Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.09.2019

(Rick Simeone) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019·NR. 208·SEITE 19


Der Bund will überschuldeten


Kommunen mit Milliarden helfen.


Dieser Ökonom hält dagegen.Seite 20


Der neue Chefvolkswirt von


Europas größtem Versicherer


dürfte einiges ändern.Seite 26


Ein Fernseher mit 98 Zoll ist


eines der Highlights auf der


Elektronikmesse IFA.Seite 28


Wirtschaftsweiser Lars Feld Frischer Wind bei der Allianz Neue Technik


D


ie amerikanische Industrie leidet
unter den Unsicherheiten, die
der Handelskrieg und ein täglich twit-
ternder Präsident produzieren. Viele
Bauern fürchten sogar um ihre Exis-
tenz, weil China als einstiger Großkun-
de kaum noch Sojabohnen, Getreide
und Mais abnimmt. Nur: Die häufige
Darstellung der Probleme der amerika-
nischen Industriekonzerne und der Lei-
den der Bauern trägt zu einer verzerr-
ten Wahrnehmung der amerikani-
schen Volkswirtschaft bei. Die Farmer
fallen in der Gesamtrechnung kaum
ins Gewicht, die Fabriken spielen eine
untergeordnete Rolle. Die Finanzwirt-
schaft einschließlich der Versicherun-
gen, das Gesundheitswesen, beratende
Berufe und Gastronomie sind die Stüt-
zen der Volkswirtschaft. Sie tragen das
im internationalen Vergleich immer
noch stattliche Wachstum von aktuell
rund 2 Prozent. Sie haben zudem den
Vorteil, dass sie von den protektionisti-
schen Maßnahmen der amerikani-
schen Regierung und ihres Counter-
parts in Peking weitgehend abge-
schirmt sind. So fechten die Politiker
einen Handelskrieg aus, während die
amerikanische Wirtschaft neue Be-
schäftigungsrekorde produziert. Das
muss nicht so bleiben, aber es kann
noch eine Weile anhalten.

W

enn in Deutschland nach einer
Stimme zu Digitalthemen ge-
sucht wird, findet sich eine solche
schnell beim Lobbyverband Bitkom:
Gegründet im Jahr 1999, kann der Ver-
band auf 2700 Mitgliedsunternehmen
verweisen, welche die deutsche Infor-
mations- und Kommunikationstech-
nik in ihrer Breite abdecken. Gut 1000
Mittelständler sind vertreten, mehr
als 500 junge Start-up-Unternehmen.
Pressemitteilungen zu aktuellen The-
men gibt es beinahe jeden zweiten
Tag; im Verband ist man stolz auf die
große Sichtbarkeit im Vergleich zu an-
deren Lobbyorganisationen der Wirt-
schaft. Der Geschäftsführer dürfte
durch seine Medienpräsenz zu den be-
kanntesten im Land gehören, Messen
wie die IFA oder die IAA sind die aktu-
ellsten Anlässe, die Verbandsmeinung
zur Digitalisierung kundzutun.
Allzu Bitkom-hörig aber sollte das
Land rund um die Digitalisierung bes-
ser nicht werden. Denn mit der zuneh-
menden Bedeutung des Themas müs-
sen auch die Schwierigkeiten des Ver-
bandes beachtet werden, die ihre
Gründe in der Verbandsstruktur ha-
ben. Der Bitkom berechnet seine Mit-
gliedsbeiträge nach Umsatz oder Mit-
arbeiterzahl in Deutschland. Das
heißt, dass große Telekommunikati-
onsunternehmen wie die Deutsche Te-
lekom oder Vodafone, aber auch ame-
rikanische IT-Anbieter mit großen
Niederlassungen in Deutschland wie
zum Beispiel Microsoft und IBM für
die Finanzierung des Verbandes be-
sonders wichtig sind.
Zwar hat jedes Unternehmen eine
gleichgewichtete Stimme, unabhängig
von der Beitragshöhe. Überall wird de-
mokratisch abgestimmt, alle Gremien
stehen allen Mitgliedern offen. Und
doch, es bleiben Zweifel, die sich
nicht immer, aber durchaus wieder-
kehrend begründen lassen, wenn zum
Beispiel die Wahl eines neuen Bit-
kom-Präsidenten ansteht. Gegen die
Meinung der oben genannten Unter-
nehmen geht da wenig, von der Breite
der Mitgliedschaft bleibt nicht viel.
Zudem lohnt ein Blick auf das Orga-
nigramm der Bitkom-Gremien. Die
Darstellung zeigt, auf wie vielen Poli-
tikfeldern der Bitkom mitmischt.
Rund 130 verschiedene Arbeitskreise
lassen sich finden, angesichts der zu-
nehmenden Bedeutung der vom Bit-
kom bedienten Themen kein Wunder.
Dazu ein Lackmustest für die Neutrali-
tät und Zukunftsfähigkeit des Verban-
des: Wie ernst wird der vermutlich ein-
zige Weg genommen, der dem Land
noch zur Verfügung steht, um sich aus
der Umklammerung ausländischer
Technologieriesen und Datensilos zu
befreien? Der Test wird nicht bestan-
den: Denn das Thema „Open Source“,
das in der jüngsten Zeit im Rahmen
der Diskussion über eine neue Unab-
hängigkeit der europäischen Software-
branche rasant an Bedeutung zurück-
gewinnt, geht alphabetisch sortiert als
Unterpunkt im Bereich „Software“ un-
ter. Beim Bitkom besteht man natür-

