Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.09.2019

(Rick Simeone) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019·NR. 208·SEITE 11


Zugegeben, an Liedern und sogar
Konzeptalben, die Kalifornien als Inbe-
griff der amerikanischen Seele ausma-
len, oft in einem Kippbild, ist die Popmu-
sik nicht arm. Die Red Hot Chili Peppers
schienen unter dem prägnanten Titel
„Californication“dazu schon Endgülti-
ges gesagt zu haben, der etwas weniger
bekannte Father John Misty hat mit „Fun
Times in Babylon“noch mal einen drauf-
gesetzt. Aber dann kam auch noch Lana
Del Rey, die sich nun schon seit ein paar
Jahren zwischen Venice Beach und Laurel
Canyon herumtreibt und darüber ganz un-
terschiedliche Songs von wellenreitender
Hochstimmung bis zu tiefer Todessehn-
sucht gemacht hat. Ja, was denn nun,
„Lust for Life“ oder „Born to Die“? Die
Kippbild-Lebenserfahrung sagt uns: wahr-
scheinlich beides. Und anschließend
schön drüber singen.
Mit dem Album „Norman Fucking Rock-
well“, das nun endlich erschienen ist, nach-
dem schon vor einem Jahr eine Welle von
Singles daraus angerollt war, hat sie die ka-
lifornische Musikgeschichte um ein weite-
res Konzeptwerk bereichert. Es kreist um
lauter Identifikationsorte, Namen und Ver-
weise, man wird geradezu bombardiert
mit Anspielungen, die von den Beach


Boys über die Mamas & Papas bis zu
Kanye West reichen, literarisch gesehen
von Aleister Crowleys schwelgerischer
Stranddichtung bis zu John Steinbecks
Härte und Charles Bukowskis „Kaputt in
Hollywood“.
Ein Song heißt denn auch „California“,
ein anderer „Venice Bitch“. Der Albumtitel
dreht sich ebenfalls um einen Inbegriff:
nämlich den Namen Norman Rockwell für
jenes amerikanische Leben schlechthin,
das der 1978 gestorbene Maler und Illustra-
tor für mehrere Generationen prägend fest-
gehalten hat. „Paint me happy and blue /
Norman Rockwell“, singt Lana Del Rey in
einem Lied. Aber es scheint Sarkasmus im
Spiel zu sein. Die Unterbrechung des Na-
mens mit dem ungläubiges Staunen sugge-
rierenden Einwurf „fucking“ im Titel hat
die Sängerin bereits in einem Interview er-
klärt: „Das ist also jetzt der amerikanische
Traum: Wir fliegen zum Mars und Trump
ist Präsident!“
Zum Glück sind Liedtexte und Musik
auf dem Album überraschender als dieses
Statement; es taugt immerhin dazu, die
Grundstimmung einer Desillusionierung
festzuhalten, die hier über allem liegt. „I
moved to California but it’s just a state of
mind“, heißt es einmal. Wer nicht glück-

lich ist, kann es also auch dort nicht wer-
den. Wenig später wird allerdings schon
wieder das Gegenteil behauptet. Dieser
Zug ins Bipolare ist seit langem typisch für
die Kunstfigur Lana Del Rey, die 1985 als
Lizzy Grant in New York geboren wurde.

Die kalifornische Szenerie schmückt
sie in den eindrücklichen, textreichen
und teils überlangen Songs so genau aus,
dass diese wie Exposés für Romane oder
Filme klingen: „All the ladies of the can-
yon /Wearing black to the house parties /
Crosby,Stills and Nash is playing / Wine
is flowing with Bacardi.“
Dem spürbaren Ennui entflieht die
über Klavierballaden und dunklen
Synthie-Teppichen manchmal entrückt
trällernde Sängerin mit einem rettenden
„Bartender“, der allerdings nur „Cherry
Coke“ servieren darf, weil sie offenbar
auf Entzug ist. Die säuselnde Derbheit,
mit der sie Zeilen wie „You fucked me so
good I almost said ,I love you‘“ vorträgt,
hat trotz aller Abnutzung von Provoka-
tion in der Popkultur noch etwas Provo-
kantes, vielleicht auch Belustigendes. Seit
langem spielt Lana Del Rey in ihren
Songs und Videos mit ungern gesehenen
Frauenbildern, besonders dem der einem
schlechten Mann hilflos verfallenen Frau.
Schon immer hatte das allerdings, in Ver-
bindung mit Fünfzigerjahre-Ästhetik und
Retrosounds, bei ihr auch etwas Spieleri-
sches, Augenzwinkerndes.
Mit dem großartigen Lied „Mariners
Apartment Complex“ etwa scheint sie

