Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

UMWELT


»Ich darf meinen Mund nicht halten,


wenn Gefahr im Verzug ist«


Sabine Gabrysch ist Deutschlands erste Professorin für Klimawandel und Gesundheit. Besuch bei einer Ärztin, die globale Diagnosen stellt VON CHRISTIANE GREFE


D


er Apfel ist ein beliebtes Sym-
bol, vom biblischen Paradies
bis zur Entscheidung des
Paris. Die rotbackige Sorte
Jakob-Fischer, die Sabine
Gabrysch aus dem Garten
ihres schwäbischen Groß-
vaters mitgebracht hat, ist robust, vitaminreich, ein
Beitrag zur biologischen Vielfalt. Er steht für ihr
großes Ziel: »gesunde Menschen auf einem gesun-
den Planeten«. Der perfekte Snack für Deutsch-
lands erste Professorin, die Zusammenhänge zwi-
schen Klimawandel und Gesundheit erforscht.
Noch arbeitet die Medizinerin und Epidemio-
login in Heidelberg, entsprechend dicht ist ihr
Terminkalender in Berlin getaktet, mit Planungs-
treffen in der Charité und dem Potsdam-Institut
für Klimafolgenforschung (PIK), mit Kongress-
besuchen und Interviews. Sie sitzt am Küchentisch
einer befreundeten Kollegin im Wedding, und sie
klappt den Laptop zu, um die Frage zu beantwor-
ten: Wieso gibt es so eine Professur erst jetzt?
Schließlich liegt auf der Hand, dass steigende
Temperaturen Hitzestress und mehr Herz-Kreislauf-
Erkrankungen verursachen könnten. Und womöglich
gibt es in Europa bald neue krankheitsübertragende
Mückenarten. Sollten sich also nicht mehr Mediziner
für den Klimawandel interessieren? Die 43-Jährige
stellt die Gegenfrage: »Vielleicht sind solche Aus-
wirkungen einfach zu offensichtlich?« Immerhin
arbeiteten einige Mediziner längst an Themen wie
kommunalen Hitzeplänen für Krankenhäuser.

Gabrysch hingegen denkt weiter. Und sie denkt
größer. Ihr Interesse gilt den globalen Dimensio-
nen, die Gesundheit hat. Deren Ungerechtigkei-
ten würden übersehen, bis heute. Und mit fort-
schreitender Erderwärmung spitzten sie sich zu.
Gemeinsam mit ihrem Forschungsteam hat sie in
Bangladesch beobachtet, dass Menschen nicht mehr
ausreichend zu essen haben, wenn die Monsun-
Saison zu früh einsetzt. Schlechte Ernten treffen be-
sonders jene, die wenig haben. Wie wirken sich solche
existenziellen Unwägbarkeiten auf die körperliche
und seelische Gesundheit aus? Wie begegnen die
Menschen ihrer Not? Jetzt kommt Gabrysch in Fahrt,
unterstützt den Redefluss leidenschaftlich mit Arm-
rudern: Das wolle sie erforschen! Vor allem: »Wie
kann man Betroffene wappnen? Welche Früchte und
Anbauweisen trotzen Wetterextremen besser und
beugen drohender Mangelernährung vor?«
In solchen Analysen gilt es, komplexe Felder zu
verbinden: Klimamodelle, Agrar- und Landschafts-
informationen, Ernährungskulturen, Gesundheits-
daten und ihre Deutung – alles interdisziplinär und
spezifisch regional. Das ist extrem aufwendig und
anspruchsvoll. Auch deshalb gebe es entsprechende
Studien bislang kaum: »Lieber wird an Tabletten ge-
forscht. Die sind überall gleich.«
Das Defizit will Gabrysch gemeinsam mit den
Agrarökonomen vom PIK in Potsdam aufholen.
Dessen Direktor Ottmar Edenhofer führt seit Jah-
ren Gespräche mit Medizinern vom Institut für
Public Health der Berliner Charité. Doch erst
dauerte es, zwei Disziplinen und Institutionen zu-

sammenzuführen. Dann musste man die geeignete
Kandidatin finden.
Wer sonst, fragt man sich, wenn die erfolgreiche
Bewerberin ihren Werdegang schildert. Aufgewach-
sen ist sie in den umweltbewegten Achtzigern mit
Waldsterben und Tschernobyl. Sie lacht, als sie er-
zählt, wie sie als Kind ihren Kassettenrekorder mit
einer Zeitschaltuhr ausstattete, um keine Umwelt-
sendung im Radio zu verpassen. Sie fuhr allein aus
ihrer Heimatstadt Kornwestheim zum Natur-Kinder-
gipfel nach Stuttgart, um Öko-Größen wie die Affen-