lich auf einem anderen Testverfahren:
Es gebe sogar eine eigenständige Ver-
anstaltung dazu, das in Kürze wieder
stattfindende Forum „Open Source“.
Der Punkt spiele also keine unterge-
ordnete, sondern sogar eine beson-
ders wichtige Rolle. Das ganze Land
muss nun hoffen, dass diese Aussage
stimmt. Warum?
Für die künftige Entwicklung
Deutschlands sensibel ist vor allem
der Datenverkehr in und zwischen Un-
ternehmen und Behörden bis hin zum
Bundesinnen- und Verteidigungsmi-
nisterium. Geht es dabei zum Beispiel
um Daten, die über Microsoft Ex-
change und Sharepoint Server übertra-

gen werden, gibt es für diese Program-
me derzeit nur bis Juli 2026 die Garan-
tie, dass man sie „on premise“, also
auf eigenen Netzwerkrechnern (Ser-
vern), betreiben kann. Der danach
theoretisch mögliche Verlust der direk-
ten Zugriffskontrolle zu diesen hoch-
sensiblen Daten bereitet in Berlin Poli-
tikern schon heute Kopfzerbrechen.
Auch deshalb versucht man sich an
Antworten mit Blick auf die Innovati-
ons- und Zukunftsfähigkeit der deut-
schen Industrie, die mit Quellcode-of-
fener Software zu tun haben.
In dem Kontext muss auch der
Wunsch von Bundeswirtschaftsminis-
ter Peter Altmaier verstanden werden,
ein europäisches Betriebssystem samt
Verwaltung für die Datenspeicherung
auf Cloud-Servern aufzubauen. Der
Arbeitstitel für das Projekt heißt
„GAIA-X“. Das Projekt soll diverse eu-
ropäische Serverkapazitäten mit einer
einheitlichen Software steuern, die An-
gebote kleinerer europäischer Cloud-
Anbieter zu einer europäischen Ser-
ver-Wolke zusammenfassen. Entschei-
dend ist aus der Sicht von Fachleuten,
dass gerade auch hierfür Open-Sour-
ce-Software eingesetzt werden sollte,
deren Quellcode von jedermann einge-
sehen werden kann. Proprietärer Code
enthalte möglicherweise Hintertüren,
von denen im schlimmsten Fall selbst
die Anbieter nichts wüssten.
Hier soll nicht bewertet werden, ob
das stimmt oder nicht. Vielmehr muss
sich das ganze Land die Frage stellen,
wie man in der digitalen Wirtschaft
der Zukunft einen Zustand erreicht,
in dem Staat und Unternehmen ver-
traulich kommunizieren, Daten sam-
meln, auswerten und dadurch innova-
tiv sein können. Die großen Anbieter
heutiger Kommunikationsdienstleis-
tungen haben dabei zunächst einiges
zu verlieren. Und deshalb könnte es
sein, dass auf der Suche nach der rich-
tigen Antwort auf diese Fragen auch
der Bitkom nicht immer der perfekte
Ansprechpartner ist.

