DIE ZEIT: Wer heute sein Erspartes auf einem
Bankkonto deponiert, bekommt praktisch keine
Zinsen mehr. Warum ist das Geld so billig?
Carl Christian von Weizsäcker: Weil es soviel da-
von gibt. Der Zins ist der Preis des Geldes. Wie
jeder Preis ist er das Ergebnis eines Zusammen-
spiels von Angebot und Nachfrage. Das Kapital-
angebot nimmt seit Jahren zu: Die Menschen
sparen immer mehr.
ZEIT: Woran liegt das?
Von Weizsäcker: Der wichtigste Grund: Die Le-
benserwartung steigt. Wenn die Menschen heu-
te in Deutschland aus dem Berufsleben aus-
scheiden, leben sie im Schnitt noch 20 Jahre, sie
müssen also lange von ihren Rücklagen leben.
Zum Vergleich: Vor einem halben Jahrhundert
waren es zehn Jahre und nicht einmal zwei Jah-
re, als das Sozialversicherungswesen Ende des
- Jahrhunderts eingeführt wurde.
ZEIT: Dann gäbe es doch einen einfachen Weg,
um zu höheren Zinsen zu gelangen: Man müsste
nur die Lebensarbeitszeit verlängern.
Von Weizsäcker: Das kann man durchaus so se-
hen, viele meiner Fachkollegen propagieren das
auch. Aber der steigende Lebensstandard gibt
den Menschen hier eine Wahlfreiheit. Wenn
man am Existenzminimum lebt, muss man
möglicherweise bis zum letzten Atemzug arbei-
ten. Wenn der Wohlstand wächst, kann man
sich früher zur Ruhe setzen. Das wollen viele
Menschen auch.
ZEIT: Aus Sicht der Sparer bringt der niedrige
Zins finanzielle Einbußen. Sie sagen dagegen: Er
zeigt an, dass der Wohlstand zugenommen hat?
Von Weizsäcker: Ja. Für die Sparer ist es natürlich
ärgerlich, dass es kaum noch Zinsen gibt. Aber in
den meisten Ländern kann überhaupt nur des-
halb im heutigen Ausmaß gespart werden, weil
das Einkommen gestiegen ist. Es ist nicht mehr
so, dass der gesamte Verdienst für den laufenden
Lebensunterhalt ausgegeben werden muss. Der
Mensch ist nicht mehr im Hier und Jetzt gefan-
gen, sondern kann sich in seinem Verhalten stär-
ker an der Zukunft orientieren.
ZEIT: Gehen wir einen Schritt weiter: Was pas-
siert mit den Geldern der Sparer?
Von Weizsäcker: Damit werden volkswirtschaft-
lich betrachtet Investitionen der Unternehmen
finanziert. Und auch von dieser Seite gerät das
Zinsniveau unter Druck. Heutzutage brauchen
die Unternehmen gar nicht mehr so viel Kapital,
wie die Sparer zurücklegen.
ZEIT: Weshalb ist das so?
Von Weizsäcker: Das wissen wir noch nicht ganz
genau. Vermutlich hat es unter anderem mit der
Digitalisierung zu tun. Die Firmen müssen heute
nicht mehr so große Maschinenparks unterhalten,
um Geld zu verdienen – oft reicht ein Suchalgo-
rithmus. Lagerhallen werden überflüssig, weil die
Lieferketten exakt auf die Fertigung abgestimmt
sind. Und die volkswirtschaftliche Bedeutung des
Dienstleistungssektors steigt. Für Dienstleistun-
gen wird häufig weniger Kapital benötigt als für
die industrielle Produktion.
ZEIT: Ein Friseur braucht nur eine Schere.
Von Weizsäcker: Und ein Anwalt nur einen
Computer. Der österreichische Ökonom Eugen
von Böhm-Bawerk hat im 19. Jahrhundert argu-
mentiert, dass die Arbeitnehmer produktiver
werden und mehr Güter erzeugen, wenn man
ihnen zusätzliches Kapital – zum Beispiel in
Form von mehr Maschinen – an die Hand gibt.
Aber wahrscheinlich sind wir an einem Punkt
angelangt, an dem das nicht mehr der Fall ist.
Wir stellen jedenfalls fest, dass die deutschen
Unternehmen in ihrer Gesamtheit nicht auf
Darlehen angewiesen sind, um ihre Investitio-
nen zu finanzieren. Sie sparen unterm Strich,
genau wie die privaten Haushalte.
