Die Europaabgeordnete Adamowicz vor dem Panorama der Danziger Altstadt
Foto: Adam Tuchlinski für DIE ZEIT
Weil sie daran glaubt
Die Witwe des ermordeten Danziger Bürgermeisters kämpft für eine Welt ohne Hass. Woher sie den Mut nimmt? Vielleicht, sagt Magdalena Adamowicz, sei sie naiv VON MATTHIAS KRUPA
Danzig/Strassburg
M
agdalena Adamowicz trägt
Schwarz, das Schwarz der
Witwe, an diesem Mor-
gen im Juli, als das neu
gewählte Europaparlament
in Straßburg zu seiner ers-
ten Sitzung zusammen-
kommt. Schwarzes Kostüm, schwarze Bluse,
schwarze Brille, sogar das Band, an dem ihr Par-
lamentsausweis baumelt, ist schwarz. Nur ein
großer Button sticht hervor, weiß ist er, mit leuch-
tend roten Buchstaben, sie trägt ihn am Revers:
»Ima gine there is no hate« steht darauf. Stell dir vor,
es gäbe keinen Hass.
Deshalb ist Magdalena Adamowicz Europaabge-
ordnete geworden, eine von 751. Weil sie gegen den
Hass kämpfen will, der die Politik in vielen Ländern
vergiftet, auch in ihrer Heimat. Und weil sie die
Tragödie, die ihre Familie erlebt hat, nicht einfach
hinnehmen will. Nichts lässt sich ungeschehen ma-
chen, das weiß sie. Aber »wir können etwas verän-
dern«, sagt die 46-jährige Polin, »und ich selbst
kann Einfluss auf diese Veränderungen nehmen.«
Magdalena Adamowicz ist nach Brüssel gezo-
gen, in eine neue Stadt, in ein neues Büro im zehn-
ten Stock des Straßburger Europaparlaments. In
ein neues Leben. Weil ihr altes Leben vom Hass
zerstört wurde.
Das alte Leben von Magdalena Adamowicz en-
dete am 13. Januar mit einem Anruf, der sie in Kali-
fornien erreichte. Zusammen mit ihren beiden Töch-
tern war sie für ein Jahr in die USA gezogen. Anto-
nina, die ältere Tochter, ging dort zur Highschool;
Tereska besuchte die Grundschule. Adamowicz selbst
wollte sich auf ihre Habilitation vorbereiten, sie ist
Spezialistin für internationales Seerecht.
Kalifornien, das sollte ein Innehalten werden,
eine Beruhigung. Abstand wollte Magdalena Ada-
mowicz gewinnen, für sich und ihre Töchter. Und
auch für ihren Mann Pawel, der sie zum Jahres-
wechsel für ein paar Wochen besuchte, der aber
kein ganzes Jahr in Kalifornien bleiben konnte. Er
musste zurück nach Danzig.
Erst im November 2018 war Pawel Adamowicz
dort als Bürgermeister wiedergewählt worden,
zum fünften Mal, mit großer Mehrheit. Rund um
die Wahl hatte es heftige, böse Auseinanderset-
zungen gegeben. Adamowicz war weit über die
Stadt hinaus bekannt, er galt landesweit als Stim-
me der liberalen Opposition. Immer wieder hatte
er die nationalkonservative Regierung in Warschau
kritisiert. Seine Gegner hatten ihn deshalb als
Dieb und Mafioso beschimpft oder als vermeint-
lichen Agenten attackiert. Die regierungsnahe
Wochenzeitung Sieci zeigte ihn auf ihrer Titelseite
neben Hakenkreuzfahnen, dazu die Frage: »Will
Danzig nach Deutschland?«
Unterstellungen, falsche Anschuldigungen und
manipulierte Nachrichten sind in vielen Ländern
zum Mittel der politischen Auseinandersetzung
geworden. Auch in Polen. Auch dort wächst die
Polarisierung, greift die politische Verrohung um
sich, ist der Hass alltäglich geworden.