forscherin Jane Goodall zu treffen. Oder den Um-
weltaktivisten José Lutzenberger, der in Brasilien für
den Regenwald und eine auf- statt abbauende Land-
wirtschaft stritt: »Traurig, dass sich solche Lösungs-
ansätze jahrzehntelang nicht durchgesetzt haben.«
Die Medizin war für Gabrysch nur eine von vielen
Möglichkeiten, für eine bessere Welt zu arbeiten.
Nach dem Studium in Tübingen, Heidelberg und
Providence in den USA stieß sie als Ärztin in Schwe-
den auf die öffentliche Gesundheitsprävention:
Public Health. Krankheitsursachen an die Wurzel
gehen, um vorbeugen zu können, über den Patienten
hinaus. Das war ihr Ding. An der London School of
Hygiene & Tropical Medicine erweiterte sich ihr
Blick auf Global Health. Danach kehrte sie zurück
nach Heidelberg, an eine der wenigen deutschen Uni-
versitäten, die hierzu forschen.
Dass globale Gesundheit so »stiefmütterlich ver-
nachlässigt« wurde, ist vielleicht der Hauptgrund,
warum die erste Professur für Klimawandel und Ge-
sundheit erst jetzt etabliert wurde. Die Pervertierung
der »Volksgesundheit« durch die Nazis dürfte die
staatliche Präventionspolitik diskreditiert haben, ver-
mutet Gabrysch.
Ihr bisher größtes Forschungsvorhaben steht kurz
vor dem Abschluss. Im Nordosten Bangladeschs
untersucht ihr Team seit fünf Jahren, inwieweit Man-
gelernährung bei Kleinkindern verhindert werden
kann, wenn Mütter neue Techniken lernen, Obst
und Gemüse selbst anzubauen oder Hühner zu hal-
ten. Für das transdisziplinäre Projekt bekam die Ini-
tiatorin den »Preis für mutige Wissenschaft«.

Im neuen Job will sie den Gedanken einer
»planetaren Gesundheit« etablieren. Wie der Brite
James Lovelock in seiner Gaia-Theorie sieht
Gabrysch den Menschen als Teil des Gesamtorganis-
mus Erde: »Mit der Zerstörung von Natur und Le-
bensgrundlagen zerstören wir uns letztendlich selbst.«
Entsprechend könne der Klimaschutz positive Ne-
benwirkungen für Mensch, Tier und Pflanzen ent-
falten: Ohne Kohlekraftwerke ist die Luft frischer.
Wer radelt, kriegt mehr Bewegung. Entschleunigung
schärft die Sinne. In der Sprache der Medizin formu-
liert: Wenn die Gesellschaft ihre Sucht nach fossilen
Brennstoffen aufgibt, wird sie gesünder. Über solche
Zusammenhänge kann die Epidemiologin aufklären


  • entscheiden müssen Regierungen. Was die Frage
    aufwirft: Wie politisch muss oder darf sie in ihrer
    neuen Rolle sein? Um die Glaubwürdigkeit der For-
    schung zu schützen, äußere sie sich als Wissenschaft-
    lerin »nur zu Themen innerhalb meiner Kompetenz«.
    Ebenso ist für die Ärztin Gabrysch klar: »Ich darf
    meinen Mund nicht halten, wenn Gefahr im Verzug
    ist.« So engagiert sie sich bei den Scientists for Futu-
    re und hat 2018 die Deutsche Allianz für Klima und
    Gesundheit (KLUG) mitgegründet. Diese mobilisiert
    Ärztinnen und Pfleger gegen die »größte Gefährdung
    der Gesundheit im 21. Jahrhundert«, wie die Fach-
    zeitschrift The Lancet die Erderwärmung genannt hat.
    »Die Resonanz ist enorm«, sagt Gabrysch. KLUG
    zeige bereits Wirkung; die Allianz habe mit dafür
    gesorgt, dass der Deutsche Ärztetag sich im kom-
    menden Jahr ein zeitgemäßes Schwerpunktthema
    vorgenommen habe: den Klimawandel.