E


in fast idealer Handelspartner sei
Deutschland, lobt die chinesische
Regierung. Sie freut sich über die vie-
len Abschlüsse, die Unternehmen im
Beisein von Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) in Peking unterzeich-
net haben. Je länger sich der Handels-
streit mit den Vereinigten Staaten hin-
zieht, desto mehr ist China an guten
Beziehungen zu Deutschland interes-
siert. Umgekehrt braucht die deutsche
Industrie den chinesischen Markt. In
keinem anderen Land der Welt leben
so viele Konsumenten. Doch die zur
Schau gestellte Harmonie kann nicht
darüber hinwegtäuschen, wie sehr das
Verhältnis kriselt. Der deutschen Wirt-
schaft missfällt, wie sehr der chinesi-
sche Überwachungsstaat auch sie im-
mer mehr erfasst. China wiederum be-
trachtet es als Affront, dass Deutsch-
land ausländische Investoren strenger
kontrolliert. Das Land hat seine Inves-
titionen hierzulande drastisch zurück-
gefahren. Zugleich ist das Investitions-
volumen deutscher Unternehmen in
China immer noch vergleichsweise ge-
ring. Solange China den Marktzugang
in vielen Branchen beschränkt, wird
das so bleiben, auch wenn beide Län-
der wegen ihrer Konflikte mit Wa-
shington wirtschaftlich mehr denn je
aufeinander angewiesen sind.

hena.PEKING, 6. September. Deutsche
Unternehmen haben im Rahmen des
Staatsbesuchs der Bundeskanzlerin eine
ganze Reihe wichtiger neuer Geschäfte in
China gemacht: Die Deutsche Post verein-
barte mit dem chinesischen Automobil-
hersteller Chery, elektrische Nutzfahrzeu-
ge zu entwickeln, die ab dem Jahr 2021 in
Serie gehen sollen und eine Stückzahl
von zunächst 100 000 und später 900 000
erreichen könnten. Ziel sei es, den welt-
größten Markt zu erschließen, sagte Jörg
Sommer, der Chef des Post-Tochterunter-
nehmens Streetscooter. Vertreter des Luft-
fahrtkonzerns Airbus unterzeichneten
ein Abkommen, Flugzeuge des Typs A
in der Volksrepublik zu fertigen. Der Ver-
sicherer Allianz will stärker mit der Bank
of China zusammenarbeiten, der Anlagen-
bauer Voith gemeinsam mit dem chinesi-
schen Eisenbahnbauer CRRC Elektrobus-
se herstellen und der deutsche Traditions-
konzern Siemens in Fernost Gasturbinen
konstruieren.
Die Reise Angela Merkels (CDU) fällt
in eine politisch hochbrisante Zeit. „Viele
werden es Zufall nennen“, schrieb die
von der Kommunistischen Partei heraus-
gegebenen Zeitung „China Daily“ anläss-
lich der Ankunft der Regierungschefin.
Doch dass Merkel zum „zwölften Mal in
14 Jahren Amtszeit“ China besuche und
eine große Delegation ranghoher Mana-
ger mitbringe in einer Zeit des Handels-
kriegs, zeige, dass sie das Potential der
„möglichen Geschäftsabschlüsse“ in dem
Land erkannt habe. So groß das Lob in
China erklingt, so groß ist mitunter die
Kritik aus dem fernen Washington. „Ich
kann nicht glauben, dass die deutsche
Kanzlerin deutsche Vorstandschefs nach
China mitnimmt während des Aufruhrs
in Hongkong“, schrieb der amerikanische
Senator Lindsay Graham auf dem Kurz-
nachrichtendienst Twitter, der wie sein
Präsident Donald Trump der Republikani-
schen Partei angehört. Washington gehe
es wohl vor allem darum, Deutschland im


