Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

I


ch hasse euch! Verpiss dich! Fotze! – Worte
einer Neunjährigen. Sie heißt Benni, steht
schreiend auf dem Hof eines Kinderheims.
Allein, weil alle anderen aus Angst vor ihr ins
Haus gerannt sind. Jetzt schmeißt Benni mit
allem, was sie zu greifen bekommt. Ein Bobbycar
fliegt gegen die Tür. Noch eins gegen das Fenster.
»Das ist Sicherheitsglas«, sagt der Erzieher, der
hinter der Scheibe steht. Noch ein Plastikauto, die
Scheibe zerspringt.
Benni, blonde Haare, Jacke in Pink, das Gesicht
rot vor Wut, ist die Hauptfigur im Film System-
sprenger, der nächste Woche in die Kinos kommt.
Eine Geschichte über ein Kind, mit dem keiner mehr
klarkommt. Weggestoßen, heimatlos, aber mit der
Energie eines ausbrechenden Vulkans.
Benni ist eine Kunstfigur. Aber Kinder wie
Benni sind real. Kinder, die wild und nicht zu
bändigen sind, nicht bereit, sich Systemen zu
fügen – solche Kinder gehören zu den alltäglichen
Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe
in Deutschland. Schätzungen gehen davon aus,
dass der Anteil von Systemsprengern innerhalb der
stationären Jugendhilfe, also in Heimen und be-
treuten Wohngruppen, bei fünf bis sieben Prozent
liegt, exakte Zahlen gibt es nicht. Eine kleine
Gruppe nur, die aber so dynamisch und un-
berechenbar agiert, dass sie die Fachkräfte in den
Jugendämtern und Einrichtungen über die Maßen
beschäftigt – und nicht selten als »hilflose Helfer«
dastehen lässt, wie Menno Baumann sagt, Profes-
sor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fach-
hochschule Düsseldorf. Er hat die Hamburger
Regisseurin Nora Fingscheidt in ihrer jahrelangen
Recherche für den Film und beim Schreiben des
Drehbuchs beraten. Nun ist Fingscheidts Kino-
spielfilmdebüt im Rennen um eine Oscar-Nomi-
nierung für den besten internationalen Film.
Konrad Gutemanns Arbeit im Jugendamt Ravens-
burg wird nicht für Preise nominiert. Seit über
20 Jahren ist er zuständig für den Schutz von Kindern
und Jugendlichen in einem Landkreis mit 280.000
Einwohnern. In seinem Aktenschrank reihen sich die
Fälle aneinander, 30 Heimunterbringungen, vier bis
fünf der »richtig harten Fälle«. Gutemann nennt sie
»Grenzgänger«. »Weil sie uns Erwachsene an unsere
Grenzen bringen, einfach nicht einzufangen sind.«
Er weiß, wie komplex die Geschichten dieser
Jugendlichen sind. Die Kindheit früh traumatisch,
oft schwierige Trennungen der Eltern, häufig Gewalt,
Missbrauch, Verletzungen, die nie therapiert wurden.
Kein Fall ist wie der andere. »Der Ursprung liegt
meist in einer massiven Beziehungsstörung in der
Familie.« Kein Halt mehr zu Hause, auffälliges Ver-
halten in der Schule, Schlägereien am Nachmittag.
Und bald sagen schon alle: Weg!, Raus!, Du störst! –
die eigene Familie, die Lehrer, die Kinderheime, die