Sabine Gabrysch forschte in England, Schweden,
den USA – und ist jetzt an der Berliner Charité

Foto (Ausschnitt): Jochen Sand


36 WISSEN 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38


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Umweltzerstörung, soziale
Ungleichheit und die Ausbeutung
von Mensch und Natur: Wie kaum
ein anderer Forscher seiner Zeit
sah Alexander von Humboldt
diese Phänomene in ihren glo-
balen Zusammenhängen. Und
der Mitbegründer der modernen
Geographie beließ es nicht bei
der Beobachtung, prangerte
Sklaverei und Kolonialismus
an, machte sich stark für Demo-
kratie und Menschenrechte.
Zu seinem 250. Geburtstag
diskutierten Vertreter aus
Politik, Wissenschaft, Wirtschaft
und Umweltbewegung in Berlin
darüber, welchen Beitrag
Wissenschaft angesichts der
Krisen von Demokratie und
Umwelt heute leisten kann
und sollte.

Soll sich Wissenschaft einmischen?
Das wollten die Moderatoren im
Vorfeld vom Publikum der Podiums-
diskussion im Fritz-Reuter-Saal der
Humboldt-Universität wissen. Das
Ergebnis fiel eindeutig aus: 179
stimmten dafür, nur neun der Be-
fragten dagegen. »Wissenschaftler
unterschiedlichster Bereiche haben

angesichts der globalen Entwicklung
die gesellschaftliche Verpflichtung,
sich einzumischen«, forderte auch
der Unternehmer und Wissenschafts-
mäzen Erck Rickmers. Um die
Erforschung des gesellschaftlichen
Wandels voranzubringen, hat der
Hamburger Reeder 2018 die Stiftung
Humanities & Social Change gegrün-
det, die Forschungszentren in Cam-
bridge, Venedig, Santa Barbara und
auch an der HU Berlin unterstützt.
Diese Plattformen sollen Rickmers
zufolge den interdisziplinären Aus-
tausch fördern und zugleich Wis-
senschaftler mit Vertretern aus
Wirtschaft, Kultur und Politik zusam-
menbringen. Ob denn Politik ange-
sichts des Klimawandels überhaupt
auf dem Stand der Wissenschaft
sei, wollten die Moderatoren von
Cem Özdemir wissen. Die Fakten
seien lange bekannt, so der Bundes-
tagsabgeordnete der Grünen: »Wir
haben kein Erkenntnisproblem, wir
haben ein Umsetzungsproblem.« Da-
bei könne Deutschland als viert-
größte Volkswirtschaft eine Vorbild-
funktion übernehmen. »Wir haben
alle Voraussetzungen, um zu zeigen,
dass ein ökologisch verträglicher
Lebensstil sich mit einem hohen Maß

an Lebensqualität, Arbeitsplätzen und
Wirtschaftlichkeit verbinden lässt.«

Mehr als Faktenlieferanten

Es gebe »kein historisches Vorbild
für eine geplante Transformation in
Richtung Nachhaltigkeit«, antwor-
tete die Soziologin Anita Engels auf
die Frage, warum denn das Szenario
des Klimawandels die Gesellschaft
nicht bereits stärker verändert habe.
Nicht zuletzt durch Fridays for Future
sei die Ernsthaftigkeit des Problems
im gesellschaftlichen Bewusstsein
angekommen, so die Klimaforscherin
der Universität Hamburg. »Die schwie-
rige Frage ist nun: Was machen wir
jetzt?« Die Antworten lägen doch
auf der Hand, hielt Umweltaktivistin
Nora Milena Vehling dagegen: mehr
Fahrradwege und weniger Autos in
den Städten. »Und wer sich weiter
SUVs oder Plastikzahnbürsten leis-
ten will, muss dann auch für die öko-
logischen und sozialen Kosten zah-
len.« Sicher seien einige Maßnahmen
naheliegend, erwiderte Engels. »Aber
Netto-Null-Emissionen am Ende des
Jahrhunderts sind eine ganz andere
Größenordnung. Gerade Großemit-
tenten wie die Metallindustrie müs-
sen sich komplett neu erfinden.«

Wissenschaft könne Politik bei der
nötigen Weichenstellung unterstüt-
zen und etwa durch Folgenabschät-
zung die möglichen Effekte und Kon-
sequenzen der viel diskutierten CO 2 -
Steuer aufzeigen. Denn Wissenschaft
sei ja nicht nur in der Lage, Politik mit
Fakten zu versorgen, sondern könne
zudem mit Einordnungen und Be-
wertungen beraten, betonte auch
Rahel Jaeggi, Professorin für Prakti-
sche Philosophie und Leiterin des Cen-
ter for Humanities & Social Change
der HU Berlin.

