Blickpunkt Film - 09.09.2019

(coco) #1
sozialismus und den Holocaust möglich
machte - und gewisse Züge dieses Antise-
mitismus eben auch im Europa von
heute, knapp 75 Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkriegs wieder zu erkennen
sind.
Ein weiteres unerschöpfliches Thema
in Venedig war Netflix. Nachdem der
Streamer Cannes wohlweislich ausgeses-
sen hatte, kehrte er im Jahr ein nach dem
Triumph von Roma zurück an den Lido,
diesmal mit drei Produktionen, zwei im
Wettbewerb, eine außer Konkurrenz, alle
drei interessant und diskussionswürdig.
Und einer davon brachte sich als sicherer
Oscarkandidat in Stellung: Marriage
Story überzeugte mit seinen Szenen einer
Trennung – ein Quantensprung für Regis-
seur Noah Baumbach, der in einzelnen
Szenen sogar Alexander-Payne-Qualitä-
ten an den Tag legt, und ein brillanter
Showcase für Scarlett Johansson und
Adam Driver. Die schlichteren Gemüter
schrieben vom Duell zwischen der Black
Widow und Kylo Ren. Die weniger

nicht den Eindruck erwecken wolle, sie
würde den Menschen Roman Polanski
feiern. Entweder ist man nun Jurychef
und behandelt alle ausgewählten Filme
gleich - oder man lässt es bleiben. Beson-
ders viel Mühe, immer noch mehr Öl ins
Feuer zu gießen, gaben sich die amerika-
nischen Kollegen, die sogar ein Interview
mit Polanski im Presseheft zum Anlass
für Breaking-News nahmen. Dann lief der
Film, und all die große Aufregung löste
sich in Wohlgefallen auf. J’accuse mag
diese gewisse Lust am Perversen fehlen,
die Polanskis Meisterwerke auszeichnet.
Aber der Mann ist 86 Jahre alt. Und J’ac-
cuse ist der Film eines 86-Jährigen, etwas
konventionell, aber doch auch mit einer
Präzision und Ruhe gedreht, die den
Meister erkennen lässt. Und natürlich hat
er den Film nicht gemacht, weil er sich
selbst in der Figur des unschuldig ver-
folgten jüdischen Offiziers wiedersieht,
sondern weil er zeigen will, wie das Gift
des Antisemitismus in ganz Europa für
eine Stimmung sorgte, die den National-

pierungen zu torpedieren; in Ema findet
eine junge Frau im Chaos der Gesellschaft
ihre Befreiung, und Meryl Streep ruft in
The Laundromat auf zu mehr Wehrhaftig-
keit. Dabei fällt auf, wie schrill die Debat-
ten um die Filme selbst geführt werden,
als seien die Kritiker durch zu viel Zeit auf
Twitter ihrerseits zu einem Mob von Vigi-
lanten geworden: Wie absolut und in teil-
weise regelrecht hysterischem Ton da Ur-
teile gefällt werden und man die
abkanzelt, die anderer Ansicht sind, das
ist kein gutes Zeichen für die Qualität der
Diskussionskultur. Vielfalt ist out, Rekla-
mation auf alleinigen Anspruch auf Rich-
tigkeit ist in. Mit einer Giftigkeit wurde
auf die Einladung der neuen Filme von
Roman Polanski und Nate Parker reagiert,
die keinerlei Widerspruch erlaubte.
Da mochte Alberto Barbera noch so
oft darauf hinweisen, dass es nicht seine
Aufgabe als Festivalleiter sei, über einen
anderen Menschen zu urteilen, sondern
Filme aufgrund ihrer künstlerischen oder
politische Meriten auszuwählen. Im all-
gemeinen Furor, der keine differenzierte
Betrachtung zulässt, kam das nicht an.
Keinen Gefallen tat sich Juryleiterin Luc-
rezia Martel bei der Eröffnungspresse-
konferenz, als sie sagte, dass sie es zwar
richtig finde, dass der neue Polanski ge-
spielt wird, aber dennoch darauf hinwies,
der Gala fernbleiben zu wollen, weil sie


Polanski, Netflix und


»Joker« dominieren


die Diskussionen.


DIE RICHTER
Die Jury um Lucrecia
Martel (4.v.r.) mit
Festival-Präsident
Paolo Baratta (l.)
und dem künst-
lerischen Leiter
Alberto Barbera (r.)
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