Polizei, die Psychiatrie. Ratlosigkeit überall. »Keiner
will diese Kinder haben«, sagt Gutemann. »Aber wir
können die doch nicht wegsperren!«
Die Geschichte von Benni wirft Fragen auf, die
in unserer auf Regeln, Leistung und Selbstoptimie-
rung ausgerichteten Wohlstandsgesellschaft gerne
verdrängt werden: Wie gehen wir mit Kindern um,
die sich in kein Raster pressen lassen? Mit deren Für-
sorge alle überfordert sind? Warum akzeptieren wir,
dass diese Kinder wegsortiert werden, dass wir sie
einfach aus unserer Wahrnehmung schieben? Der
Film konfrontiert mit unangenehmen Realitäten wie
etwa der Existenz von Kinder- und Jugendpsychia-
trien, in denen schon Neunjährige vollgepumpt
werden mit Medikamenten, damit sie wieder funk-
tionieren, schnell entlassen werden können, zurück
ins Kinderheim.
Im Münchner Stadtteil Au, nahe am Mariahilf-
platz, wo unter einer großen Kirche Biobäcker
Zwetschgenkuchen verkaufen, stößt man hinter dem
Polizeirevier auf ein kleines himmelblau gestrichenes
Haus, das direkt am Auer Mühlbach steht. Drinnen
Stille, alle Türen geschlossen. Die Bewohner liegen
noch in den Betten. In Bayern sind Ferien. Vor elf
wird niemand geweckt. Acht Mädchen und Jungen
zwischen 14 und 18 Jahren leben »in der Flex«, wie
die Wohngruppe heißt. Träger ist der Verein hpkj
(für: heilpädagogisch-psychotherapeutische Kinder-
und Jugendhilfe). Es sind Jugendliche, die nicht mehr
zur Schule gehen, drogenabhängig sind, sich selbst
verletzen, die als »Intensivstraftäter« gelten, direkt aus
der Entgiftung oder der Psychiatrie kommen und aus
Heimen, aus denen sie rausgeschmissen wurden.
Michael Wantschura, der zum Aufsichtsrat von hpkj
gehört, schaut aus dem Fenster, zeigt auf den kleinen
Bach und sagt: »Da liegen etliche Teller von uns drin.
Die fliegen hier schon mal aus dem Fenster, wenn die
Wut besonders groß ist.«
In der Münchner Jugendhilfe gelten Wantschura
und sein Team oft als letzte Rettung, weil sie keine
Angst haben vor Fällen, die kein anderes Heim mehr
aufnimmt. Moritz etwa, 17, seit dem Kindergarten
auffällig, gewalttätig gegen die Mutter, gegen Mit-
schüler. Im Alter von 14 Jahren war Moritz schon in
14 Einrichtungen, deutschlandweit. Der Versuch,
ihn zurück in die Familie zu integrieren, scheiterte:
Er drohte mit Suizid, zerstörte die gesamte Woh-
nungseinrichtung, wurde spielsüchtig. Also wieder
raus aus der Familie, rein ins Heim. Aber in welches?
Auf 50 Anfragen folgten 50 Absagen.
Der Träger hpkj nahm ihn schließlich auf. In eine
Wohnung unweit der Flex. Drei Pädagogen sind im
Wechsel rund um die Uhr für Moritz da, eine Sicher-
heitsfirma 24 Stunden vor Ort, eine der kosteninten-
sivsten Maßnahmen, die die Jugendhilfe kennt. Der
Junge wütet weiter, tritt Türen ein, schikaniert die
Nachbarn. Manchmal, sagt Wantschura, könne auch

er nicht mehr und schreie zurück, wenn Moritz seiner
unbändigen Verzweiflung freien Lauf lasse.
Von den 180 Kindern und Jugendlichen, die hpkj
in verschiedenen Einrichtungen in München betreut,
sind rund 18, die Wantschura als Systemsprenger
bezeichnen würde. Ein Name, der für ihn für das
Versagen des Systems steht, nicht für das der Jugend-
lichen. Bei hpkj versucht man, auch diese Fälle zu
halten. »Wir sagen ihnen, wir wissen, dass du die

Schule schwänzt, wir wissen, dass du Drogen nimmst.
Wir schmeißen dich trotzdem nicht raus.«
Wer hier arbeitet, muss Ausdauer zeigen und
manchmal lange warten, bis sich ein Heranwach-
sender ändert. Es geht darum, auszuhalten, was der
Rest der Gesellschaft nicht mehr aushält. Diese
Biografien seien von Beziehungsabbrüchen ge-
prägt, sagt Wantschura, von Erfahrungen der Ent-
wertung: »Dabei ist für die Kinder und Jugend-
lichen nichts wichtiger als jemand, der an sie
glaubt, und eine angstfreie Umgebung, in der sie
zur Ruhe kommen und fragen können: Was will
ich denn eigentlich noch vom Leben?« Erst dann
könnten die Sozialpädagogen anfangen zu arbeiten.

