SEITE 12·SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019·NR. 208 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
G
ewalttätige Revolten prägen die
französische Geschichte. Das
hat auch damit zu tun, dass man
in Frankreich seine Unzufrieden-
heit heute weniger durch institutionalisier-
te Kanäle ausdrücken kann als in Deutsch-
land. Durch das föderale Prinzip bekom-
men die deutschen Bürger viel schneller
politische Lösungen für ihre Probleme ge-
boten. In Frankreich hat das Parlament
weniger Macht, und so herrscht der Präsi-
dent manchmal wie ein Souverän. Das ist
auch der Grund für das aktuelle Macron-
Bashing. Anders gesagt: Man muss erst
nach Paris gehen und dort die Revolution
machen, um etwas zu erreichen.
1767 fasst der Romancier und selbster-
nannte Pornograph Nicolas Edmonde Ré-
tif de la Bretonne einen Entschluss. Bis
zum Ende des Jahrhunderts wird er in
„tausendundeiner Nacht“ beobachtet ha-
ben, „was in den Straßen der Hauptstadt
vor sich geht“. Er wird sich ausschließ-
lich ihrer dunklen Seite zugewendet ha-
ben, Hunderte von Spaziergängen durch
das vorrevolutionäre und schließlich re-
volutionäre Paris unternehmen und da-
von Zeugnis ablegen. Nicht in einer philo-
sophischen Abhandlung, sondern in ei-
nem riesigen Reportagewerk, das jetzt in
einer bewundernswert lässigen Überset-
zung von Reinhard Kaiser auf die bro-
delnde Essenz gekürzt erscheint: „Die
Nächte von Paris“.
„Unter all unseren Literaten bin ich
vielleicht der Einzige, der das Volk kennt,
denn ich mische mich ständig unter die
Leute“, schreibt Rétif mit dem revolutio-
nären Elan eines Bauernsohns aus der
Bourgogne. Er will der Posten sein, der
über die geordneten Verhältnisse wacht.
„Ich bin bis zu den untersten Klassen hin-
abgestiegen, um alle Missstände dort mit
eigenen Augen zu sehen.“ Die Literatur-
welt hat Rétif de la Bretonne vor allem als
Reformer der Prostitution wahrgenom-
men (er plante Staatsbordelle) und als Er-
finder des Schuhfetischismus (später als
Rétifismus in die Psychologiegeschichte
eingegangen). Immerhin schlug die Kun-
de vom frechen Franzosen durch zu Schil-
ler und Goethe nach Jena, die sich ent-
zückt zeigten.
Rétifs ebenfalls von Reinhard Kaiser
übersetzte Autobiographie „Monsieur Ni-
colas oder Das enthüllte Menschenherz“
legte zuletzt Zeugnis vom bewegten Le-
ben des Erotomanen mit frühsozialisti-
schem Ideenwerk ab. Dabei war der ge-
lernte Drucker mehr als das. Seine Zeitge-
nossen nannten ihn neben „Voltaire der
Kammerzofen“ auch den „Rousseau der
Gosse“. Man könnte hinzufügen: Er war
der Günter Wallraff des achtzehnten
Jahrhunderts. Wäre er heute noch am Le-
ben, würde er sich als kritischer Sympa-
thisant unter die Gelbwesten mischen. In
nächtlichen Spaziergängen dokumentier-
te Rétif das Elend der kleinen Leute – der
Handwerker, der Kneipenbesitzer, der
Krämer, der Wäscherinnen, aber auch
der Lumpensammlerinnen und leichten
Mädchen. Und er erzählte vom Zynismus
der Reichen, deren Lebensstil in brüchi-
gen Zeiten nicht anders als dekadent zu
nennen war. Einmal berichten ihm zwei
Dienstboten: „Wir kaufen jedes Jahr so
viel ein, dass man drei Häuser von der
Größe des unseren damit versorgen könn-
te, aber jedes Mal verderben zwei Drit-
tel.“ Angesichts des grassierenden Hun-
gers ist das ein Skandal im Paris jener
Tage! „Es müsste ein Gesetz geben, das
es den Stadtbewohnern verbietet, Vorrä-
te anzulegen – unter Androhung einer
Geldstrafe, die sich auf das Zehnfache
des Wertes dieser Vorräte beläuft.“ Der
politisierte Küchenmeister beendet seine
Tirade mit einem Satz, der zum Leitmo-
tiv der Revolution werden sollte: „Wo
steckt sie bloß, die glückliche, süße
Gleichheit unter den Menschen?“
Rétif prangert alles an, was schief-
läuft im vorrevolutionären Paris. „Ich
werde nicht aufhören zu fordern, dass
man mehr solcher Leitungen anlegt“,
empört er sich über die fehlenden Dach-
rinnen. „Und dass man den Müll nicht
in den Fluss kippt, sondern ihn aufs
Land hinausschafft. Und dass man kein