ZEIT: Was folgt daraus?
Von Weizsäcker: Dass sich da offenbar etwas in
unserem Wirtschaftsgefüge verschoben hat. Im
Kapitalismus gab traditionell der Kapitalist den
Ton an. Er kontrollierte das knappe Gut: das
Kapital. Arbeit war dagegen reichlich vorhanden.
Heute ist es umgekehrt: Die qualifizierte Arbeit
ist knapp, Kapital gibt es im Überfluss. Deshalb
fällt der Preis des Kapitals, also der Zins.
ZEIT: Für die Zinsen sind aber offiziell die No-
tenbanken zuständig. Die Europäische Zentral-
bank (EZB) wollte an diesem Donnerstag den
Leitzins erneut senken. Sie könnte ihn doch theo-
retisch einfach erhöhen.
Von Weizsäcker: Ich erkläre das gern mit einem
Bild: Die Notenbank schneidert ein Kleid für
einen Körper. Wenn der Körper schmal ist, muss
sie ein enges Kleid schneidern. Wenn er dick ist,
muss sie ein weites Kleid schneidern. Der Körper
ist die Volkswirtschaft, das Kleid ist das von der
Zentralbank gesteuerte Geldsystem. Die Noten-
bank muss die Geldversorgung an den Marktzins
anpassen, sonst kommt es zu Verwerfungen.
ZEIT: Was würde dann passieren?
Von Weizsäcker: Würde sie den Zins anheben,
würde noch weniger investiert, die Wirtschaft
bräche ein, die Arbeitslosigkeit stiege. Die nied-
rigen Zinsen sind das Ergebnis von wirtschaft-
lichen Prozessen. Sie werden nicht wirklich von
der Notenbank gemacht. Sie ist gewissermaßen
nur ein ausführendes Organ.
ZEIT: Also ist der vermeintlich so mächtige Zen-
tralbanchef Mario Draghi in Wahrheit ein Ge-
triebener?
Von Weizsäcker: Sie sind alle Getriebene: Mario
Draghi, Jerome Powell von der amerikanischen
Notenbank Federal Reserve, Haruhiko Kuroda
von der Bank von Japan. Sie müssen ihre Politik
an die ökonomischen Realitäten anpassen.
ZEIT: Wer kann diese Realitäten beeinflussen?
Von Weizsäcker: Der Staat.
ZEIT: Indem er zum Beispiel staatlich garantierte
Mindestzinsen für Sparer einführt, wie es einige
Unionspolitiker vorgeschlagen haben?
Von Weizäcker: Nein. Warum sollte die Allge-
meinheit die Sparer subventionieren, wo schon so
viel gespart wird?
ZEIT: Wie dann?
Von Weizsäcker: Die öffentliche Hand müsste
neue Kredite aufnehmen. Dadurch würde sich
die Nachfrage nach Kapital erhöhen. Das wach-
sende Kapitalangebot würde absorbiert und die
Zinsen würden wieder steigen. Davon würden
die Sparer profitieren.
ZEIT: Das klingt nach einer staatlichen Nachfra-
gepolitik, wie sie der britische Ökonom John
Maynard Keynes empfohlen hat.
Von Weizsäcker: Nicht ganz. Keynes ging es vor
allem um die Stabilisierung der Konjunktur. Für
ihn sollte der Staat in schlechten Zeiten Kredite
aufnehmen, um die Wirtschaft zu stützen. In den
guten Zeiten sollten die Darlehen wieder zurück-
gezahlt werden. Heute dagegen wird strukturell zu
viel gespart und zu wenig investiert. Deshalb muss
der Staat dauerhaft mehr Schulden machen.
ZEIT: Das widerspricht allen politischen Grund-
sätzen der vergangenen Jahre. Die Botschaft war:
Der Staat ertrinkt in Schulden, der Haushalt läuft
aus dem Ruder. Sie sagen: Spielt keine Rolle?
Von Weizsäcker: Das sage ich nicht. Man darf es
auch nicht übertreiben, weil die Zinsen sonst zu
sehr steigen. Das wäre dann schlecht für die Wirt-
schaft, weil sich dann die Kredite für die privaten
Unternehmen zu sehr verteuern und diese dann
weniger investieren. Sie kennen die Geschichte
von Odysseus? Er musste sein Schiff zwischen
zwei Meeresungeheuern – Skylla und Charybdis
- hindurchsteuern. Da befinden wir uns.
ZEIT: Nicht Mario Draghi, sondern Olaf Scholz
macht den Zins?
