Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

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Es gibt doch wirklich nichts zu meckern. Dachte ich, als
ich die Leute in den gelben T-Shirts sah, die an der Isar
standen. Grässliche gelbe T-Shirts. Unterschriften wollten
sie, für ein Volksbegehren, den Radentscheid – für eine
bessere Fahrrad-Infrastruktur in München. Ich fand das
lächerlich, vor allem an diesem Ort, neben dem Isarrad-
weg, der ja wohl himmlisch ist. Man radelt an jedem Stau
vorbei auf diesem Radweg. Wenn es schneit, wird er inner-
halb von ein paar Stunden geräumt, und wenn es heiß ist,
spenden die Bäume Schatten. Außerdem: dieser Ausblick!
Wenn ich bis an mein Lebensende Rad fahren müsste, im-
mer geradeaus und immer wieder die gleiche Strecke, quasi
die Radlversion von Sisyphus, dann würde ich dafür den
Isarradweg wählen. Trotzdem standen sie hier, die Männer
und Frauen in den gelben T-Shirts, und sammelten Un-
terschriften, weil sie nicht zufrieden waren. Ich verstand
diese Leute nicht, einerseits weil ich noch nie verstanden
habe, warum Menschen das Bedürfnis nach einheitlichen
T-Shirts haben. Andererseits weil ich das Gefühl hatte, sie
würden mein Glück anzweifeln, die Freude, die mir dieser
Radweg macht. Die Freude, die es mir überhaupt macht, in
München von A nach B zu kommen.
Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, habe in Köln gelebt,
in Hamburg, in München und in Berlin. Überall bin ich
Rad gefahren, manchmal Bus und Bahn, und nirgends war
es so gut wie in München. Im Ruhrgebiet sind Radwege
nur Dekoration: Es gibt zum Beispiel einen gut ausgebau-
ten Radweg zwischen Essen und Mülheim, ein Vorzeige-
projekt, die ganze Region ist stolz darauf. Am Wochenende
fahren die Leute mit E-Bikes hin und her zwischen den
Städten, um des Fahrens willen. Aber innerhalb von Essen
und innerhalb von Mülheim erschrecken sich Autofahrer
regelrecht, wenn sie ein Fahrrad sehen. Weil es einfach
nicht passiert. Zu gefährlich, überall Scherben, schlechte
Luft. In Berlin musste ich nur eine Woche wohnen, bis
mein Rad geklaut wurde. In Köln verlaufen Radwege ent-
weder über den schmalen Bürgersteig oder zwischen den
Tramschienen, danach enden sie im Nichts.
»Trotz jahrelanger Radlhauptstadt-Versprechen«, schreiben
die Radentscheid-Aktivisten auf ihrer Website, habe sich
zu wenig getan in München. Sie haben inzwischen 160.000
Unterschriften gesammelt, das ist jeder zehnte Münchner
Bürger. Was ist los mit diesen Leuten? Die Fraunhofer-
straße hat inzwischen einen Radweg statt Parkplätzen, am
Südring sollen bald Fahrräder neben den Gleisen herfahren
können, damit man noch schneller ist als sowieso schon.
Was kann 160.000 Menschen daran nicht gefallen?
Mit dem gleichen Unverständnis habe ich einen Freund
ausgelacht, der mir erklärte, dass München un-be-dingt
eine neue Stammstrecke brauche: Er finde manchmal kei-
nen Sitzplatz in der Bahn. So ginge es ja nun nicht. Dass
ich ihm vom Ruhrgebiet erzählt habe, wo man sich für
Fahrten im Regionalexpress ein Kissen mitbringt, weil man
fast regulär auf dem Boden sitzt, und von Berlin, wo man
sich gar nicht erst hinsetzen will, weil es überall schlecht

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