Stroh mehr verbrennt. Und dass die Stra-
ßen sauberer werden. Und dass die
Stadt Straßenfeger einstellt. Und dass
man nicht in sämtlichen Gemüsegärten
rund um die Stadt sinnlose Neubauten
errichtet und dass man die Anzahl der
Mietkarossen, aber auch der Privatkaros-
sen verringert.“
Die Stadt Paris erscheint bei Rétif als
vitales Mängelexemplar. Vor allem die
Ungleichheit macht diese „sinnenfrohes-
te Stadt der ganzen Welt“ zu einer Stol-
perfalle für Flaneure. Die Revolution
steht vor der Tür. Rétif erlebt das plötzli-
che Umkippen von allgemeiner Unzu-
friedenheit in sadistische Gewalt haut-
nah. Der Adel versucht hysterisch auf
den König einzuwirken, der sich in Ver-
sailles verschanzt hält. Gleichzeitig mar-
schieren mutige Marktfrauen von Paris
aus vor die Tore des königlichen Anwe-
sens. Den Sturm auf die Bastille erlebt
Rétif aus der Perspektive eines Sympa-
thisanten, der nach und nach vom Glau-
ben abfällt: „Gegen halb vier verlasse
ich mit noch schwerem Kopf das Haus
und wanke wie ein Betrunkener über
den Pont Notre-Dame. Das blendende
Licht unter dem wolkenlosen Himmel
machte mich mit der Zeit immer wacher.
Ich atmete frei, als ich vor mir eine wild
bewegte Menschenmenge erblickte.
Überrascht war ich nicht. Ich nähere
mich, und... O, was für ein schauerli-
cher Anblick! Zwei Köpfe – auf Piken ge-
spießt!“ Bei der Beinah-Lynchung eines
unschuldigen Passanten schreibt Rétif
später schon fast abgestumpft: „Die Mas-
se fällt – aus Menschlichkeit – in ihre
Brutalität zurück und will den jungen
Mann hängen.“
Alle Themen, die den politischen Dis-
kurs in Frankreich seit der Aufklärung
prägen und die bis in die revolutionäre
Selbstinszenierung der Gelbwesten rei-
chen, werden in diesem engagierten
Buch zum Fanal. Die Französische Revo-
lution brach bekanntlich aus wegen der
hohen Brotpreise. Die Gewalteskalatio-
nen der „Gilets Jaunes“ entzündeten
sich knapp zweihundertdreißig Jahre
später an einer Kraftstoffsteuer. Der
Protest aus der „France Profonde“ gegen
Paris hat eine lange Tradition, von der
diese literarische Wiederentdeckung
Zeugnis ablegt. Ob er sich gegen die de-
mokratischen Eliten richtet oder gegen
weltfremde Aristokraten in ihrer Filter-
blase. Rétif de la Bretonne zu lesen
stellt allgemeingültige Zusammenhänge
zwischen Traditionsverlust, politischer
Ohnmacht und Frustration her, zu de-
nen dieses Buch die reine Anschauung
liefert. Vor allem, wenn Frankreich heu-
te einen politischen Reformkurs vertei-
digen muss, der zwischen extrem linken
und extrem rechten Demokratieveräch-
tern feststeckt.
Nachdem er voller Abscheu beobachtet
hat, wie Finanzminister Foullon gelyncht
wurde, lässt Rétif seinem Bericht eine
ernsthafte Mahnung folgen:„Man glaube
nicht, ich wollte die Tyrannen, die Unter-
drücker beklagen! Dieser Gedanke liegt
mir völlig fern! Wohl aber beklage ich
den Menschen! Und nichts Menschli-
ches ist mir fremd! Ich zeichne euch die-
se schaurigen Bilder noch einmal auf, lie-
be Mitbürger, um euch vor der Zukunft
und den teuflischen Aufwieglern zu war-
nen!“ KATHARINA TEUTSCH
Als Opfer sieht er sich nicht. Eher als Da-
vongekommenen, der das Glück hatte,
mit einem Kindertransport nach England
gerettet und wenig später als „feindlicher
Ausländer“ in Australien interniert zu
werden. Die meisten seiner Duisburger
Mitschüler und deren Familien überleb-
ten den Holocaust nicht. Aber von Glück
redet der fünfundneunzig Jahre alte Wal-
ter Kaufmann selten. Ein Dutzend Berufe
hat er ausgeübt – Schriftsteller ist nur
einer davon. Als deutsch-australischen
Autor bezeichnet er sich, also als jeman-
den, der in mindestens zwei Welten zu
Hause ist. Vier Jahre lang war er australi-
scher Soldat, nicht immer freiwillig wur-
de er zum Weltenbummler. Die Unsicher-
heit seiner Existenz hat er aber stets unbe-
irrt und selbstbewusst ertragen: Er nutzte
die nächste Chance und sammelte Mate-
rial für ein nächstes Werk. Schriftsteller
wollte er immer werden, auch wenn er an-
fangs nicht vom Schreiben leben konnte.