Magdalena Adamowicz ist mit ihren Töchtern
vor diesem Hass in die USA geflohen. Aber am
- Januar holt er sie dort ein.
An diesem Tag geht Pawel Adamowicz mit ei-
ner Spendenbüchse durch seine Stadt, wie jedes
Jahr, und sammelt Geld für das Große Orchester
der Weihnachtshilfe, eine private Wohltätigkeits-
organisation. Im Vorjahr hatte ihn Antonina be-
gleitet, die nun in den USA ist. Am Abend, wäh-
rend der Abschlussveranstaltung, springt ein jun-
ger Mann auf die Bühne, zieht ein Messer und
sticht auf Adamowicz ein.
Als Magdalena Adamowicz am Telefon von
dem Attentat erfährt, haben die Ärzte noch Hoff-
nung. Fünf Stunden dauert die Operation, mit der
sie versuchen, das Leben des Bürgermeisters zu
retten. Als Magdalena Adamowicz mit den Töch-
tern in Danzig landet, ist ihr Mann tot.
Noch auf der Bühne hatte der Täter das Mikro-
fon an sich gerissen, hatte Pawel Adamowicz und
dessen frühere Partei, die liberale Bürgerplattform,
beschimpft. Unter anderem sollten sie für eine
Haftstrafe verantwortlich gewesen sein, die der
27-jährige Attentäter verbüßt hatte. Der Täter sei
psychisch krank, hieß es später. Aber offensichtlich
hatte er vieles, was über Pawel Adamowicz ge-
schrieben und gesagt worden war, aufgeschnappt.
Ihr Mann sei »an den Folgen eines politischen
Mords gestorben«, hat Magdalena Adamowicz
kurz nach der Tat gesagt. So sehen es viele.
Der Tod des Bürgermeisters schien ein Fanal zu
sein, ein Zeichen für ganz Europa, das zeigt, was
der Hass anrichten kann, wenn er explodiert.
Wenn aus Worten Taten werden. Im fernen Straß-
burg, wo seine Frau nun selbst ein Büro hat, er-
hoben sich die Abgeordneten des Europaparla-
ments zu einer Schweigeminute für den ermorde-
ten Bürgermeister. Zur Trauerfeier reiste Altbun-
despräsident Joachim Gauck nach Danzig.
Magdalena Adamowicz spricht in ruhigen, kla-
ren Sätzen. Sorgfältig wählt sie ihre Worte. Den
Mann, der ihren Mann ermordet hat, will sie nicht
Mörder nennen. Vielleicht überrasche es man-
chen, sagt sie, aber sie sehe in ihm auch ein Opfer:
»Viele Menschen sind so vollgepumpt mit Hass-
reden, wie der Typ, der meinen Mann umgebracht
hat. Sie glauben so verzweifelt an das, was sie hö-
ren und lesen, dass sie aufgrund dieser Hassreden
Verbrechen begehen.«
Das Wort »Hassrede« ist aus dem Englischen
entlehnt. Als hate speech werden verschiedene For-
men sprachlicher Angriffe und persönlicher He-
rabsetzungen bezeichnet. Sie können Einzelnen
gelten oder auf gesellschaftliche Gruppen zielen;
das Internet ist voll davon. Hate speech ist kein
scharfes, fest umrissenes Konzept, auch juristisch
sind Hassreden schwer zu fassen. Hate speech, das
ist eine düstere Wolke, die über Europa hängt.
Etwas Unbestimmtes, etwas Bedrohliches. Wer
Magdalena Adamowicz eine Weile zuhört, kann
den Eindruck gewinnen, sie versuche mit dem
Wort auch alles Fürchterliche zu bannen, was ihrer
Familie widerfahren ist.