Handelskrieg der Wirtschafts-Großmäch-
te nicht an China zu verlieren, hieß es
dazu wiederum aus Wirtschaftskreisen in
Peking. Dort äußerte Merkel ihren
Wunsch, der Streit zwischen den beiden
größten Ökonomien des Planeten möge
sich schnell einer Lösung nähern. Denn
auch auf „andere Staaten“ wie Deutsch-
land wirkten sich die mittlerweile ver-
hängten neuen Zölle aus: So sind von Pe-
kings Drohung, die Einfuhr von Autos
aus Amerika zu verteuern, auch BMW
und Daimler betroffen, die sportliche Ge-
ländewagen in Amerika produzieren.
Tatsächlich standen während Merkels
Besuch in Peking denn auch nicht die Mas-

senproteste in Hongkong im Vorder-
grund, auch wenn Merkel zu einer gewalt-
freien Lösung aufrief und die Einhaltung
der Menschenrechte anmahnte. In der chi-
nesischen Hauptstadt waren es, wie von
den Chinesen erhofft, die von der deut-
schen Wirtschaft avisierten Geschäftsab-
schlüsse – auch wenn der Siemens-Vor-
standsvorsitzende Joe Kaeser, der auch
Vorsitzender des Asien-Pazifik-Ausschus-
ses der deutschen Wirtschaft ist, nach lan-
gem Schweigen doch noch „Stabilität“ für
Hongkong forderte.
Wie wichtig für China der „fast ideale
Handelspartner Deutschland“ (so titelte
die „China Daily“) ist, zeigten übrigens

just am Freitag neue Konjunkturhilfen
der chinesischen Zentralbank: Diese kürz-
te die Mindestanforderungen für Banken,
Liquidität vorzuhalten, um einen halben
und in manchen Fällen um einen ganzen
Prozentpunkt auf den geringsten Wert
seit dem Jahr 2007. Damit will die Füh-
rung in Peking erreichen, dass die Geld-
häuser mehr Kredite an Unternehmen
ausreichen, damit diese ihrerseits mehr in-
vestieren und infolgedessen neue Arbeits-
plätze schaffen. Um der federführend
vom weltgrößten sozialen Netzwerk Face-
book vorangetriebenen digitalen Wäh-
rung Libra etwas entgegenzusetzen, will
China zudem Entsprechendes entwi-
ckeln. Eine chinesische Digitalwährung
werde mit der Hilfe von chinesischen In-
ternetbezahldiensten wie Alipay und We-
chat nutzbar sein, sagte ein Vertreter der
Zentralbank. Dies solle die „monetäre Un-
abhängigkeit“ der Volksrepublik und die
eigene Währung Yuan schützen, wenn es
bald „Regentage“ gebe. Seitdem deren
Wert im Zuge des Handelskriegs mit Ame-
rika auf ein Verhältnis von weniger als 1
Dollar zu 7 Yuan gefallen ist, versucht Pe-
king noch stärker als zuvor zu verhindern,
dass Kapital ins Ausland abfließt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel kün-
digte derweil ihrerseits im Rahmen ihrer
China-Reise an, das Investitionsschutzab-
kommen zwischen der Europäischen Uni-
on und China schneller vorantreiben zu
wollen. Dies könne „vielleicht“ in der
zweiten Jahreshälfte 2020 abgeschlossen
werden, in der die Bundesrepublik die
EU-Präsidentschaft innehat. Chinesische
Unternehmen seien willkommen, in
Deutschland zu investieren, sagte Merkel.
Dies gelte auch für deutsche Unterneh-
men in China, sagte seinerseits der chine-
sische Ministerpräsident Li Keqiang.
Tatsache ist indes, dass Deutschland
und die Europäische Union in jüngster
Zeit genau umgekehrt handelten und In-
vestitionen chinesischer Unternehmen ei-
ner stärkeren Prüfung unterzogen. Nach-
dem der Augsburger Roboterhersteller
Kuka an den chinesischen Haushaltsgerä-
teproduzenten Midea verkauft worden
war, hatte es auch in der Bundesregie-
rung die Sorge gegeben, Deutschland ver-
kaufe seine Zukunftstechnologien an Chi-
na und verliere gegenüber der Volksrepu-
blik den Anschluss. Diese hatte nicht zu-
letzt in Deutschland mit ihrem industrie-
politischen Plan „Made in China 2025“
für Ängste gesorgt, Peking wolle mit milli-
ardenschweren Subventionen für seine
Staatsunternehmen und dem reihenwei-
sen Kauf ausländischer Spitzentechnolo-
gie die deutsche Industrie angreifen.