nun ein Gegenbild evozieren zu wollen.
„I ain’t no candle in the wind“, singt sie
da. Man muss nicht Elton John hören,
um das zu verstehen, und auch nicht Ro-
bert Frost kennen, wenn sie an anderer
Stelle sumselt: „Nothing gold can stay“.
Aber ein gefundenes Fressen für Interpre-
ten ist das natürlich allemal, lässt es doch
Puzzleteile in dem großen Americana-
Wehmutskomplex erkennen, den sie in
Liedern, erst recht in ihren ausgefeilten
Musikvideos aufbaut.
Auf diesem Album gelingt es ihr und
dem Produzenten Jack Antonoff, dass
man die alles durchsetzende Melancho-
lie, bisweilen Trauer durchaus ernst
nimmt, die manchmal in gesungene Kul-
turkritik umschlägt: „Look at you kids
with your vintage music / Comin’through
satellites while cruisin’/ You’re part of
the past, but now you’re the future“ – Ja,
da kann einem schon angst und bange
werden! Es ist die schöne Paradoxie bei
Lana Del Rey, dass die Musik dazu weiter
in schönster Retromanie schwelgt. Und es
gehört zu ihrem Witz, dass das an die in
der Vergangenheit steckengebliebenen
„Kids“ gerichtete Zitat nicht zuletzt eine
Selbstbeschreibung ist. JAN WIELE