Wenn die Jugendlichen bei der Flex Geschirr aus
dem Fenster schmeißen, Drogen verstecken – dann
wird das länger toleriert als anderswo. Weil es Teil der
Haltung ist, mit der man hier arbeitet: anzuerkennen,
dass es anstrengend ist, Heranwachsende zu betreuen,
die den Boden unter den Füßen verloren haben, dass
es keine einfachen Lösungen gibt.
In der deutschen Jugendhilfe hängt viel vom
Zufall ab. Vom Konzept eines Trägers, von der Fi-
nanzausstattung einer Kommune, von der Wohn-
lage eines Kindes, weil die entscheidet, welche
Einrichtungen überhaupt infrage kommen. Ein
Hilfebedürftiger in Gelsenkirchen bekommt ein
anderes Angebot als einer in Kaiserslautern. Aber
überall wächst der Bedarf. Zwischen 2006 und
2016 hat sich die Anzahl der Heime und Wohn-
gruppen von 6623 auf 12.390 fast verdoppelt.
»Wir wissen wenig darüber, wie all diese Ein-
richtungen arbeiten und wie sie mit sehr schwieri-
gen Kindern klarkommen«, sagt Heinz Kindler,
der am Deutschen Jugendinstitut in München die
Fachgruppe Familienhilfe und Kinderschutz leitet.
Es gebe kaum aktuelle Forschung zum Verlauf von
Fällen, zum Scheitern von »Jugendhilfekarrieren«.
Auch nicht darüber, wie es den Menschen später
geht, wenn kein Jugendamt mehr über sie wacht.
Die Fachhochschulen, wo die meisten Sozialpäda-
gogen und Sozialarbeiter ausgebildet werden, ha-
ben wenig Forschungskompetenz, und die Univer-
sitäten setzen ihre Schwerpunkte anders. Kindler
sagt: »Die Jugendhilfe wird in Deutschland nicht
nach wissenschaftlichen Kriterien betrieben. Das
führt zu einem Mischmasch an Konzepten, von
denen man nicht weiß, ob sie wirken.«
Und es führt zur Überforderung der Fachkräfte,
die bei jedem Fall neu überlegen müssen, welche
Hilfe passen könnte, ohne sicher zu sein, ob sie mit
ihrer Einschätzung richtig liegen. Nicht nur die
Ämter, auch die Einrichtungen der Jugendhilfe
sind Orte permanenter Überlastung. Die Fluktua-
tion ist groß, verlässliche Bindungen zu Heim-
kindern sind fast unmöglich. Und gerade System-
sprenger, sagt Kindler, verlangen ihren Betreuern
alles ab: »Wenn ein Kind schreit ›Du Arsch!‹ und
immer ablehnend reagiert, wirkt das auf die Bin-
dungsbereitschaft der Erzieher zurück.« Niemand
wisse vorher, ob sich in einer Einrichtung jemand
finde, der überhaupt einen Zugang zu dem Kind
entwickeln kann.
In den meisten Heimen gehe es um eine Art
»Regelsozialisation«, sagt Kindler. Ein System sprenger
aber habe an kaum etwas mehr Spaß als am Regel-
bruch. »Der weiß, was zu tun ist, um die Maschinerie
in Gang zu halten. Verwüstung, Gewalt. Darauf folgt
mit Sicherheit der Rausschmiss.« Andere Heime
lehnen dann dankend ab. Am Ende ist niemand mehr
da, der noch an Rettung glaubt. Laut Kinder- und

