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Juli ist nun eingeschult worden. Für uns Eltern war das ein be-
sonderer Moment. Wenn das jüngste Kind die Leiter des Größer-
werdens hochsteigt, erkennt man, dass man selbst nun viele Sachen
zum letzten Mal macht. Das letzte Mal Abschied von der Kita. Das
letzte Mal sitzt man mit einem sechsjährigen Mädchen in der Aula
einer Grundschule, um den Einschulungsakt zu begehen. Ich zog
Vergleiche zu den Einschulungen unserer anderen Kinder. Ich hatte
den Eindruck, dass die Schultüten wieder etwas schmaler geworden
waren. Bei Lottas Einschulung waren sie fast so groß gewesen wie
das dazugehörende Kind und waren gefüllt mit Süßzeug und Spiel-
kram, oft war ganz oben noch ein Plüschtier aufgebunden. Nun
waren die Tüten wieder bescheidener. Vielleicht ein Frühindikator
der drohenden Rezession.
Einschulungen finden in unserer Stadt am Samstag statt, damit
Eltern und Verwandte daran teilnehmen können. Es gibt eine rich-
tige Feier mit Bühnenprogramm und Sektempfang in der Schule.
Das finde ich übrigens herausragend in Deutschland. Hier wird der
Schulbeginn als große Feier begonnen. Eine große Sache für das
Kind, ein neuer Lebensabschnitt.
Man könnte meinen, dass Einschulungen für Eltern wie uns Routine
sind, aber so ist das nicht. Die ganze Zeit musste ich mit den Tränen
der Rührung kämpfen, so wie alle Eltern im Raum.
Juli saß mit ihrem Schulranzen neben den anderen Neuschülern
und versuchte, sich einen Reim auf all die Tänze und Sketche zu
machen, die die Kinder der vierten Klasse dort auf der Bühne auf-
führten. Schließlich wurden die Kinder ihrer Klasse der Reihe nach
aufgerufen, und Juli erklomm die Stufen der Bühne und gesellte
sich zu ihrer Klassenlehrerin, als ob dies das Selbstverständlichste
der Welt wäre. Wir hatten uns davor natürlich immer wieder über
die Schule unterhalten. Juli hat sich nämlich durchaus informiert.
Warum man eigentlich in die Schule geht. Meine Antwort, dass man
dort tolle Sachen lernt, lesen und schreiben, und dass dort über-
haupt alle Menschen lesen gelernt haben, sogar Mama und Papa,
fand sie offenbar hinreichend. Nun geht Juli eben in die Schule. Ich
würde gerne etwas dazu sagen, was Juli in der Schule alles so macht
und wie sie es findet. Leider äußert sich Juli nicht dazu. »Über die
Schule spreche ich nicht«, antwortet sie bestimmt, wenn man sie
fragt. Es ist wohl so, dass es nun einen Bereich in ihrem Leben gibt,
der mich nichts angeht. Sie ist nun groß.
In die Schultüte hatten wir natürlich kaum Süßigkeiten und Spiel-
zeug gepackt, dafür allerlei vernünftige Sachen, Malstifte etwa oder
auch eine Schablone, mit der man Buchstaben nachzeichnen kann.
Ich glaube, die Schablone hat es Juli am meisten angetan. Sie hat sich
bei ihren Geschwistern informiert, wie man etwas ganz Bestimmtes
schreiben würde. Dann setzte sie sich mit dem von den Schwestern
vorgekritzelten Zettel an ihren neu eingerichteten Schreibtisch und
übertrug die Buchstaben sorgfältig einzeln mit ihren neuen Stiften
und der Schablone auf ein Blatt Papier. Das Blatt nahm sie und
klebte es mit einem Tesastreifen außen an ihre Zimmertür. In bun-
ten Lettern prangt dort nun »BITTE KLOPFEN!«. Das Kind hat
verstanden, wozu schreiben gut ist. Ich hatte die Botschaft wohl ver-
nommen, aber noch nicht verinnerlicht. Als ich kurz darauf einfach
so in ihr Zimmer kam, saß Juli am Schreibtisch, blickte auf und
sagte: »Ich dachte, du kannst schon lesen?«
Prüfers Töchter MEINE 6-JÄHRIGE
Illustration Aline Zalko
Juli ist 6 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt hier
im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 19, 14 und 12 Jahren
Ȇber die Schule
spreche ich nicht«