W


ürde man „das Dorf“
als Thema aus der
Longlist des Deut-
schen Buchpreises her-
ausstreichen, wäre sie
im Handumdrehen
eine Shortlist. Denn allen Horrormeldun-
gen über abgehängte Regionen zum Trotz
steht das Dorf in der Hälfte der – mög-
licherweise von einer tendenziell stadt-
flüchtigen Jury ausgewählten – Gegen-
wartsromane im Zentrum des Gesche-
hens. Ohne die Provinz, den Phantasie-
raum „Land“, das einsame Haus am See
und die menschlichen Konstellationen,
die all diese abgelegenen Räume ermög-
lichen, hat die deutsche Literatur im Mo-
ment scheinbar wenig zu erzählen.
Das ist zum einen nicht verwunder-
lich. Haben ländliche Gebiete in sich ver-
einzelnden Gesellschaften doch den gro-
ßen Vorteil: Hier kann man den Men-
schen noch beim Leben zuschauen, bei
der Gartenarbeit, beim Häuserbauen,
beim Kindergroßziehen. Und auch wenn
selbst auf dem Land inzwischen alle stän-
dig aufs Handy starren, ist die Natur mit
ihrer zuversichtlich stimmenden, erneu-
ernden Kraft doch immer noch unaus-
weichlich – wenn auch auf dem Feld mit
Dünger und Glyphosat nachgeholfen
wird. Vergleicht man die Biographien
einiger Autoren mit ihren Büchern, fällt
auf, dass die Dorfherkunft zunehmend
als eine Art Migrationshintergrund in-
szeniert wird. Wer vom Land kommt, ver-
fügt über immer attraktiver werdendes
Geheimwissen, das man bei Bedarf auch
ins Surreale drehen kann.
Kinofilme wie zuletzt „25 km/h“ bedie-
nen das damit verbundene Entschleuni-
gungsklischee etwas zu beflissen. Span-
nender ist es, sich zum Beispiel die Lang-
zeitreportagereise von Franz Xaver
Gernstl durch deutsche Randgebiete im
Bayerischen Fernsehen anzuschauen, bei
der einen nicht selten das Gefühl be-
schleicht: Die wahre Subversion, der ech-
te Zeitgeistwiderstand, die interessantes-
ten Menschen kommen aus der Provinz.
Von dieser widerständigen, schildbürger-
haften Tendenz ist in den Romanen der
Longlist allerdings nicht viel zu spüren.
Vor allem die Uckermark hat es vielen
angetan. Dort steht nicht nur der von
Lola Randl beschriebene „Große Gar-
ten“, auch das Wochenendhaus der bei-
den Hauptfiguren in Miku Sophie Küh-
mels „Kintsugi“ ist dort angesiedelt, und
in „Gelenke des Lichts“ von Emanuel
Maeß kommt die dünnbesiedelte Gegend
zumindest in einer Nebenepisode vor. An-
sonsten spielt dieser letzte Roman, eine
laut Klappentext „Provinzidylle im Schat-
ten des Eisernen Vorhangs“, in Urspring
an der Werra, also ziemlich genau in der
ländlichen Mitte Deutschlands. Was aller-
dings eine Ausnahme unter den übrigen
Dorfgeschichten darstellt, die fast konse-
quent in hochgelegene Randlagen führen:
in die Eifel („Winterbienen“ von Norbert
Scheuer), das „erzkatholische Kärnten“
(„Vater unser“ von Angela Lehner), ein
Bergdorf im westlichsten Zipfel Bosniens
(„Herkunft“ von Saša Stanišić), auf eine
zurückgebliebene griechische Insel („Mi-
roloi“ von Karen Köhler) und bis zum
Berg Ararat („Hier sind Löwen“ von Kate-
rina Poladjan). Noch extremer ist die
Lage in Raphaela Edelbauers Roman
„Das flüssige Land“. Denn wo genau der
kleine Gebirgsort Groß-Einland liegt,
weiß kein Mensch, nicht einmal die
„Österreichische Bundesverwaltung“.
Mit dem Titel „Herkunft“ benennt Saša
Stanišić, der für seinen 2014 erschiene-
nen Roman „Vor dem Fest“ ja auch schon
ein Dorf in der Uckermark unter die Lupe
genommen hat, das Thema vieler der ge-
nannten Bücher. Wobei das Besondere an
Stanišićs Perspektive darin besteht, dass
seine Stoffe sowohl mit der eigenen Mi-
grationsgeschichte verbunden sind als
auch immer wieder mit der Bezugsgröße
„Dorf“, das er aber – aufgewachsen in
Višegrad und Heidelberg – aus eigenem
Erleben kaum kennt.
In „Herkunft“ heißt dieses Dorf Osko-
ruša und ist der Heimatort von Stanišićs
väterlichen Vorfahren. Doch der im vier-
ten Kapitel unternommene und dann im


Buch immer wieder aufgegriffene Besuch
in diesem bosnischen Bergdorf ist keine
irgendwie kathartisch wirkende Pilgerrei-
se. Vielmehr wehrt sich der Ich-Erzähler
an Ort und Stelle gegen jede Form von
„Zugehörigkeits-“ und „Herkunftskitsch“.
Andererseits bietet ihm die ländliche
Kulisse des Bergdorfs Anlass für Sätze
wie diesen, in dem der Auftritt Gavrilos,
eines mit dem Ort verwachsenen Ver-
wandten, beschrieben wird: „Ein junger
Mann, der immer älter wurde, je näher er
kam. In seinem Bart steckten Tannen-
nadeln.“ Wo anders wären solche Zeit
und Raum, Geschichte und Natur ver-
flechtenden Sätze denkbar als in dieser
urtümlichen Gegend? Und Gavrilo hat
noch eine weitere Herausforderung für
den Erzähler parat, denn er ist der Mei-
nung, dass man dort, wo der eigene Ur-
großvater einen Brunnen gegraben hat,
seine Herkunftssuche beenden sollte. Da-
bei wird deutlich: Heimatgefühl lässt sich
nicht rational begründen, es ist gewisser-
maßen selbsterklärend, tendenziell tauto-
logisch. Was es sowohl gefährlich macht
als auch, wie in Stanišićs Buch, immer