Die Seefahrt bot die beste Gelegenheit,
Länder und Leute kennenzulernen. Seh-
mann wäre die richtige Bezeichnung für
ihn. Kaufmann ist ein guter Beobachter
und neugierig genug, um sich immer wie-
der auf Neues einzustellen.
Mitte der fünfziger Jahre kehrte Walter
Kaufmann nach Deutschland zurück, in
die DDR. Man nahm ihn dort gerne auf.
Er zählte bald zu den Privilegierten, die
reisen durften, wohin sie wollten. Seine
australische Staatsbürgerschaft hat er nie
aufgegeben. Acht Jahre lang war er Gene-
ralsekretär des dortigen PEN. Die meis-
ten seiner vielgelesenen Romane und
Kurzgeschichten entsprachen dem in der
DDR gewünschten Realismus und gewan-
nen fast alle ihren Stoff aus Selbst-
erlebtem. Vorbilder dafür waren Stefan
Zweig, Anna Seghers und die jungen
Amerikaner.
In den letzten Jahren war es still gewor-
den um Walter Kaufmann. Die meisten
seiner Werke sind vergriffen. Jetzt bringt
Thomas Schumanns Ein-Mann-Verlag
Edition Memoria eine Sammlung kurzer
Porträts und Erlebnisse heraus: Begeg-
nungen und ungewöhnliche Erfahrungen
eines langen Lebens. Alle Menschen und
Ereignisse gab es wirklich, hat der Autor
versichert. So ist ein lebendiges Panora-
ma entstanden, das aus mehr als hundert
Einzelteilen besteht. Gegenüber einer Au-
tobiographie hat es den Vorteil, Zufälli-
ges gleichrangig mit Bedeutsamem zu stel-
len, also eine Reihe von spannenden Au-
genblicken zu schaffen.
Manche Erinnerungen brechen vor-
schnell ab. Vielleicht sollten aus ihnen ur-
sprünglich längere Texte entstehen. Seine
direkte, schnörkellose Sprache hat sich
Walter Kaufmann über all die Jahre erhal-
ten. Dem Leser bleibt es vorbehalten, zu
ergänzen und die Etappen seines Lebens,
die oft nur Skizze und komprimierte An-
deutung bleiben, in einen Zusammen-
hang zu bringen. MARIA FRISÉ
„Dirigieren heißt, den Musikern zu hel-
fen, besser zu spielen“ – der Spruch ist
vielleicht weniger demütig, als er klingt.
Denn schließlich muss man sich dafür
erst einmal zutrauen, wirklich zu wissen,
was einem Ensemble fachlich wie psycho-
logisch guttut. Trotzdem wirkt er im aktu-
ellen, mediengetriebenen Zirkus dirigenti-
scher Eitelkeiten erstaunlich geerdet und
antielitär; bestens passend also zu Ádám
Fischer, von dem er stammt: diesem be-
scheiden selbstbewussten Künstler, zu
dessen siebzigstem Geburtstag am kom-
menden Montag nun eine Biographie er-
schienen ist, die den Weg des in Ungarn
geborenen und im deutschen Sprachraum
sozialisierten Künstlers zu den führenden
Theatern und Orchestern nachzeichnet.
Ihr Autor Andreas Oplatka hat dafür
ausführlich mit Fischer selbst, mit Famili-
enangehörigen und vielen Musikern, die
unter Leitung des Dirigenten gespielt ha-
ben, gesprochen. Bei sichtlicher Nähe
und Geneigtheit zu seinem Helden bevor-
zugt er dabei eine Tonlage wohlwollend
gelassener, abgeklärt überblickender
Halbdistanz, die sehr sachlich (und auf
persönlichen Feldern wie dem Familienle-
ben des Künstlers oder dem Binnenver-
hältnis der beiden dirigierenden Brüder
Ádám und Iván auch recht diskret) bleibt
und sich nie zu euphorischen Wallungen
hinreißen lässt. Man spürt Oplatkas Schu-
lung als Historiker und langjähriger politi-
scher Redakteur der „Neuen Züricher Zei-
tung: kein Musik-Insider, sondern einer,
der sich interessiert-sorgfältig an seinen
Gegenstand heranarbeitet.