Magdalena Adamowicz ist überzeugt, dass ihre
private Tragödie auf eine viel größere Gefahr ver-
weist. Hassreden, sagt sie, könnten die Europä-
ische Union von innen heraus zerstören, »man
braucht dafür keine Panzer, keine Bomben, nur
Manipulationen«. Um dieser Gefahr zu begegnen,
will sie Ausbildungs- und Aufklärungsprogramme
entwickeln und mit EU-Mitteln fördern. Sie will
sich dafür einsetzen, die internationale Menschen-
rechtskonvention um einen Passus zu ergänzen,
der Hassreden ächtet. Und sie will den Opfern
helfen, auch denen, die zu Tätern geworden sind.
Wie der Mörder ihres Mannes.
Magdalena Adamowicz hätte sich zurückziehen
können. Der Schmerz war kaum zu ertragen, die
Sorge um die Töchter enorm, für die sie nun allein
die Verantwortung trägt. Tatsächlich flogen die
drei anfangs zurück nach Kalifornien, Antonina
und Tereska sollten dort das Schuljahr beenden.
Aber zurückziehen wollte sich Adamowicz nicht.
F
ünf Tage nach dem Mord wird ihr
Mann unter großer Anteilnahme in der
Danziger Marienkirche beigesetzt, die
Trauerfeier wird live im Fernsehen über-
tragen. »Heute brauchen wir Stille, aber
diese Stille bedeutet nicht Schweigen«, sagt Mag-
dalena Adamowicz in ihrer Trauerrede. »Denn
Schweigen kommt der Gleichgültigkeit nahe. Und
Pawel war nie gleichgültig.«
Auch Antonina, ihre Tochter, spricht. Sie dankt
dem Vater für die Spaziergänge, die sie abends zu-
sammen mit dem Hund unternommen hatten.
Für die Gespräche über Geschichte und Literatur,
die er mit ihr geführt hatte. Und für die drei Wo-
chen Urlaub, die die Familie gerade erst in Kalifor-
nien verbracht hatte – so lange waren sie noch nie
zusammen verreist.
»Ich glaube an Gott«, sagt Adamowicz, »aber es
fiel mir schwer, zu verstehen, was passiert ist. Warum
hatte Gott das zugelassen? Ich kam auf zwei Erklä-
rungen: Entweder brauchte er meinen Mann, um im
Himmel einige Neuerungen durchzusetzen. Oder er
wollte uns alle schockieren: So geht es nicht weiter.«
Einige Wochen nach der Trauerfeier veröffent-
licht Magdalena Adamowicz im Internet einen of-
fenen Brief. Sie wendet sich darin ausdrücklich an
Politiker, Wissenschaftler und Geistliche, an die
»Führer der Welt«. Hassreden, schreibt sie, träfen
nicht nur Prominente wie ihren Mann, sie richte-
ten Verwüstungen an, »in Schulen, auf Sportplät-
zen, in Gottesdiensten und bei uns zu Hause –
wenn wir allein sind, Auge in Auge mit den sozia-
len Medien«. Es sei höchste Zeit, Hassreden »sys-
tematisch und kompromisslos« zu bekämpfen, je-
der müsse bei sich selbst anfangen.
»Imagine there is no hate!«, schließt sie ihren Brief,
die Zeile hat sie von John Lennon geliehen. »Wir
müssen beginnen, eine solche Welt zu schaffen! Jetzt
sofort, heute, jeden Tag.« Anfang April entscheidet
sich Adamowicz, für das Europaparlament zu kan-
didieren. Im Mai wird sie gewählt, mit mehr als
200.000 Stimmen und großem Vorsprung.
Mittlerweile ist es Ende August, Adamowicz
hat einen kleinen Park im Nordwesten Danzigs als
Treffpunkt vorgeschlagen, weit entfernt von den
Touristencafés und Bernsteinläden der Altstadt.
Adamowicz wird ihr Haus in Danzig behalten,
auch wenn sie nun in Brüssel lebt. Spätestens alle
sechs Wochen will sie mit den Töchtern herkom-
men, die Großeltern besuchen, in die Kirche ge-
hen, zum Grab ihres Mannes.