Deutschland muss sich
die Frage stellen, wie
das Land künftig sicher
kommunizieren kann.

Robustes Amerika


Von Winand von Petersdorff


DieKanzlerin besucht Deutschlands wichtigsten Handelspartner. Foto dpa


Wer befreit unsere Daten?


Von Carsten Knop


loe.BERLIN,6. September. Bundesum-
weltministerin Svenja Schulze (SPD) will
Plastiktüten im kommenden Jahr aus dem
deutschen Einzelhandel verbannen. Dies
sieht ein Gesetzentwurf aus ihrem Haus
vor, den Schulze am Freitag zur Abstim-
mung an die anderen Ministerien ver-
schickte. Bieten Händler weiterhin Ein-
weg-Plastiktüten an, drohen ihnen dem-
nach Strafen von bis zu 100 000 Euro. „Ich
bin sicher, dass schon bald kaum einer die
Wegwerftüten vermissen wird“, sagte
Schulze. Die dünnen Plastikbeutel an
Obst- und Gemüsetheken sollen aber wei-
ter erlaubt bleiben.
Ob es tatsächlich so kommt wie von
Schulze geplant, ist noch nicht gesagt. Als
die Ministerin ihren Plan Mitte August
zum ersten Mal vorstellte, gab es aus den
Reihen der CDU viel Kritik. Parteichefin
Annegret Kramp-Karrenbauer forderte,
man solle zunächst den Weg der Freiwillig-
keit gehen. Der Einzelhandelsverband
HDE warf Schulze am Freitag einen Ver-
trauensbruch vor. HDE-Hauptgeschäfts-


führer Stefan Genth sagte, die Einzelhänd-
ler hätten Wort gehalten. Nach einer frei-
willigen Vereinbarung zwischen dem Um-
weltministerium und dem Einzelhandel
aus dem Jahr 2016 sei der Verbrauch von
Plastiktüten deutlich zurückgegangen.
Marktforschern zufolge nutzte jeder Ein-
wohner 2018 statistisch noch 24 Plastiktü-
ten. 2016 waren es noch 45. Schulze
spricht aktuell von 20. Die meisten Super-
märkte und Modeketten bieten schon lan-
ge keine Plastiktüten mehr an, sondern
nur noch Papiertüten und auch diese nicht
kostenlos. Damit gilt Deutschland in der
EU als Vorreiter. Eine EU-Richtlinie aus
dem Jahr 2015 gibt für die stabilen Plastik-
tüten für 2019 das Ziel aus, dass jeder Bür-
ger maximal 90 Stück verwenden sollte.
Auch die Vorgabe für 2025 – höchstens 40
Tüten je Bürger und Jahr – hat Deutsch-
land längst erfüllt.
Schulze bleibt dennoch dabei: „Ich glau-
be, dass das auf großen Rückhalt in der Be-
völkerung stößt“, sagte sie zu ihrem Geset-
zesvorhaben. Sie stört, dass eine „gewisse