wieder komisch, somit erträglich und, auf
ironischen Umwegen, sogar beruhigend.
Wie anders erlebt Eva Gruber, die
Hauptfigur aus Angela Lehners Roman
„Vater unser“, ihre dörfliche Herkunft.
Die junge Frau, die gerade von der Polizei
in die Psychiatrie gebracht werden soll,
weil sie behauptet, eine Kindergarten-
gruppe umgebracht zu haben, beschreibt
bei einem Zwischenhalt an einer länd-
lichen Tankstelle folgende Szene: „Mein
Blick trifft auf einen kleinen Altar, der
auf einer leeren Villacher Bier-Kiste ein-
gerichtet ist. Auf einem handbestickten
Tischtuch liegt ein Rosenkranz neben
einem gerahmten Porträtfoto von Jörg
Haider. Darüber hängt ein kleiner Jesus
auf einem Kreuz herum. ‚Mein Gott‘, sag
ich, ‚sind wir in Kärnten.‘“ Hier wird das
Ländliche von Anfang an als Klischee ins
Bild gesetzt, man meint die inszenierte
Pointe für spätere Dichterlesungen her-
auszuhören.

A

nsonsten spielt die Hand-
lung im Wiener Otto-Wag-
ner-Spital, das man aus
Thomas Bernhards Erzäh-
lung „Wittgensteins Neffe“
kennt. In einem Radioin-
terview wurde die in Osttirol aufgewach-
sene, heute in Berlin lebende Autorin ge-
fragt, ob man den geographischen Ab-
stand brauche, um über „österreichische
Klischeethemen“ zu schreiben? Lehner
verneint: „Ich hatte ja nicht vor, einen Ro-
man über Kärnten oder Österreich zu
schreiben. Das Thema ist viel eher aus
der Eva-Gruber-Figur entstanden. Ich bin
irgendwann wirklich dagesessen und hab
mir gedacht: ‚Huch, jetzt sitzen die auf
der Baumgartner Höhe!‘“ Dabei ist die
Psychiatrische Klinik, in der die Kind-
heitstraumata einer Dorfjugend geheilt

werden sollen, dramaturgisch gesehen
nichts anderes als ein Dorf in der Stadt
mit noch weniger Privatsphäre.
Der gallige Blick auf die österrei-
chische Provinz in der Tradition Thomas
Bernhards oder Elfriede Jelineks durch-
zieht auch Raphaela Edelbauers Roman
„Das flüssige Land“. Auch hier ist der be-
schränkte Ort der Vorfahren einer, von
dem man nicht loskommt. Und so zögert
die Erzählerin im „Flüssigen Land“ kei-
nen Moment, als es darum geht, dem
Wunsch der Eltern nach Bestattung im le-
benslang verdrängten Kindheitsort Groß-
Einland nachzukommen. Bemerkenswert
ist nun, wie die Autorin ihren eigenen Ge-
burtsort – das niederösterreichische Hin-
terbrühl mit seinem unterirdischen See
und seiner Burg Liechtenstein – kafkaesk
auflädt und in einer an Fernsehserien wie
„Dark“ oder „Stranger Things“ erinnern-
den Handlung regelrecht neu entdeckt.
Ist für Schriftsteller wie Saša Stanišić
und Raphaela Edelbauer nun der Stadt-
flucht oder der Landflucht der Vorzug zu
geben? Das ist schwer zu entscheiden.
Auch Angela Lehners Land-Stadt-Land-
Bewegung hebt die Grenzen auf. Über-
troffen wird dieses literarische Pendeln
zwischen den Welten aber noch von der
in München geborenen, in einer ober-
pfälzischen Ökokommune aufgewachse-
nen, heute in der Uckermark lebenden
Lola Randl. Bei ihr haben wir es biogra-
phisch und literarisch mit einem Stadt-
Land-Stadt-Land-Hopping zu tun.
Wie hybrid diese Lebensform ist, be-
schreibt Randl in ihrem Buch selbst. Das
ausgestorbene Dorf in der Uckermark mit
den günstigen Häuserpreisen lädt zu-
nächst zur Naturromantik ein, doch die
Städter, die es bevölkern, errichten in ihm
gleichzeitig eine Parallelgesellschaft, die