Im Park probt ein Orchester für ein Freiluft-
konzert, zwischen akkurat gestutzten Hecken ste-
hen einige Parkbänke. Dorthin will Magdalena
Adamowicz. »Hier, das ist unsere Bank«, sagt sie
und zeigt auf eines der Messingschilder, die auf die
privaten Spender hinweisen. Darauf steht: »Mei-
nen geliebten Mädchen Magdalena, Antonina und
Tereska – Pawel.«
20 Jahre lang war Pawel Adamowicz Bürgermeis-
ter. Die Parkbänke waren seine Initiative, wie so
vieles in Danzig. Als er 1998 zum ersten Mal ge-
wählt wurde, war die Stadt noch vom Kommunis-
mus gezeichnet, grau, an vielen Ecken marode.
Heute strahlt die Altstadt in neuem alten Glanz, die
Weichsel ist untertunnelt, es gibt Shoppingmalls
und ein modernes Fußballstadion. Aber das Selbst-
bewusstsein der Stadt hat andere Wurzeln. Die Ost-
see, der Hafen, der Widerstand gegen den Kom-
munismus und das Erbe der Gewerkschaftsbewe-
gung Solidarność: Magdalena Adamowicz be-
schwört das Bild einer Stadt, die schon immer freier,
offener und toleranter war als andere Regionen Po-
lens. Und die heute für vieles steht, was die national-
konservative Regierung in Warschau infrage stellt.
Polen ist ein gespaltenes Land. Es gibt kaum
einen öffentlichen Bereich, der verschont ist von
dem großen Streit, mit dem vor allem die regieren-
de Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) das Land
vergiftet hat. Nicht die Museen, nicht die Medien,
nicht die Kirche. Nicht einmal der Tod und das
Gedenken. Bei der Trauerfeier für Pawel Adamo-
wicz saßen der Präsident und der Ministerpräsi-
dent, beide Mitglieder der PiS, auf der einen Seite
des Kirchenschiffs, ihre liberalen Vorgänger auf
der anderen.
N
atürlich hätte Magdalena Adamo-
wicz auch für das polnische Parla-
ment, den Sejm, kandidieren kön-
nen. Mitte Oktober wird es neu ge-
wählt. »Aber es wäre sehr schwer,
mein Ziel dort zu verfolgen«, sagt sie. Zu groß ist
der Graben, zu unversöhnlich sind die Akteure.
Nicht einmal während des Kommunismus, sagt
sie, »waren wir so gespalten«. Adamowicz ist in
keiner Partei, aber sie hat auf der Liste der pol-
nischen Opposition für das Europaparlament kan-
didiert. Dennoch könne sie sich vorstellen, auch
mit der PiS zusammenzuarbeiten, sagt sie. Aber
gibt es überhaupt Kontakte? »Nein, bislang nicht.«
Imagine there is no hate, eine Welt ohne Hass – ist
das nicht ziemlich naiv, wenn nicht einmal im eigenen
Land die politischen Gegner miteinander sprechen?
Nachdem Adamowicz ihren Brief veröffent-
licht hatte, haben ihr viele Menschen geschrieben.
Eine amerikanische Abgeordnete lud sie nach
Washington in den Kongress ein. Die Facebook-
Managerin Sheryl Sandberg ließ ihr über eine Be-
kannte ihr Buch Option B zukommen, in dem
Sandberg beschreibt, wie sie selbst aus dem Tod
ihres Mannes neue Kraft geschöpft hat. Auch Ur-
sula von der Leyen hat Adamowicz angesprochen,
am Rande des Europaparlaments. Die designierte
Kommissionschefin wollte wissen, was es mit dem
Button auf sich habe, den die Polin auch im Ple-
num ständig trägt. »Sie hat mir gesagt, dass sich
die neue Kommission mit dem Thema Hassreden
befassen wird.«
Magdalena Adamowicz führt einen Kampf,
den sie allein nicht gewinnen kann. Sie braucht
Gleichgesinnte, Verbündete und hofft darauf, die-
se in der EU zu finden. Ob das naiv sei? Ja, räumt
sie ein, das könne man sagen. »Aber ich glaube
daran.«
A http://www.zeit.de/audio
2 POLITIK 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38