Wie sich Wissenschaft
verständlich macht

Aktivistin Vehling setzt vor allem auf
den direkten Weg der digitalen Ka-
näle. Mit ihren Mitstreiterinnen und
Mitstreitern von Fashion Revolution
macht sie die Produktionsbedingun-
gen von Kleidung transparent. »Wir
machen aus Wissenschaft Instagram-
Bilder«, so Vehling, die auch bei
Fridays for Future aktiv ist. Eine
direktere und verständlichere An-
sprache der Wissenschaft wünschte
sich auch Unternehmer Rickmers.
»Wissenschaft muss aus ihrem inzes-
tuösen Diskurs und Sprachjargon
ausbrechen, um ihre Erkenntnisse in

einer Art und Weise zu übersetzen,
die dann auch praktisch relevant ist
und sozialen Wandel vorantreiben
kann.« Auch Cem Özdemir plädierte
dafür, dass sich Wissenschaft nicht
»elitär in den Elfenbeinturm zurück-
zieht«, sondern sich wie schon Ale-
xander von Humboldt an die breite
Gesellschaft wendet »und dabei
auch Leute anspricht, die von den Er-
kenntnissen nicht von vorneherein
überzeugt sind«. Ganz ohne den El-
fenbeinturm der wissenschaftlichen
Grundlagenforschung gehe es aller-
dings nicht, erwiderte Philosophin
Jaeggi. Wissenschaft müsse auch
»handlungsentlastet« forschen und
nachdenken dürfen, denn nur so ent-
stünden Lösungsansätze für Fragen,
die vorher gar nicht gestellt wurden.
Es sei auch nicht damit getan, dass
sich Forscher einfach »anders aus-
drücken« oder an größere Medien
wenden, um ihre Erkenntnisse plaka-
tiv an die Öffentlichkeit zu bringen.
Der entscheidende Hebel für die
Philosophin: den Dialog zwischen
Wissenschaft, Politik und Zivilgesell-
schaft zu organisieren. Auch Anita
Engels plädierte dafür, Begegnung
und Austausch zwischen den unter-
schiedlichen Sphären stärker zu
institutionalisieren. Nachholbedarf
bestehe allerdings bei der Akademi-
kerausbildung. An den Universitäten

lerne man weder, wie Öffentlichkeit
funktioniere, noch an welche Stelle in
Politik oder Verwaltung man sich
wenden müsse, um mit den eigenen
Impulsen durchzudringen. Die ei-
gentliche Entscheidung über geeig-
nete Maßnahmen bleibe dabei natür-
lich immer Sache der Politik – darin
war sich die Soziologin mit ihren
Gesprächspartnern einig. Gerade po-
litische Weichenstellungen gegen die
Klimakrise erforderten mehr statt
weniger Demokratie, so Engels, um
wirklich von der Bevölkerung akzep-
tiert zu werden: »Auch hier kann
Wissenschaft beraten und zeigen,
welche Beteiligungsformen möglich
sind, um demokratische Verfahren zu
stärken.«

Informationen zu ZEIT Veranstaltungen
unter http://www.zeit.de/veranstaltungen

Was hat die Wissenschaft der Politik zu sagen?


Eine Veranstaltung von:

In Zusammenarbeit mit:

Eine ökologische, soziale Marktwirtschaft
forderte Grünen-Politiker Cem Özdemir in
Berlin

Fotos: Matthias Heyde (oben), Sascha Hilgers für DIE ZEIT

»Humboldt war ein Mann mit Haltung und
Mitteilungsbedürfnis«, eröffnete HU-Präsidentin
Sabine Kunst die Podiumsdiskussion

Es diskutierten (v.l.n.r.): Soziologin Anita Engels, Universität Hamburg; Cem Özdemir, Bundestagsabgeordneter der Grünen; Aktivistin Nora Milena Vehling,
Fashion Revolution; die Moderatoren Manuel Hartung, DIE ZEIT, Hans Dieter Heimendahl, Programmchef von Deutschlandfunk Kultur; sowie die Philosophin
Rahel Jaeggi, HU Berlin, und der Unternehmer und Wissenschaftsmäzen Erck Rickmers

Wissenschaft muss sich einmischen, davon zeigte
sich die Mehrheit des Publikums im Fritz-Reuter-
Saal der Humboldt-Universität überzeugt

HUMBOLDT HÄTTE SICH EINGEMISCHT

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