Anzahl von Endverbrauchern“ auch wei-
terhin bereit sei, für Plastiktüten zu zah-
len. Dass die dünnen „Hemdchenbeutel“
für Obst und Gemüse ausgeklammert wer-
den, begründete sie damit, dass Super-
märkte sonst noch mehr Obst in Plastikfo-
lie einschweißen würden. Das wolle sie
vermeiden. Nach den Zahlen des Umwelt-
ministeriums wurden im vergangenen
Jahr in Deutschland mehr als drei Milliar-
den Obst- und Gemüsebeutel verbraucht.
Das entspricht im Schnitt 37 Stück je Ver-
braucher. Grund für den hohen Verbrauch
ist unter anderem, dass manche Kunden
ihre Einkäufe nun in den kostenlosen Kno-
tenbeuteln verpacken, seit es an der Kasse
nur noch kostenpflichtige Tüten gibt.
Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes
soll es Schulze zufolge noch eine Über-
gangszeit von sechs Monaten geben, in
der Händler ihre Vorräte an Plastiktüten
noch ausgeben dürfen. Sie kritisierte, die
Tüten würden oft unachtsam weggewor-
fen. „Landen sie in der Umwelt und nicht
in der gelben Tonne, verbleiben sie dort

viele Jahrzehnte.“ Selbst Umweltschützer
haben jedoch Vorbehalte gegenüber Schul-
zes Plastiktüten-Bann. Weniger Einweg-
plastik sei zwar grundsätzlich eine gute
Idee, sagte er WWF. „Allerdings machen
Plastiktüten nur einen sehr geringen An-
teil am deutschen Plastikmüllaufkommen
aus, insofern kommt dem geplanten Plas-
tiktütenverbot hierzulande eher symboli-
sche Bedeutung zu.“
Der Naturschutzbund Nabu hatte schon
Mitte August gewarnt: „Eine Einwegpa-
piertüte ist in ihrer Ökobilanz nicht bes-
ser.“ Weil für die Herstellung einer Papier-
tüte viel Wasser und Energie nötig sind,
müsste sie nach Angaben der Umwelt-
schützer mindestens dreimal so oft ge-
nutzt werden wie eine erdölbasierte Plas-
tiktüte. Eine Studie des dänischen Umwelt-
ministeriums aus dem Jahr 2018 kommt
sogar auf einen Faktor von 43, wenn man
alle Umweltaspekte miteinbezieht. Hinzu
kommt, dass Papiertüten schnell reißen
und anders als Plastiktüten nur schlecht
wiederverwendet werden können.

wvp.WASHINGTON, 6. September.Glo-
bale Unsicherheiten und der vom ameri-
kanischen Präsidenten Donald Trump an-
gezettelte Handelskrieg wirken sich bis-
lang kaum auf den Arbeitsmarkt der größ-
ten Volkswirtschaft der Welt aus. Die
Wirtschaft schuf im vergangenen Monat
130 000 zusätzliche Arbeitsplätze, teilte
die Regierung mit. Damit setzt sich eine
Rekordentwicklung fort: Seit September
2010 entstehen in jedem Monat zusätzli-
che Arbeitsstellen in Amerika. Die Ar-
beitslosenquote liegt mit 3,7 Prozent
ebenfalls auf einem historisch niedrigen
Niveau. Die Stundenlöhne stiegen im Jah-
resablauf um 3,2 Prozent.
Die vergleichsweise guten Zahlen doku-
mentieren die starke Rolle, die der ameri-
kanische Dienstleistungssektor spielt: Er
ist deutlich weniger als die Industrie von
internationalen Handelsbeziehungen ab-
hängig und deshalb besser abgeschirmt