Das hat Vor- und Nachteile: Da gibt es
einerseits eine große Behutsamkeit der
Betrachtung, ein sorgsames Erwägen des
Für und Wider gerade an jenen biographi-
schen Kipppunkten, die Stagnationen
oder sogar Rückschläge bewirkten und im
Buch nicht verschwiegen werden; paradig-
matisch dafür stehen Kapitelüberschrif-
ten wie „Zeit der Zweifel“ oder „Leiden
an Ungarn“. Nebenfelder – kleine Exkur-
se zur Theatergeschichte und zum Wirken
bedeutender, für Fischer prägender Kolle-
gen, aber auch zu seiner Kochkunst und
seinen sonstigen außermusikalischen In-
teressen – werden freundlich gestreift,
ohne sich geschwätzig auszubreiten.
Fischers politisches Engagement hinge-
gen, sein beharrliches Eintreten für die
Menschenrechte und seine tief skeptische
Sicht auf das aktuelle politische Tableau
seines Heimatlandes bilden in ihrer kriti-
schen Würdigung durch den Biographen
fast so etwas wie einen Kontrapunkt: eine
durchgängige zweite Stimme zur künstle-
rischen Entwicklung des Dirigenten, die
ihn bis an die Wiener Staatsoper, nach
Bayreuth, Salzburg und an die Scala ge-
führt hat, während er seine Chefposten
eher an Institutionen der guten zweiten
Reihe, wie aktuell bei den Düsseldorfer
Symphonikern, einnimmt.
Andererseits waltet da gerade ange-
sichts dessen, wie der Künstler selbst sei-
ne Anliegen zwar eher leise, doch mit
Nachdruck vertritt, vielleicht manchmal
schon ein wenig zu viel Diplomatie. So im
Nachvollzug jener von Oplatka fast gelas-
sen referierten Farce, bei der im orches-
trierten Zusammenwirken eines finanz-
starken Egomanen und einer opportunis-
tischen (im Gefolge der Ibiza-Affäre mitt-
lerweile auf Abruf stehenden) Landesre-
gierung das burgenländische Haydn-Festi-
val nach drei erfolgreichen Jahrzehnten
erdrosselt wurde. Das Unternehmen war
seit seiner Gründung 1987, damals noch
über den Eisernen Vorhang hinweg, ein
Herzensanliegen Fischers – und seine Ab-
wicklung ein wenig amüsanter Beweis,
wie man mit genügend Geld sogar die kul-
turelle Identität einer ganzen Region aus-
verkaufen kann. Für den Dirigenten war
das durchaus auch mit persönlichen De-
mütigungen verbunden. Bei zwei kultur-
politisch ähnlich blamablen Vorgängen –
der beabsichtigten Eliminierung des
durch Fischer geleiteten Dänischen Kam-
merorchesters und seiner staatlich instru-
mentierten Vertreibung von der Buda-
pester Staatsoper – findet Oplatka dann
etwas entschiedenere Worte.
Wenn sich der Autor bei der Bewer-
tung von Fischers eigentlichem künstleri-
schem Profil, den Besonderheiten seiner
Interpretation und Wirkung, deutlich zu-
rücknimmt und weitgehend auf diverse
Kritiker- und Musikerstimmen zurück-
greift, die einen Eindruck von dessen ein-
fühlsamer Arbeitsweise und nachhaltiger
Ausstrahlung im Feld zwischen Wiener
Klassik und Gustav Mahler vermitteln, ist
das legitim und sachgerecht. Wo es frei-
lich um den Komplex „Regietheater“
geht, bekommt man vorübergehend den
Eindruck, dass Oplatka hier nicht mehr –
wie über weite Strecken und zum Vorteil
des Ganzen – gleichsam mit der wägend-
zurückhaltenden Stimme seines Protago-
nisten spricht, sondern nun im Gegenteil
der Dirigent als Kronzeuge für den Un-
mut seines Biographen über das, was die-
sem auf den Bühnen missfällt, herhalten
muss. Auch mischen sich gegen Ende,
wenn jenseits des Lebensgeschichtlichen
übergreifendere Fragestellungen refe-
riert werden, manche Plattitüden unter –
etwa in den Vergleichen zwischen Or-
chester-, Wirtschafts- und Staatsführung.
