu
    eine Pressekonferenz im Bahnhof Zü-
    rich anberaumt worden. Das Logo und
    die Homepage waren gefälscht. Die of-
    fizielle Entwarnung kam am Tag da-
    nach um vier Uhr in der Früh. Da wa-
    ren aber längst die ersten Artikel er-
    schienen. Sie handelten nicht von der
    wundersamen Bekehrung der Waffen-
    fabrik, sondern von der neusten Ak-
    tion des Theaters am Neumarkt. Es hat-
    te vor ein paar Jahren mit einem Schau-
    prozess gegen die „Weltwoche“ – er en-
    dete mit einem Freispruch – für politi-
    sche Schlagzeilen gesorgt und 2016 ge-
    gen den Besitzer und Chefredakteur
    der Zeitung, Roger Köppel, eine wider-
    liche Prozession zu dessen Haus insze-
    niert: In einer Art Voodoo-Exorzismus
    wurde die „Entköppelung der Schweiz“
    aufgeführt – erfolglos, wie man im
    Nachhinein feststellen muss. Der Scha-
    den für das Neumarkt-Theater, das
    einst Zürichs unbestrittene zweite Büh-
    ne mit klarem Profil war, konnte indes
    noch immer nicht begrenzt werden. Re-
    gelmäßig steht seine Existenzberechti-
    gung zur Debatte. Seit einem Monat
    hat es drei neue Leiterinnen, die mit ih-
    rer Aktion zu Beginn der Spielzeit im-
    merhin den Beweis erbringen konnten,
    dass ihr Haus noch existiert. In ihrer Er-
    klärung ist von einem „unbedingten
    Theater“ die Rede, von einem Ort für
    „Auseinandersetzungen außerhalb der
    geschützten Bubble“: „Alles könnte an-
    ders sein. Heute war die Ruag drei Stun-
    den ein Unternehmen, das Technologie
    für die Menschen und nicht für den
    Krieg herstellt.“ Die vernichtende Be-
    sprechung genau solcher Stadttheater-
    Initiativen erschien bereits am Tag zu-
    vor in der „NZZ“: Dort erklärte Felix E.
    Müller, warum er genau deswegen
    „nicht mehr ins Theater gehe“. Mit der
    Neumarkt-Aktion hat es seinen Bedeu-
    tungsverlust gleich selbst aufgeführt.
    Mit beruhigender Gelassenheit reagier-
    ten die Verantwortlichen der Ruag auf
    das Stück: „Wir haben nichts damit zu
    tun und werden deshalb auch keine Kla-
    ge einreichen.“ Juristische Schritte er-
    wägt indes die Nachrichtenagentur Key-
    stone-SDA. Sie hat zwar gar nicht be-
    richtet, aber die Einladung zur Medien-
    konferenz, der fünfzehn Journalisten
    folgten, weitergeleitet – wahrscheinlich
    ungelesen. J.A.


Vorsingen
Thomanerchor lädt Mädchen ein

Die Alte Oper Frankfurt, eines der
wichtigsten Konzerthäuser Deutsch-
lands, bekommt einen neuen Inten-
danten. Markus Fein tritt im Septem-
ber 2020 die Nachfolge von Stephan
Pauly an, der im kommenden Jahr die
Leitung des Wiener Musikvereins
übernimmt. Fein wurde 1971 in Frank-
furt am Main geboren, ist promovier-
ter Musikwissenschaftler, leitete die
„Sommerlichen Musiktage“ in Hitz-
acker, fungierte als künstlerischer Be-
rater der Berliner Philharmoniker und
ist derzeit Intendant der Musikfestspie-
le Mecklenburg-Vorpommern. F.A.Z.

Alte Oper Frankfurt
Markus Fein wird neuer Intendant

Waffentheater


Der Ford, der Tod und die Pappeln


Zum Tod des Fotografen Robert Frank, den zwischenmenschliche Kälte antrieb


Beim Beethovenfest in


Bonn gibt Nike Wagner


vor, ein dramaturgisch


durchdachtes Programm


von hoher Qualität zu


bieten. Doch vor allem


arbeitet sie sich an ihren


eigenen Vorurteilen zu


Musik und Publikum ab.


Scheut das Licht: Robert Frank 1984 in New York Foto Getty
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