das Ursprüngliche bedroht. Die weltlitera-
rische Tradition des Rückzugs in den
Garten wird auch bei anderen Longlist-
Romanen um eine Art Speckgürtel-Per-
spektive erweitert. Fluchtmöglichkeiten
gibt es in beide Richtungen.
Wo aber bleibt der poetische Spürsinn
für den zeitkritischen Konflikt zwischen
Regionalität und Mobilität, der sich auf
dem Dorf, siehe Gelbwesten, besonders
radikal bemerkbar macht? In der Longlist
kommt er als strukturelles Schreck-
gespenst eigentlich nur in Karen Köhlers
Roman „Miroloi“ vor. Die Autorin be-
schreibt hier eine bedrohlich-patriarchale
religiöse Gemeinschaft auf einer abge-
schotteten griechischen Insel vor Einfüh-
rung von Fernsehen und Coca-Cola. Er-
staunlich dabei, dass die biographisch
urban geprägte Autorin der bäuerlichen
Lebensweise trotz allem durchaus offen
gegenübersteht. Ihr Buch, sagte sie im Ra-
diointeview, gebe auch „eine Ahnung da-
von“, wie ein Leben aussähe, in dem „Le-
bensmittel nicht mehr so leicht verfüg-
bar“ seien, und verweist auf die Prognose
von Zukunftsforschern, „dass jeder
Mensch einen Teil der Lebensmittel, die
er verbraucht, selbst anbauen werden“
müsse.
Dazu passt, dass der schon von Walt
Whitman bedichtete „Kompost“ bei
Randl, Kühmel und Köhler vorkommt
und im Garten vor sich hin wächst. Man
kann sogar sagen: Das Dorf selbst ist zum
Komposthaufen der deutschen Literatur
geworden. Alles Mögliche kann auf ihn
draufgeworfen, projiziert und von ihm
abgeerntet werden. Das ist weder origi-
nell noch verwerflich. Guten Humus gibt
es aber nur, wenn man den Kompost
genau beobachtet und regelmäßig um-
setzt. UWE EBBINGHAUS

I


n den neunziger Jahren entstand
dasmodische Phänomen der „It-
Bags“, der besonders begehrten Hand-
taschen des Moments. Sie waren übli-
cherweise sündteuer, streng limitiert
und hingen an den Handgelenken der
modisch versiertesten Damen der
Welt. Oft waren sie nach ihnen be-
nannt, die Birkin etwa (nach Jane)
oder die Kelly (nach Grace). Dann
gab es die 2.55 von Chanel mit ihrem
rautenförmig gesteppten Leder, den
Kettenriemen und den ausufernden
Legenden um ihre Entstehung und Be-
deutung. Stehen die Ketten für die
klappernden Schlüsselketten der Non-
nen in der Klosterschule, in der Coco
Chanel aufwuchs? Repräsentiert das
lila Futter wirklich die Uniformen des
Konvents? Ein wenig Mysterium kann
nicht schaden, wenn es darum geht,
Legenden zu schaffen, und seien es
nur legendäre Handtaschen. Nun hat
die „New York Times“ ausgerechnet in
der deutschen Kapitale Berlin eine
neue „It-Bag“ ausgemacht. Und wie
das in Berlin so ist, kommt sie nicht
aus einem feinen Atelier, sondern von
der Straße, befindet sich gerne in et-
was mitgenommenem, angeschmud-
deltem Zustand und ist sehr billig. Ei-
gentlich aber ist sie gar kein Berliner
Phänomen, sondern süddeutscher Pro-
venienz. Wir wissen das natürlich; die
staunende amerikanische „Times“-
Journalistinlernt das im Verlauf ihrer
Recherche, für die sie mehrere arglose
Passanten ansprechen muss, bis sie
den Namen des Herstellers erfährt:
Hugendubel. Einsfuffzig pro Stück kos-
tet der Leinenbeutel, bei einem Ein-
kauf von fünfzig Euro an gibt es ihn
umsonst dazu, um die hunderttausend
Stück bringt der Buchhändler pro Jahr
unters Volk, und von Hipster bis Oma-
chen trägt ihn jeder. Der Hugendubel-
Beutel ist also eigentlich exakt das Ge-
genteil eines elitären Accessoires, er
ist ein Massenphänomen. Und nun
sind wir der staunenden amerikani-
schen Reporterin doch ein wenig dank-
bar, dass sie uns Deutschen erklärt,
dass diese Gestaltung eines unbekann-
ten Designers seit den sechziger Jah-
ren nie verändert wurde, im Konzern
selbst einen sakrosankten Status ge-
nießt und aus einem Blindtext mittig
neu zusammengefügter Lettern in ge-
brochener Schrift besteht. Mehrere in
dieser Sache hinzugezogene Experten
renommierter Universitäten – man
muss die Tiefenrecherche dieser Jour-
nalistin wirklich bewundern – bestäti-
gen ihr außerdem, dass die Vorlage
wohl ein religiöser Text aus dem Mit-
telniederländischen oder dem Nieder-
deutschen war. Der Hugendubel-Beu-
tel ist vielleicht billig und massenhaft
verbreitet, aber zwei Eigenschaften,
die ihm das Zeug zum Klassiker mitge-
ben, zeichnen ihn aus: ein unverwech-
selbares Design – und ein Geheimnis.
Manchmal braucht es staunende Besu-
cher aus dem Ausland, um die ver-
meintlich profanen Gegenstände um
einen herum neu zu sehen. dien.