von Zöllen auf Importe und Exporte. Ein
großer Beschäftigungsmotor ist der Ge-
sundheitssektor, der im August allein
24 000 zusätzliche Stellen schuf. In den
vergangenen zwölf Monaten sind knapp
400 000 neue Stellen in Krankenhäusern,
Arztpraxen und verwandten Unterneh-
men entstanden. Ein Schub ging auch von
der Bundesregierung aus, die im August
20 000 Mitarbeiter befristet einstellte für
die im kommenden Jahr anstehende
Volkszählung. Selbst die Industrie hat
3000 zusätzliche Stellen geschaffen, ob-
wohl sich in den letzten Tagen Meldun-
gen über schrumpfende Auftragsbestän-
de und gedämpfte Produktion häuften.
Die mit dem Handelskrieg verbundene
Unsicherheit fordert offenbar ihren Tri-
but in diesem Sektor. Die Produktions-
wirtschaft hat allerdings nur einen Anteil
von 11,3 Prozent an der Wertschöpfung
in den Vereinigten Staaten, ihr Beschäfti-

gungsanteil an der Gesamtbeschäftigung
des Landes liegt noch niedriger.
Die Stärke der amerikanischen Kon-
junktur wird noch durch andere Indikato-
ren unterstrichen: Die Erwerbsneigung
der Arbeitnehmer im besten Arbeitsalter
steigt weiter, wenn sie auch im internatio-
nalen Vergleich niedrig bleibt. Es geht
um die Frage, welcher Anteil der Bevölke-
rung im Alter zwischen 25 und 54 Jahren
tatsächlich einer geregelten Arbeit nach-
geht. Hier verzeichnen die Statistiker den
besten Wert seit April 2010. Der leichte
Anstieg der Erwerbsneigung zeigt, dass
die Arbeitgeber so intensiv nach Bewer-
bern suchen, dass auch Leute, die sich
bisher dem Arbeitsmarkt entzogen hat-
ten, nun in reguläre Beschäftigung ein-
münden.
Wenn auch die Arbeitsmarktzahlen et-
was hinter den Schätzungen von Ökono-
men zurückblieben, die vom „Wall Street

Journal“ und von Bloomberg befragt wur-
den, sind fast alle Kennziffern besser als
noch vor einem Jahr: Schwarze verzeich-
nen eine historisch niedrige Arbeitslosen-
quote von 5,5, Weiße von 3,4 Prozent,
asiatischstämmige Amerikaner von gera-
de 2,8 Prozent.
Ungetrübt sind die Perspektiven gleich-
wohl nicht: Die in den jüngsten Monaten
zu verzeichnende Investitionsschwäche
dämpft die Wirtschaft mittelfristig. Sie
hängt zunehmend vom amerikanischen
Konsumenten ab, der sich bisher seine
Kauflaune nicht verderben ließ. Die Be-
schäftigungsrekorde und die leicht stei-
genden Löhne beflügeln den Konsum. Al-
lerdings könnten neue Zölle, die für Okto-
ber und Dezember angekündigt sind, die
Stimmung drücken: Sie treffen zuneh-
mend Konsumgüter aus China. Diese Per-
spektive könnte die Fed als Legitimie-
rung neuer Zinssenkungen nutzen.

Distanz zu China


Von Julia Löhr


Deutsche Unternehmen setzen auf China


Das Ende der Plastiktüte rückt näher


Umweltministerin Schulze will sie per Gesetz verbieten / Doch selbst Umweltschützer sind skeptisch


Amerikas Wirtschaft trotzt dem Handelskrieg


Der Arbeitsmarkt setzt seinen Rekordlauf nahezu ungerührt fort


Während die Kanzlerin


Peking besucht, schließt


die Wirtschaft viele


neue Geschäfte ab.


Das bleibt auch in


Washington nicht


unbemerkt. Und nun?

Free download pdf