Jugendhilfereport 2018 werden nur 47 Prozent aller
Heimerziehungsmaßnahmen planmäßig beendet.
»Und jeder Bruch führt zu einer weiteren Intensi-
vierung der Probleme«, sagt Kindler. Dabei zeigen
zumindest ältere Untersuchungen, dass Jugendhilfe
wirken kann. Die Jugendhilfe-Effekte-Studie kam
2007 zu dem Schluss, dass in 70 Prozent aller unter-
suchten Fälle trotz problematischer Ausgangslagen
eine Verbesserung erreicht werden konnte.
Im Ravensburger Jugendamt sagt Konrad Gute-
mann: »Es gibt immer eine Lösung.« Immer häufiger
sind das für ihn die Eltern. Ausgerechnet die? Sind
nicht sie in der Regel der Ursprung für das antisoziale,
aggressive Verhalten ihrer Kinder? Man brauche die
Eltern als »Perspektivgeber«, sagt Gutemann, weil sie
oft die Einzigen seien, auf die die Kinder noch rea-
gierten. Und zu denen die Kinder zurückwollen.
Michael Biene ist der Mann, der Jugendämter in
ganz Deutschland darin ermutigt, sich heranzuwagen
an die oft stark belasteten, häufig auch überforderten
Eltern. In Rollenspielen vermittelt der Leiter des In-
stituts für Systemische Interaktionstherapie in Bern
den Mitarbeitern Vorgehensweisen, um Eltern so
anzusprechen, dass diese wieder aktiv werden. Es gebe
keine Garantie, sagt Biene, dass die Eltern, die sich
oft als Versager fühlen, kooperieren und dass dies die
Entwicklung des Kindes ändert. Aber wenn es
gelinge, geschehe Erstaunliches. Biene erzählt von
dieser Mutter: Ihr Sohn war in drei Berliner Psy-
chiatrien, erhielt eine Reihe weiterer Hilfen. Nichts
funktionierte, immer wurde es nur schlimmer. Der
Junge galt als unbeschulbar, die Prognosen gingen
von einer langen Jugendhilfekarriere aus.
Als Biene die Mutter kennenlernte, konnte sie
kaum sprechen, so viel weinte sie. Aber sie ließ sich
ein auf das für sie zugeschnittene Hilfsangebot. Der
Junge ging nach einigen Monaten wieder zur Schule,
wurde einer der Besten in seiner Klasse. »Solche posi-
tiven Verläufe sind nicht die Regel, aber auch nicht
unwahrscheinlich«, sagt Biene. Gelinge es, die Eltern
zu aktivieren, seien sie die wirksamsten Partner.
Heranwachsende, die über viele Jahre im System
umherirren, verlassen die Heime, Wohngruppen oder
Pflegefamilien oft ohne Schulabschluss und sind nach
der Volljährigkeit häufig schnell wieder auf staatliche
Unterstützung angewiesen. Auch deshalb der Ver-
such, die Väter und Mütter zurückzuholen aus ihrer
Lethargie. Wieder den Eltern zu vertrauen sei manch-
mal ein Risiko, sagt Konrad Gutemann. Aber so-
lange das Sorgerecht bei ihnen liege, »haben sie die
Verantwortung, nicht wir als Amt«.
Im Film rennt Bennis Mutter angesichts der Auf-
forderung, ihre Tochter wieder zu sich zu nehmen,
hilflos weg. Die Frau vom Jugendamt bricht danach
heulend auf dem Flur des Kinderheims zusammen.

A http://www.zeit.deeaudio

Eine Szene aus
dem Kinofilm
»Systemsprenger«,
in der die
neun jährige
Haupt figur Benni
(Helena Zengel)
aus Leibeskräften
schreit

Unbändige Wut


Kinder, die keiner will. Und mit denen niemand fertig wird. So eine ist Benni aus dem Kinofilm »Systemsprenger«.


Aber in der Realität gibt es Jugendämter und Erzieher, die nicht kapitulieren VON JEANNETTE OTTO


ERZIEHUNG


Quellen


Ein Gespräch mit der Regisseurin
Nora Fingscheidt über ihre Recherchen
in Kinderheimen und Psychiatrien

Das Buch »Kinder, die Systeme sprengen«
(zwei Bände) von Menno Baumann,
Professor für Intensivpädagogik

Ein Aufsatz der Pädagogin Susanne Siebholz
über die schulische Situation von Kindern
in Heimen im Journal »Soziale Passagen«

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie bei ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wg/2019-38

2006 2010

Ausgaben für Hilfen zur Erziehung,
(Familienhilfe ambulant) und
Unterbringung in Heimen

Heimerziehungsfälle, die
nicht planmäßig beendet werden

6 Mrd. € 10 Mrd. €

53 %


Wenn das


System versagt


Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures

2006 2010

Ausgaben für Hilfen zur Erziehung,
(Familienhilfe ambulant) und
Unterbringung in Heimen

6 Mrd. € 10 Mrd. €


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 WISSEN 35

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