So viel Kompost war nie im Roman


Nach den Vorwürfen gegen Plácido Do-
mingo wegen sexueller Belästigung er-
heben der Nachrichtenagentur AP zu-
folge elf weitere Frauen Anschuldigun-
gen gegen den Sänger. Dabei gehe es
um Belästigung oder andere unange-
brachte Handlungen des heute Acht-
undsiebzigjährigen. Eine Sprecherin
Domingos wies die Berichte zurück. Es
werde ein irreführendes Bild von Do-
mingo gezeichnet. Während die Oper
in Los Angeles Ermittlungen gegen Do-
mingo ankündigte und einige Opern-
häuser ihm absagten, wurde er bei sei-
nem ersten Auftritt seit Bekanntwer-
den der Vorwürfe vom Publikum der
Salzburger Festspiele demonstrativ ge-
feiert. Die Wiener Staatsoper hielt an
einem vereinbarten Engagement mit
dem Sänger fest. F.A.Z.

Man kann nicht behaupten, dass es das
schönste Thema wäre, aber bei der jähr-
lichen Wahl zum schönsten deutschen
Buch geht es der Stiftung Buchkunst
nicht um Inhalt, sondern um Gestal-
tung, und deshalb ist „Name Waffe
Stern – Das Emblem der Roten Armee
Fraktion“ der richtige Preisträger. Die
Publikation der Hochschule für Grafik
und Buchkunst, kurz HGB, in Leipzig
wurde von drei Absolventen, Felix Hol-
ler, Jaroslaw Kubiak und Daniel Witt-
ner, gestaltet – auf der Grundlage ihrer
Diplomarbeit bei dem Typographen
Günter Karl Bose, in deren Rahmen sie
eine Ausstellung zum Thema des RAF-
Symbols erarbeitet hatten. „Das ausge-
zeichnete Buch zeigt, wie aus Buchsta-
ben und Bildern Waffen werden“, hat
die Leipziger Kulturbürgermeisterin
Skadi Jennicke in ihrer Laudatio festge-
stellt. Diese „zeichentheoretische Ent-
zauberung“ sei hochwillkommen in Zei-
ten, in denen das Logo der Terrorgrup-
pe als ahistorische Ikone in die Pop-Kul-
tur Einzug gehalten habe. Die Auszeich-
nung ist mit 10 000 Euro dotiert. apl

In der Uckermark deckt im Dorfladen
auch die neue Literatur ihren Bedarf.
Foto Gerhard Westrich/Laif

Was vom Golde übrig bleibt


High am Strand oder kaputt in Hollywood? Lana Del Reys kalifornisches Konzeptalbum „Norman Fucking Rockwell“


Lana Del Rey Foto Universal Music


Beutelkunde


Elf Frauen
Vorwürfe gegen PlácidoDomingo

Entzauberungsmagie
Schönstes Buch des Jahres 2019

DieLonglist des Deut-


schen Buchpreises hat


ein prägendes Thema:


das Dorf. Warum ist es


so inspirierend für die


neue Literatur? Eine


kursorische Lektüre.

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