Daraus mag leichter Überdruss entste-
hen, aber kein ernsthafter Schaden: Ent-
scheidend bleibt das feinfühlige Porträt
eines feinfühligen Künstlers, der sich
selbst nie als Mittelpunkt, sondern zuerst
als Diener und Vermittler versteht – und
damit die Ohren selbst für solche Werke
neu öffnet, die man schon rundum zu ken-
nen glaubte. GERALD FELBER
Das Buch trug keine gängige Gattungs-
bezeichnung, und genau diese Uneindeu-
tigkeit machte 1846 seinen Erfolg aus: In
„Typee“ erzählte der junge Debütant Her-
man Melville von seinen Reisen als See-
mann und vor allem von einigen Monaten
in einem abgeschiedenen Inseltal als ent-
laufener Matrose, der Unterschlupf bei
einem gastfreundlichen Südsee-Stamm
fand, der noch nicht intensiv mit Frem-
den in Kontakt gekommen war. So weit,
so nahe an Melvilles eigenen Erlebnissen.
Ob es aber sexuell tatsächlich so freizügig
bei den Typee (der Name des Stammes)
zugegangen ist, wie im Buch vom Ich-Er-
zähler Tom berichtet, kann mangels ande-
rer Berichte Melvilles nicht mehr rekon-
struiert werden. Seine Erzählung traf je-
denfalls genau den Nerv im prüden Eng-
land des frühen Viktorianischen Zeit-
alters und dem noch prüderen Amerika.
Und der Untertitel tat das Seine dazu: „A
Peep at Polynesian Life“.
Warum Alexander Pechmann in seiner
Neuübersetzung darauf verzichtet hat,
den „Schlüssellochblick“, was wohl die
gängige deutsche Entsprechung fürpeep
gewesen wäre, entfallen zu lassen und das
Buch nun ganz ohne Gattung auf die Le-
ser loszulassen, erläutert er leider nicht in
seinem umfangreichen Nachwort. Dafür
liest sich diese insgesamt vierte deutsche
Übertragung von Melvilles zu Lebzeiten
mit Abstand erfolgreichstem Buch sehr
gut, weil Pechmann den Erzählton des
neunzehnten Jahrhunderts auch ohne Ar-
chaismen trifft – wer „Vorkehrungen“
statt „Vorbereitungen“ sagt, ist diesbezüg-
lich auf dem richtigen Weg. Hoffentlich
wird er auch noch „Omoo“ übertragen,
die Fortsetzung zu „Typee“ mit weiteren
Abenteuern von Peeping Tom. apl
Rétif de la Bretonne:
„DieNächte von Paris“.
Hrsg. und aus dem
Französischen von Reinhard
Kaiser. Galiani Verlag, Berlin
- 528 S., Abb., geb., 28,– €.
Andreas Oplatka:
„Die ganze Welt ist
ein Orchester“. Der Dirigent
Ádám Fischer. Biografie.
Paul Zsolnay Verlag,
Wien 2019.
287 S., geb., 25,– €
Walter Kaufmann: „Gibt es dich noch –
Enrico Spoon?“ Über Menschen und Orte
weltweit.
Edition Memoria, Hürth 2019.
123 S., br., 20,– €.
Herman Melville: „Typee“.
Hrsg. und aus dem Amerikanischen von
Alexander Pechmann. Mare Verlag, Hamburg
- 447 S., geb. im Schuber, 38,– €.
Wo steckt sie bloß,
die glückliche, süße Gleichheit?
Freude an Haydn, Leiden an Ungarn
Kein Mann der großen Gesten, doch von künstlerischem Gewicht: Andreas Oplatkas Biographie des Dirigenten Ádám Fischer
Rétif de la Bretonnes legendäre Erkundung des vorrevolutionären
Paris liest sich heute überraschend aktuell. Reinhard Kaiser hat das Meisterwerk auf
seine brodelnde Essenz hin gekürzt und bewundernswert lässig übersetzt.
Unter den Ausschweifungen im nächtlichen Paris erscheint das Billardspielen noch als harmlos. Abbildung aus dem besprochenen Band
AlsSehmann
unterwegs
Autobiographische Skizzen
von Walter Kaufmann
Peeping Tom
Herman Melvilles „Typee“
Nicolas Rétif de la Bretonne
Abb. Galiani