Von Weizsäcker: Zusammen mit seinen Kollegen
in den anderen Staaten. So könnte man das zu-
gespitzt sagen. Besser formuliert man es so: Die
Staatsschulden sind die Steuergröße. Der Staat
regelt die Kreditaufnahme so, dass die Zinsen
nicht zu sehr abrutschen, andererseits nicht zu
stark steigen – und das bei Vollbeschäftigung.
ZEIT: Sie trauen der Politik ziemlich viel zu.
Von Weizsäcker: Wirtschaftspolitik und Finanz-
politik sind immer schon Lernprozesse gewesen.
Wir müssen davon wegkommen, Staatsschulden
nur als Last zu betrachten. Eine staatliche Renten-
zusage erhöht die implizite staatliche Verschul-
dung, der Staat muss das Geld ja irgendwann aus-
zahlen. Für die Bürger ist das Anrecht auf eine
künftige Rentenzahlung aber Vermögen, über das
sie im Alter verfügen können. Das private Ver-
mögen in Europa besteht heute etwa zur Hälfte
aus solchen Ansprüchen an den Staat. Das bedeu-
tet umgekehrt: Wenn der Staat keine Schulden
mehr hätte, wären die Menschen nur halb so reich.
ZEIT: In Deutschland gibt es eine Schulden-
bremse im Grundgesetz.
Von Weizsäcker: Ich halte die Schuldenbremse
für veraltet. Ich bin gegen eine exzessive Staatsver-
schuldung. In ihrer jetzigen Form aber schränkt
das Regelwerk den finanzpolitischen Handlungs-
spielraum zu sehr ein.
ZEIT: Nehmen wir an, die Schuldenbremse wür-
de abgeschafft. Wofür sollte denn der deutsche
Staat Ihrer Meinung nach Geld ausgeben?
Von Weizsäcker: Ich glaube wir brauchen in
Deutschland eine Mischung aus höheren Ausga-
ben für die Infrastruktur – also zum Beispiel für
die Modernisierung von Brücken, Straßen und
Schulen – und eine steuerliche Entlastung der
Bürger. Man könnte zum Beispiel die Mehrwert-
steuer senken. Davon würden besonders Men-
schen mit niedrigem Verdienst profitieren, die
einen großen Teil ihres Einkommens für den
Konsum verwenden.
ZEIT: Für die meisten Menschen klingt das alles
gewöhnungsbedürftig. Wie würden Sie Ihre Stel-
lung unter den Ökonomenkollegen beschreiben?
Von Weizsäcker: Ich habe meine Thesen erstmals
vor zehn Jahren entwickelt. Inzwischen sehen das
viele Ökonomen ähnlich. Der frühere amerika-
nische Finanzminister Larry Summers diagnosti-
ziert ebenfalls einen Ersparnisüberschuss. Er
warnt vor einer Stagnation. Ich verwende den
Begriff nicht gern. Er ist negativ konnotiert.
Wenn der Staat seine Rolle annimmt, muss es
keine Stagnation geben.
ZEIT: Interessanterweise sind die Staatsschulden
aber gerade in den vergangenen Jahren deutlich
gestiegen – und zwar weltweit. Wenn Ihr Denk-
ansatz richtig wäre, müssten die Zinsen gestiegen
sein. Sie sind aber gesunken.
Von Weizäcker: Der Vergleich hinkt. Ich gebe
Ihnen recht: Wenn man die Schuldenquoten
heute mit den Quoten der Sechziger- oder Siebzi-
gerjahre vergleicht, denkt man sich, dass die
Schulden zu hoch sind, dass sie sinken müssen.
Aber das ist der falsche Maßstab. Mein Punkt ist
ja gerade, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue
Lage haben. Es gibt ein Überangebot an Kapital.
Darauf muss der Staat reagieren.
Das Gespräch führte Mark Schieritz
Foto:
Das Geld ist so billig, weil wir zu viel sparen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler
Carl Christian von Weizsäcker. Nur wenn der Staat mehr Schulden mache, gäbe es wieder Zinsen
»Sie sind alle Getriebene«
Carl Christian von Weizsäcker arbeitet
am Max-Planck-Institut zur Erforschung
von Gemeinschaftsgütern in Köln.
Sein neues Buch »Sparen und Investieren
im 21. Jahrhundert« ist soeben erschienen
ZEIT-Grafik: Doreen Borsutzki; Foto: Frank Beer (u.)
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